Friedens- und Konfliktforschung
Die Komplexität von Krieg und Frieden verstehen
Der Widerspruch zwischen weihnachtlichen Friedenswünschen und der Realität zahlreicher Kriege und Gewaltkonflikte könnte nicht größer sein. Gerade in Teilen Afrikas, im Nahen und Mittleren Osten, in Afghanistan sehen sich die Menschen organisierter Gewalt, der Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen wie Krankenhäuser, der Wasserversorgung und anderem gegenüber.
Aber letztlich geht es nicht allein um menschliche Opfer und zerstörte Gebäude, sondern in einigen Fällen wurden und werden ganze Gesellschaften zerstört. So sind die syrische und libysche Gesellschaft zerfallen. Es wird sehr lange dauern, bis sie wieder zu einem integrierten Ganzen zusammengefügt werden können.
Hier steht das, was wir oft euphemistisch die "internationale Gemeinschaft" nennen, vor großen Aufgaben. Humanitäre Hilfe, die schwierigen und oft erfolglosen Versuche einer Beilegung von Kriegen und Gewaltkonflikten, der Wiederaufbau, und der Umgang mit den Kriegsfolgen überfordern den Willen, die Fähigkeit und die Ressourcen dieser Gemeinschaft. Zu viele Kriege, zu wenig Interesse, zu geringe Fähigkeiten, und zu wenig Mittel.
Kaum zu definieren
Friedens- und Konfliktforschung hat es da nicht leicht. Sie vermag zu analysieren, zu kritisieren, vielleicht zu raten oder beraten, aber sie vermag kaum jemals direkt Positives zu bewirken, auch wenn die 11. Feuerbachthese einen anderen Maßstab formuliert. Als Friedens- und Konfliktforscher wird man immer mal wieder gefragt, "was man tun" könne, um Frieden zu erreichen.
Diese Frage ist naheliegend, und sie ist sympathisch. Allerdings ist sie bedauerlicherweise auch sinnlos, da sie nur entweder durch Plattitüden oder gar nicht beantwortet werden kann: Eine zutreffende aber nicht wirklich hilfreiche Antwort wäre offensichtlich, dass man zur Bewahrung des Friedens keinen Krieg beginnen dürfe. Eine abstrakte Antwort auf die Frage nach den Bedingungen des Friedens an sich ist notwendigerweise ebenfalls abstrakt, und zwar meist in so hohem Maße, das sie über eine leere Phrase nicht hinauskommt.
Das hängt auch damit zusammen, dass schon der Begriff "Krieg" kaum inhaltlich zu definieren ist (weshalb man gern zu formalen Definitionen greift: "mehr als 1.000 Tote pro Jahr"). Der Begriff des Friedens ist aber noch viel schwerer zu definieren, vermutlich weil es eben nicht nur einen, sondern beliebig viele "Frieden" gibt, die wenig gemeinsam haben.
"Der Begriff 'Krieg' gaukelt uns eine Einfachheit vor, die intellektuell so verführerisch wie falsch ist." Jochen Hippler
Wer also wissenschaftlich am "Frieden" – oder an der Beendigung oder Vermeidung von "Krieg" interessiert ist –, braucht zuerst einmal etwas Demut. Was ja in der Weihnachtszeit – oder im wirklichen Leben – ohnehin eine gute Idee wäre. Bevor wir Mittel und Wege für einen globalen "ewigen Frieden" finden, für den ja schon Kant wichtige Fingerzeige gab, sollten wir eine Weile damit zufrieden sein, konkrete, reale Kriege zu beenden oder zu vermeiden – was zuerst einmal auch bedeutet, sie zu verstehen. Und hier könnte die Friedens- und Konfliktforschung tatsächlich einen Beitrag leisten.
Der Begriff "Krieg" gaukelt uns eine Einfachheit vor, die intellektuell so verführerisch wie falsch ist. "Krieg", in den Worten des großen Kriegstheoretikers Clausewitz, sei zuerst einmal ein "erweiterter Zweikampf". Und wer wüsste nicht, was ein Zweikampf ist? Zwei Parteien stehen sich gegenüber, wenden Gewalt an, und der Stärkere oder Geschicktere wird siegen.
Wäre Krieg so einfach, dann wäre er leicht zu verstehen, und – hoffentlich, nicht wirklich – auch relativ leicht zu bändigen. Was aber ist, wenn in den realen Kriegen, etwa in Syrien oder Afghanistan, gar kein Zweikampf stattfindet, sondern ein Kampf zwischen 500, 1.000 oder 2.000 bewaffneten Gruppen, die mal miteinander, mal gegeneinander kämpfen und Bündnis oder Feindschaft sich in schnellem Wechsel ablösen?
Mehr Klarheit und weniger Kleinmütigkeit
Was sollen wir denken, wenn dann noch diverse ausländische Mächte, oft ohne Verständnis der örtlichen Gegebenheiten und mit begrenztem Eigeninteresse zu Kriegsparteien werden? So, als wäre die Bundeswehr nicht nach Somalia oder Afghanistan geschickt worden, um an den dortigen Kriegen teilzunehmen, sondern um, beispielsweise, "Solidarität mit den USA nach 9/11" zu demonstrieren – dies aber auf eine vorzugsweise ungefährliche Weise. Wie soll man in einem Land Krieg wirklich verstehen, wenn man den in Afghanistan bis 2010 nicht einmal so nennen durfte, sondern amtlich und wissenschaftlich mit den niedlichsten Euphemismen zu verschleiern hatte?
Eine der wichtigeren Aufgaben der Friedensforschung besteht darin, sich zuerst einmal der terminologischen und konzeptionellen Selbsteinhegung zu entledigen, die sich immer wieder einschleicht – und dann auch den öffentlichen Diskurs darauf zu überprüfen, ob Opportunität wichtiger als Klarheit und Wahrheit genommen wird.
Sind Begriffe wie "Peace Building" oder "Friedenserzwingung" tatsächlich angebracht, oder auch Euphemismen für Krieg? Warum reden wir so oft von "post-conflict"-Situationen, wenn der Krieg noch im Gange ist oder gar eskaliert? Hier darf man sich für das Neue Jahr vielleicht wünschen, dass die Kleinmütigkeit ab- und die Klarheit bitte zunehmen möge.
Ich habe von der Unklarheit der Begriffe "Krieg" und "Frieden" gesprochen. Die Hoffnung auf eine Klärung wäre eitel. Aber der Wunsch, dass unser Verständnis zumindest von Krieg (er ist gefährlicher als Frieden und verträgt Missverständnisse darum noch weniger) im nächsten Jahr wachsen möge, ist erlaubt. Es wäre schon ein Gewinn, wenn manche Einsichten nicht nur ab und an beschworen, sondern im friedenspolitischen Denken fruchtbar gemacht würden. Zum Beispiel: Es ist keine Neuigkeit, dass Kriege sehr oft nicht aufgrund militärischer Überlegenheit gewonnen werden, sondern aus politischen Gründen. Der Vietnamkrieg war nicht der erste, der dies demonstrierte, bereits Napoleon hatte dies in Spanien zur Kenntnis zu nehmen.
Deshalb hätte es eigentlich nicht überraschen dürfen, wenn in Afghanistan oder im Irak die ganze Pracht westlicher Rüstung, die überwältigende zahlenmäßige Überlegenheit, die absolute Luftüberlegenheit nicht vermochte, 30.000 oder 35.000 analphabetische Aufständische mit Kalaschnikows zu besiegen. Trotzdem wurde mit Leidenschaft immer wieder darüber gestritten, ob mehr der gleichen Medizin vielleicht doch angebracht wäre, und ob es doch noch weiterer Truppen bedürfe.
Dass Politik – in der Form legitimer und funktionierender staatlicher Institutionen – über Sieg oder Niederlage in vielen Kriegen entscheidet, dass ist inzwischen auch bei Spitzenmilitärs angekommen, zumindest zum Teil, und zumindest in den USA. Schon General McCrystal nahm da kein Blatt vor den Mund. Dass Aufstandskriege wie in Afghanistan nicht militärisch zu gewinnen sind, sondern nur politisch – das ist eigentlich keine sensationell neue Erkenntnis. Aber man darf sich doch wünschen, dass im neuen Jahr daraus endlich einmal praktische Schlüsse gezogen würden, konzeptionell und politisch, akademisch und militärisch. Schönes neues Jahr.
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