Gang in leerem, alten Hörsaal mit Tageslichtprojektor in der Mitte
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Was wäre geschehen, wenn... ?
Die Universität im Pandemiejahr 1970

Wie wäre es den Hochschulen im Jahr 1970 während einer Pandemie ergangen? Wie hätte die Corona-Lehre ausgesehen? Ein Gedankenexperiment.

Von Michael Jäckel 10.10.2021

Das Jahr 1970: Das Gesundheitssystem war ein anderes, die weltweite Mobilität deutlich niedriger und das gesamte Medienumfeld weniger aufgeregt. Das Wort "Informationsgesellschaft" wurde gerade buchstabiert und die 0/1-Zukunft ausgemalt. Im Jahr 1969 starteten an fünf Standorten erste universitäre Informatikstudiengänge in Deutschland.

Keiner hätte sagen können: "Dann gerne in cc." Heute steht das Kürzel für eine komfortable Form der Kommunikation an viele. Die erste E-Mail empfing im August 1984 ein Mitarbeiter der Universität Karlsruhe. Das Kürzel könnte aber auch an Chester Carlson erinnern, einen Pionier der Xerographie. Es wäre wohl kein komfortables Kopieren gewesen. In Druckereien stapelten sich die Skripte kleineren oder größeren Umfangs. Mitten in dieser analogen Welt brummten erste Großgeräte der frühen IT-Welt, sie mussten vorheizen, bevor sie Fotos von Dokumenten in Kopien umwandeln konnten. Die Massentauglichkeit war also nur bedingt gegeben.

Vieles spricht also für Warteschlangen vor Fachschaftsbüros, die Skripte nach strengen Regeln verteilten, ebenso vor Buchhandlungen mit Sonderöffnungszeiten. Das Studium lebte von Literaturlisten und Lektüreverpflichtungen. Nach der Devise: Wer studiert, der muss viel lesen – und jetzt erst recht.

Abkehr von der Souveränität der Lehrkanzel?

Aber musste auch die Vorlesung selbst gelesen werden? Kaum vorstellbar, dass sich im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit diese Offenheit, also Abkehr von der Souveränität der Lehrkanzel, eingestellt hätte. Die Sorge eines Autoritätsverlusts und die Erinnerung an den Wert des gesprochenen Wortes mahnten zur Vorsicht. 1970 waren zudem die Aufzeichnungssysteme (MAZ = magnetische Aufzeichnungssysteme) schwer, teuer, komplex in der Bedienung, erforderten viel technisches Personal und fanden sich eigentlich nur in Fernsehanstalten. Vor Ort konnte die Lehre also verweilen. Auch Videorekorder standen als Technik am Anfang, waren ebenfalls teuer und nicht tauglich für die Kommunikation oder die Mitteilung an viele. Vergessen wir an dieser Stelle nicht das Tonband und den "Salat", der mit häufiger Nutzung (Vor- und Zurückspulen) einherging.

Für die Übertragung von Bild und Ton war also Technik essentiell und limitierend zugleich. Man hätte folglich analog zum Schulfunk (Hörfunk und Fernsehen) auch einen Hochschulfunk einsetzen können, ergänzt durch Begleithefte. Zu den Vorläufern der Rundfunkidee gehörten Telefonzeitungen. Über die Telefonleitung wurden Nachrichten an Abonnenten verbreitet (bis 1997 gab es zum Beispiel noch den Schweizer Telefonrundspruch, der als Radioprogramm mit seinem Namen an diese Tradition erinnerte). Für das noch junge Telekolleg, das 1967 startete, stand die Erwachsenenbildung im Vordergrund, ebenso der Erwerb der Fachhochschulreife durch eine Kombination von Selbststudium und Präsenzunterricht. 1960 hatten nur vier von 100 Privathaushalten einen Anschluss, zehn Jahre später wohl mehr als ein Drittel, aber noch nicht jeder zweite. Lehrende und Studierende dürften dabei also so manchen Engpass erlebt haben. Kaum vorstellbar, dass bundesweit standardisierte und allseits anerkannte Lehrangebote das Auditorium vor Bildschirmen oder Radioempfängern vereint hätte.

Asynchron und analog

Überhaupt dürften sich Hinweise oder Direktiven wie "Dokumente können abgeholt werden" oder "Der Text wird Ihnen (postalisch) zugestellt" gehäuft haben. Das Asynchrone wäre das bestimmende Element gewesen. Die Post zelebrierte ihren eigenen analogen Sommer und dehnte die Zustellzeiten aus, Sondertarife für Serienaufträge vermittelten einen Hauch von Geschwindigkeit auf Basis des klassischen Straßen- und Wegenetzes. Die so vernetzte Gesellschaft hätte sich auf vielen Pfaden bewegt.

Es blieben noch die telefonische Sprechstunde und die Präsenzprüfung unter strenger Aufsicht. Vermittlungsstationen für Punkt-zu-Punkt-Kommunikation füllten seinerzeit ganze Gebäude, heute passt die Hardware in einen kleinen Computer. Wer weiß, zu welchen disziplinarischen Maßnahmen es im Jahr 1970 wohl gekommen wäre? Der konstruierte Vergleich aber zeigt: Manchmal ist die Vergangenheit weit entfernt, manchmal ist sie sehr nahe.