Holocaust-Denkmal in Berlin
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Holocaust-Gedenktag
Ein Grund innezuhalten

Am 27. Januar gedenkt Deutschland der Opfer des Nationalsozialismus. Warum der Massenmord an über einer Million Menschen nicht nur Geschichte ist.

Von Dietmar Süß 26.01.2019

Panik herrschte bei der SS, und alle waren sie betrunken: Als Jόzef Cyrankiewicz am Abend des 17. Januar 1945 die Situation im Lager Auschwitz kurz vor der Räumung in einem geheimen Kassiber beschrieb, war das Ende des Krieges zwar nur noch eine Frage der Zeit.

Und doch machte sich der Sozialist Cyrankiewicz, der sich aktiv an der Widerstandsbewegung gegen die Deutschen beteiligt hatte, keine Illusion: Die Räumung des Lagers, die sogenannten Todesmärsche, würden sicher "mindestens" der Hälfte der letzten überlebenden Häftlinge auch noch das Leben kosten.

Sie ahnten, wohin es gehen würde: in die Lager weiter westlich nach Bergen-Belsen, Mauthausen, Flossenbürg oder Buchenwald. 58.000 Häftlinge schickte die SS kurz vor Kriegsende auf die Todesmärsche quer durch das Kriegsgebiet, zu Fuß, ohne Proviant, dem Winter und der Gewalt der Bewacher ausgeliefert. Die, die es noch konnten, würden versuchen, so hoffte Cyrankiewicz, die zurückbleibenden Kranken vor der Liquidierung zu schützen.

"Sie hatten es nicht mehr geschafft, auch noch den letzten Häftling zu ermorden und alles abzutransportieren, was sie den Gefangenen geraubt hatten."

Als zehn Tage später, am 27. Januar, die 60. Armee der I. Ukrainischen Front Auschwitz erreichte, fand sie noch rund 7000 ausgemergelte Häftlinge, viele mehr tot als lebendig. Seit Januar 1945 hatte die Lager-SS zwar fieberhaft versucht, alle Spuren ihrer Verbrechen zu vernichten und alle Akten zu verbrennen. Nichts sollte der nahenden Roten Armee in die Hände fallen. Erst am 25. Januar setzten sich die letzten Mordkommandos, die die übriggebliebenen Häftlinge bewacht hatten, ab.

Sie hatten es nicht mehr geschafft, auch noch den letzten Häftling zu ermorden und alles abzutransportieren, was sie den Gefangenen geraubt hatten. Deshalb fand die Rote Armee in den Tagen nach der Befreiung Überreste jener Massenverbrechen, an die der 27. Januar auch erinnert: 370.000 Herrenanzüge, über 800.000 Damenmäntel, 14.000 Teppiche, 44.000 Paar Schuhe – und säuberlich zum Abtransport verpackte 7.7 Tonnen Frauenhaare.

Mehr als eine Million Menschen in Auschwitz ermordet

Mindestens 1.1 Millionen Menschen wurden in Auschwitz ermordet. Rund 960.000 von ihnen waren Juden aus ganz Europa, dazu Sinti und Roma, sowjetische Kriegsgefangene, französische, deutsche und tschechische Häftlinge, politische Gefangene und Widerstandskämpfer aus den besetzten Gebieten.

Auschwitz war ursprünglich nicht als zentrale Vernichtungsstätte geplant, sondern zunächst seit 1940 Internierungslager für polnische politische Häftlinge, auf die die deutschen Besatzer unmittelbar seit dem Überfall im September 1939 Jagd gemacht hatten. Bald schon gab es Pläne für einen Ausbau des Lagers. Verkehrsgünstig gelegen und infrastrukturell erschlossen, wurde Auschwitz im Mai 1940 das Ziel erster Häftlingstransporte aus dem "Reich".

Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau

Die Gedenkstätte des ehemaligen deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau befindet sich in der südpolnischen Stadt Oświęcim, etwa 50 Kilometer westlich von Krakau entfernt. Die Gedenkstätte, die seit 1979 auf der Liste des UNESCO-Weltkulturerbes steht, wird jährlich von mehr als einer Million Menschen besucht.

Quelle: auschwitzundich.ard.de

SS-Lagerkommandant Rudolf Höß hatte große Pläne für das gesamte Areal, das nicht nur bald Platz bieten sollte für bis zu 10.000 Häftlinge, sondern auch als landwirtschaftliche Versuchsstation vorgesehen war, um im Dienste der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft Agrarforschung zu betreiben. Seit Juli 1941 deportierte die SS sogenannte Arbeitserziehungshäftlinge nach Auschwitz, polnische Zwangsarbeiter, die die Gestapo inhaftiert hatte.

Erste Morde mit Zyklon B an Kriegsgefangenen und Kranken

Mit dem Angriff auf die Sowjetunion im Sommer 1941 und den Massenerschießungen der Einsatzgruppen veränderte sich auch die Funktion des Lagerkomplexes. Im September 1941 kam es erstmals zum Einsatz von Zyklon B, bei dem sowjetische Kriegsgefangene und kranke polnische Häftlinge im Keller von Block 11 ermordet wurden – ein Hinweis auf den engen Zusammenhang von Kranken- und Judenmord.

Seit Januar 1942 war Auschwitz der Zielort der Judendeportationen aus dem Reich und den besetzten Gebieten. Das Stammlager in Birkenau wurde ausgebaut, nachdem die Kapazitäten des Krematoriums nicht mehr als ausreichend galten. Aus einem Lager für Zwangsarbeiter wurde seit dem Sommer 1942 eine zentrale nationalsozialistische Vernichtungsstätte, durchorganisiert und begleitet vom technischen Know-how deutscher Firmen wie "Topf&Söhne", die für die SS eifrig leistungsstarke Verbrennungsöfen entwarf.

Ihm sei, so der Ingenieur Fritz Sander Mitte September 1942, "vollkommen klar, daß ein solcher Ofen als reine Vernichtungsvorrichtung anzusehen ist, daß also die Begriffe Pietät, Aschetrennung sowie jegliche Gefühlsregung vollständig ausgeschaltet werden müssen. All das ist aber wohl auch jetzt bei dem Betriebe mit zahlreichen Muffel-Öfen der Fall. Es liegen eben in den KZ-Lagern besondere kriegsbedingte Umstände vor, die zu derartigen Verfahren zwingen".

Begleitet war der Funktionswandel des Lagers vom exzessiven Arbeitseinsatz der Häftlinge für die deutsche Rüstungsindustrie. Unternehmen wie die I.G. Farben setzten schon frühzeitig auf billige Arbeitskräfte und gute Geschäfte mit der SS, so dass die Frage, ob ein Häftling "arbeitsfähig" oder "arbeitsunfähig" sei, wesentlich seine (Über-)Lebensbedingungen mitentschied.

"In Auschwitz lagen völkischer 'Alltag' und Massenverbrechen dicht beisammen."

Für die jüdischen Häftlinge waren die Arbeitsbedingungen besonders brutal. Sie standen am untersten Ende der Lagerhierarchie, gepeinigt und ausgebeutet. Die SS nahm ihnen den wenigen Besitz, der ihnen geblieben war, gleich zu Beginn ab. Geld und Schmuck und alle Wertgegenstände sicherte sich das Wirtschafts-Verwaltungshauptamt, registrierte sie – und schickte sie, abgesehen von mancher Korruption, oftmals nach Berlin – wo sie dann an volksdeutsche Umsiedler und Ausgebombte verteilt wurde. Die Ausbeutung und Vernichtung der Juden und die Versorgung der deutschen Bevölkerung waren Teil der gleichen mörderischen Geschichte.

Sommer 1944: Höhepunkt der Massendeportationen

Die stetig sich ausweitenden Massendeportationen aus ganz Europa erreichten im Sommer 1944 ihren Höhepunkt. Opfer waren in dieser Phase vor allem ungarische Juden. Alleine zwischen Mitte Mai und 9. Juli zählte die Lagerstatistik 438.000 neue Häftlinge, von denen kaum einer überlebte. Rudolf Höß wurde für diese "Leistung" mit dem "Kriegsverdienstkreuz" erster und zweiter Klasse ausgezeichnet. Noch im Sommer 1944 machten die deutschen Besatzer in Griechenland Jagd auf die dort verbliebenen Juden und deportierten sie nach Auschwitz. Der vermutlich letzte Zug erreichte Auschwitz im Oktober 1944 aus dem Konzentrationslager Theresienstadt.

In Auschwitz lagen völkischer "Alltag" und Massenverbrechen dicht beisammen – hier gab es in der "Musterstadt" Auschwitz an Silvester 1943 im Gasthof "Ratshof" einen feurigen Silvesterball mit 200 Gästen, Karpfen und Pfannkuchen, Musik und Tanzkapelle für die neuangesiedelten Reichsdeutschen, die aus Ostoberschlesien ein "deutsches Bollwerk"  im Osten machen wollten – und hier davon träumten, fern der Heimat, auf erobertem Boden, ein germanisiertes Wunderland aufzubauen, ohne Juden und "störende Elemente", mit Goethe und Schiller im Gepäck, mit Kindergarten und neuen völkischen Nachbarn. Mit massiver Gewalt drangen die NS-Siedlungspolitiker darauf, aus der Gegend um Auschwitz eine Musterregion zu machen, warben im Reich um besonders treue Volksgenossinnen und Volksgenossen und versprachen, mit Geld und Boden eine neue "Heimat" zu schaffen. 

Die Morde waren in der Region vielfach ein offenes Geheimnis; im europäischen Ausland konnte man im Herbst 1942 erstmals über Gaskammern in Auschwitz lesen. Häftlinge versuchten immer wieder , Informationen über die Gräueltaten nach außen zu schmuggeln. Allen voran die Berichte der beiden jüdisch-slowakischen Häftlinge Alfréd Wetzler und Rudolf Vrba sorgten international für großes Aufsehen. Beide konnten im April 1944 erfolgreich aus Auschwitz fliehen und in ihren Aufzeichnungen ausführliche Angaben über das Innenleben des Lagers und die Zahl der Deportierten machen.

"Die deutschen Justizbehörden taten sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit durch Vieles hervor – nicht aber durch einen besonderen Ermittlungseifer gegen NS-Straftäter."

Ihre Geschichte war auch Teil jenes Widerstandes, der sich angesichts der grausigen Aussichtslosigkeit formiert und am 7. Oktober 1944 zum Aufstand der Sonderkommandos gegen die SS geführt hatte. Warum aber griffen die Alliierten Auschwitz nicht aus der Luft an? Für sie waren andere Ziele wichtiger als eine womöglich riskante Bombardierung des Vernichtungslagers, bei der eine große Zahl an Häftlingen ums Leben gekommen wäre und die zudem militärische Kapazitäten gebunden hätte. So jedenfalls dachte man in London und Washington.

Verfahren "gegen Mulka und andere": historischer Meilenstein

Die deutschen Justizbehörden taten sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit durch Vieles hervor – nicht aber durch einen besonderen Ermittlungseifer gegen NS-Straftäter. Im vergangenheitspolitischen Klima der Ära Adenauer ließ man gerne die Anfragen der polnischen Kollegen unbeantwortet, die mit deutlich mehr Energie das Personal von Auschwitz zu verfolgen versuchten. Das galt für das SS-Wachpersonal, für die Gruppe an Ärzten, die gezielt nach Auschwitz gegangen waren, um dort ohne Hemmungen an Menschen experimentieren zu können, und auch für so manchen Industriemanager.

Massenmord, ethische Grenzen missachtende Forschung und Profitgier gingen hier Hand in Hand und sollten sich dann ohne größere Skrupel einfügen in die neue Ideologie von "Wirtschaftswunder" und "Kaltem Krieg". Es war der hartnäckige und oft angefeindete hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der wesentlich zu einer ersten umfassenden justiziellen Aufarbeitung beitrug.

Das am 20. Dezember 1963 im Frankfurter Römer eröffnete Verfahren "gegen Mulka und andere" sollte bald Justizgeschichte schreiben und wird als Meilenstein in der NS-Aufarbeitung in Erinnerung bleiben – eine Geschichte freilich, die heute leicht vergessen lässt, wie umkämpft und umstritten der Umgang mit den nationalsozialistischen Massenverbrechen über viele Jahrzehnte – ja bis in unsere Gegenwart -  war und ist. Noch 1996, als die Bundesrepublik offiziell den 27. Januar, die Befreiung von Auschwitz, zum Gedenktag für die vielen Opfer des Nationalsozialismus machte, stritt die Republik über die "Verbrechen der Wehrmacht" – und strickten viele konservative Politiker und Historiker weiter an der Legende von der "sauberen Wehrmacht". 

"Manche Opfergruppen kämpfen immer noch um Aufmerksamkeit für ihre Verfolgungsgeschichte."

Die erinnerungskulturellen Debatten, die wir im Augenblick begleitet von der Forderung nach einer "Wende um 180 Grad" beobachten, sind weniger neu als sie auf den ersten Blick scheinen.  Vergessen ist mittlerweile offenbar, mit welch befremdlicher Diktion der Schriftsteller Marin Walser noch 1998 in der Frankfurter Paulskirche gegen die vermeintliche Übermacht der Holocaust-Erinnerung polemisierte. Und vergessen ist auch, wie schwer sich lange Zeit mancher Ministerpräsident damit tat, eine KZ-Gedenkstätte zu besuchen.

Manche Opfergruppen wie Sinti und Roma, Homosexuelle oder sogenannte "Asoziale" kämpfen immer noch um Aufmerksamkeit für ihre Verfolgungsgeschichte, so dass der 27. Januar als Gedenktag eben nicht nur "Geschichte", sondern Teil unserer Gegenwart ist. Angesichts der offenen Feindschaft, die manch bundesrepublikanischer Parlamentarier gegenüber einer kritischen, nicht affirmativen Geschichtskultur pflegt, gibt es mehr als einen Grund, innezuhalten und für das vermeintlich so Selbstverständliche lautstark zu streiten.