Portraitzeichnung von Friedrich Wilhelm Nietzsche aus dem Jahr 1919
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Nietzsche
Ein Meer aus Widersprüchen

Vor 175 Jahren wurde Friedrich Nietzsche geboren. Professor Elmar Schenkel spricht über die Naturgewalt Nietzsche und sein Wirken bis heute.

Von Friederike Invernizzi 14.10.2019

Forschung & Lehre: Herr Schenkel, Friedrich Nietzsche hat die Philosophie geprägt wie kein anderer. Er selbst schrieb über sich: "Es wird sich einmal an meinen Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures anknüpfen, an eine Krisis, wie es keine auf Erden gab." Welche Bedeutung hat Friedrich Nietzsche heute?

Elmar Schenkel: Das Denken Friedrich Nietzsches ist nach wie vor sehr aktuell und spielt in gesellschaftspolitischen Fragen eine sehr große Rolle. Den meisten ist dies sicherlich nicht bewusst. Die aktuelle Emotionalität in öffentlichen Diskussionen, die Ressentiments und Polarisierungen in vielen Debatten, gerade in der Politik, aber auch in der Philosophie, darüber hat Nietzsche geschrieben. Das macht ihn ebenso kontrovers für uns heute. Sein Denken hatte revolutionäre Auswirkungen globalen Ausmaßes. Die wachsende Wut über politische Systeme in der Welt, über Ungerechtigkeiten, die Konflikte zwischen den Religionen, da spielt das Denken Friedrich Nietzsches eine große Rolle. Einige revolutionäre Bewegungen, auf der ganzen Welt gehen auf Nietzsche zurück. Der indische Historiker Pankaj Mishra macht Nietzsche als Motor in einer von Wut getriebenen Welt aus, die global zu den antiwestlichen Bewegungen und zur Beendigung des Kolonialismus führte, aber auch zu Faschismus und Imperialismus. Der amerikanische Raubtierkapitalismus (Ayn Rand) beruft sich ebenso auf ihn wie linke Philosophen, Poststrukturalisten, Rechte und Identitäre. Nietzsche ist im Grunde ein Spiegel, in dem sich der Hexenkessel der Gegenwart vorausspiegelt.

Portraitfoto von Prof. Dr. Elmar Schenkel
Elmar Schenkel, em. Professor für Anglistik an der Universität Leipzig und Mitglied im Vorstand des Nietzsche Vereins Röcken, der sich um dessen Gedenkstätte kümmert, ... Friederike Invernizzi
Torbogen im Garten von Nietzsches Geburtshaus
... führt unsere Autorin durch die Gartenanlage von Nietzsches Geburtshaus, der Gedenkstätte des Philosophen in Röcken bei Leipzig. Friederike Invernizzi

Leider ist Nietzsche heute vielen nur über verschiedene Zitate bekannt, in denen er einige Vorurteile seiner Zeit transportiert, wie beispielsweise: "Wenn du zum Weibe gehst, vergiss die Peitsche nicht."  Wenn man genauer hinschaut, ist dieses Zitat viel komplexer, als man denkt. Auch ironisch: denn es gibt ja das berühmte Foto, auf dem Lou Salomé zwei Männer mit der Peitsche antreibt, die einen Wagen ziehen: Nietzsche und seinen Freund Paul Rée.  Und das Zitat enthält weitere Deutungsmöglichkeiten. Nietzsche war eben nicht nur Philosoph, sondern auch literarischer Autor, der mit Lesern und Rollen spielt. Andere Zitate finden sich auf T-Shirts oder Kaffeebechern: "Was mich nicht umbringt, macht mich stärker" oder "man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können". Nietzsche ist ein großartiger Zitatgeber, auch in der Populärkultur. Das liegt an seiner aphoristischen Denkart: kurz, scharf, böse, zugespitzt, poetisch.

F&L: Inwiefern wirkt sich Nietzsche auf unser Denken und Fühlen in unserer heutigen Gesellschaft aus?

Elmar Schenkel: Nietzsche liebte es, Systeme aufzubrechen und zu durchbrechen, er war der "Systemfeind" par excellence. In seinen Schriften provoziert er immer wieder. Viele Menschen aus der ganzen Welt fühlen sich durch die Lektüre Nietzsches in irgendeiner Weise befreit. Es ging ihm um Widerspruch und Aufbruch, auch wenn er später versucht hat, seine eigenen Konzepte ("Übermensch", "Die "Ewige Wiederkehr des Gleichen") zu etablieren. Dies war jedoch nie so richtig überzeugend. In Südamerika empfinden viele Menschen, die durch bestimmte gesellschaftliche und religiöse Moralvorstellungen beengt sind, die Lektüre Nietzsches als großen Gewinn. Ähnlich war es für heimliche Nietzsche-Leser in der Sowjetunion oder DDR. Andere sagen, Nietzsche habe ihnen beim Coming-Out geholfen. Nietzsche kommt immer dann ins Spiel, wenn Menschen sich selbst in ihrer Individualität zu realisieren versuchen. Das kann sich aber auch auf Kollektive beziehen. Generell denke ich, dass Nietzsches Gedanken eine Art Rausch auslösen – das kann gut und böse enden, je nachdem, wer sich berauscht.

F&L: Nietzsche beschrieb immer seine Lust an der Wachheit und Aufmerksamkeit. Gleichzeitig kreiste sein Denken um die Zerbrechlichkeit des Menschen, der an der Wahrheit, so es sie denn geben sollte, zugrunde gehen könnte….

Elmar Schenkel: Nietzsche hat selbst darunter gelitten. Er war in vieler Hinsicht gespalten. Ein Wahrheitssucher und einer, der die Wahrheit verfluchte. Ein Lebensbejahender Feind des Lebens. Denken wir an seine furchtbaren Äußerungen, man solle die Schwachen vernichten. Er wäre doch der Erste gewesen, den die Nazis in die Euthanasie getrieben hätten. Nietzsche ist ein Meer von Widersprüchen und oft wird man von den Wellen seines Denkens fortgespült. Ich habe manchmal das Gefühl, er ist wie die Natur selbst, die wir ebenso fürchten und lieben und die oft ohne Rücksicht auf Menschen oder Gefühle zuschlägt, etwa bei Vulkanausbrüchen oder kosmischen Ereignissen. Völlig unmenschlich, diese Natur, dieser Nietzsche.

"Nietzsche ist ein Meer von Widersprüchen und oft wird man von den Wellen seines Denkens fortgespült."

F&L: Nietzsche fiel in seinen Texten durch Polemik auf. Er rieb sich an vielen zeitgenössischen Glaubenssätzen und Vorstellungen… .

Elmar Schenkel: Seine Philosophie beruht auf der kritischen Durchdringung vieler Werte in unserer Gesellschaft. Das Problem ist, dass bei Wegfall dieser Werte nicht mehr viel bleibt. Nietzsche hat kein "Gegensystem" entworfen, hat also nicht gesagt, was passiert, wenn Gott tot ist und alle Werte keine Rolle mehr spielen. Durch Nietzsche beginnt eine neue Epoche: sie heißt Selbstverantwortung des Menschen, der nichts Höheres, kein Über-Ich mehr über sich weiß.  

F&L: Welche Bedeutung hat Nietzsche heute für das Selbstverständnis der Wissenschaften? Kann man ihn als Skeptiker betrachten, der stets auf die Vorläufigkeit des Faktischen hingewiesen hat?

Elmar Schenkel: Nietzsche wird vorgeworfen, er habe die ganze "Faktenwelt" weggeschwemmt. Es war jedoch zu Nietzsches Zeit aus meiner Sicht ein notwendiger Akt, um über die bloße Betrachtungsweise des Faktischen hinauszuwachsen. Er schärft dabei den Blick auf die Sprache als Vermittlerin zwischen Dingen und Menschen. Nietzsche hat gesagt: "Was ist also Wahrheit. Ein bewegliches Heer von Metaphern". Im 20. Jahrhundert hat die Sprachphilosophie, aber auch zum Beispiel die Physik, erkannt, dass selbst die formalsten Wissenschaften, oder gerade sie, auf Metaphern, Bilder und sprachliche Vergleiche angewiesen sind, um sich verständlich oder auch missverständlich zu machen. Denken Sie etwa an das Bild vom "Urknall". Die Fakten an sich sind ungreifbar geworden, fast unaussprechlich. Ich denke, wir müssen dennoch Annäherungen an das Faktische erreichen. Dabei sind Skepsis und die Distanz gegenüber dem, was ist und was darüber gesagt wird, wichtig, damit wir weiterhin wissenschaftlich arbeiten können.

F&L: Nietzsche verwies darauf, dass Wissenschaft die Wahrheit herausfinden will. Bei ihr sei aber mehr Einbildungskraft am Werk als sie sich einzugestehen mag. Was hat er damit gemeint? Welche Rolle spielt das für die Wissenschaft heute?

Elmar Schenkel: "Fakten statt Fakes" heißt ja ein Slogan seit einiger Zeit. Ich bin da sehr skeptisch. Denn was sind denn Fakten? Auch sie sind gemacht, konstruiert, vermittelt. Dennoch müssen wir von Gegebenheiten ausgehen, wir dürfen den Begriff einer Realität nicht fallenlassen. Wir sollten – und das wäre die Anwendung Nietzsches heute – uns immer der Interpretation bewusst sein und sie, mit anderen Fakten angereichert, kritisieren. Selbst oder gerade in der theoretischen Physik spielen nützliche Metaphern eine wichtige Rolle. Nur sind es halt Modelle und die sollten wir immer kritisch betrachten und bedenken, dass auch andere Modelle stimmig sein können. Modelle sind Annäherungen an Fakten von verschiedenen Ebenen aus.

"Wir sollten uns immer der Interpretation der Fakten bewusst sein."

F&L: Nietzsche sprach von "unverdaulichen Wissenssteinen". Denken wir heute aus Nietzsches Sicht zu sehr in Resultaten?

Elmar Schenkel: Nietzsches Denken sollte man als prozessual auffassen. Wir werden in seinen tausenden von Aphorismen und Denknotizen Zeugen eines intensiven Denkprozesses, der bei uns entsprechende Impulse in alle Richtungen auslösen kann. Es ist ein großer Brainstorm bei ihm, manchmal wird der auch zum Shitstorm, wenn er sich seine Lieblingsfeinde vornimmt. Das Wissen muss "verdaulich" sein, er denkt oft physiologisch. Erkenntnisse müssen auch gut formuliert werden, Stil haben, wenn sie wirken sollen. So ist auch sein eigenes Schreiben. Er ist ein großartiger Schriftsteller, fast mehr noch denn ein Philosoph. Martin Walser nannte ihn den größten deutschen Schriftsteller unter den Denkern. Nietzsche studierte nicht ohne Grund die französischen Moralisten und Montaigne. Er gehört zu den dichtenden Philosophen, wie Heraklit. Und die lieben das Aphoristische, Unfertige, Erkundende.

F&L: Nietzsche vertrat einen sehr "aristokratischen Bildungsbegriff". Was können wir uns darunter heute vorstellen?

Elmar Schenkel: Bildung ist für Nietzsche elitär. Eine Demokratisierung hätte er abgelehnt, da wären die Herdentiere an die Macht gekommen. Nur die Besten und Begabten haben es ihm nach verdient, sich Wissen anzueignen und zu verbreiten. Er regte sich schon 1870-1880 über die Bildung in Deutschland auf, die den Bach hinabgehe und trivial werde. Statt sich heute über so eine vermoderte Einstellung aufzuregen, sollten wir sehen, was wir daraus für unsere Massenuniversität lernen können. Ich denke, wir müssen das Lernsystem besser auf die jeweiligen Begabungen zuschneiden, wobei das nicht hierarchisch geschehen darf. Aber das ist eine lange Debatte. Nietzsche jedenfalls zielte auf eine Art Geistesadel, nicht Blutadel, wie er zu seiner Zeit noch regierte und mit dem er nichts zu tun hatte. Obwohl: er wollte ja doch gerne ein polnischer Graf sein, und legte sich so seinen Stammbaum zurecht. Er war eben auf das Aristokratische aus und glaubte immer, etwas Besonderes zu sein.

Leben und Werk Friedrich Nietzsches

Biografie
15. Oktober 1844: Geburt Friedrich Nietzsches in Röcken/Sachsen. Der Vater ist evangelischer Pfarrer, die Mutter Pfarrerstochter.

1850: Umzug der Familie nach Naumburg, da der Vater an einer Gehirnerkrankung gestorben ist. Nietzsche wird von seiner Mutter, seiner Großmutter und zwei Tanten großgezogen.

1864: Nietzsche beginnt mit 20 Jahren ein Theologiestudium in Bonn, wechselt dann an die Universität Leipzig, um sich der Philologie zuzuwenden.

1868: Erste Begegnung mit Richard Wagner, aus der eine intensive Freundschaft erwächst.

1869: Der 24-Jährige erhält eine Berufung auf eine außerordentliche Professur für klassische Philologie an der Universität Basel.

1872: Beginn des langsamen körperlichen Verfalls, erstmalig von universitären Pflichten freigestellt. Beginn von Reisen auf der Suche nach besseren klimatischen Bedingungen.

1878-1879: Aufgrund wachsender gesundheitlicher Probleme endgültig von der Lehrtätigkeit in Basel freigestellt, Bruch mit Richard Wagner.

1881: Nietzsche entdeckt im schweizerischen Engadin den Ort Sils Maria.

1882: Begegnung mit Lou von Salomé.

1888: Nietzsche reist fortwährend zwischen Sils Maria, Turin und Nizza hin und her. Beginn psychischer Probleme mit Ausfällen gegen Freunde, cholerische Anfälle und Größenwahn.

3. Januar 1889: Nietzsche wirft sich einem malträtierten Kutschenpferd in Turin um den Hals und bricht auf offener Straße zusammen. Einweisung in psychiatrische Klinik in Basel.

25. August 1900: Nietzsche stirbt nach zehn Jahren geistigem Dämmerzustand und mehreren Schlaganfällen.
Ausgewählte Werke
1872: Nietzsches erstes Buch "Die Geburt der Tragödie aus dem Geister der Musik" erscheint.

1873-1874: "Unzeitgemäße Betrachtungen" erscheint.

1878-1879: "Menschliches, Allzumenschliches" erscheint.

1881: "Morgenröte" erscheint.

1882:"Die fröhliche Wissenschaft" erscheint.

1883-1885: "Also sprach Zarathustra" erscheint.

1886: "Jenseits von Gut und Böse – Vorspiel einer Philosophie mit Zukunft" erscheint.

1887: "Die Genealogie der Moral – Eine Streitschrift" erscheint.

1888: Arbeit an "Der Fall Wagner", "Götzendämmerung", "Der Antichrist", "Ecce homo" und "Nietzsche contra Wagner".

F&L: Nietzsche wurde vielfach für verschiedene Ideologien missbraucht, von den Nationalsozialisten unter anderem für ihre Idee des "Übermenschen". Wie konnte es dazu kommen?

Elmar Schenkel: Wer nur eine Seite von Nietzsche hervorhebt, um sich Argumente zu verschaffen, missbraucht ihn. Die meisten tun das, ich selbst sicher manchmal auch. Die Nazis aber im besonderen Maße. Nietzsches Schwester, Elisabeth Förster-Nietzsche, eine Antisemitin und Nationalistin ohnegleichen, hat ihren Bruder für den Faschismus aufbereitet, als sie seine Schriften herausgab. Sie hat Stellen verfälscht und ihn schon im Ersten Weltkrieg propagandistisch missbraucht – ihn, der den Nationalismus und den Rassismus hasste, der ein Feind des Antisemitismus war. Andererseits hat er eben auch seine Ausfälle gegen die Schwachen gehabt und hat nationale Vorurteile gehegt, zum Beispiel gegen die Briten. Man könnte auf ihn die Eisbergtheorie anwenden: Der obere Teil seines Denkens war genial, inspirierend, prophetisch. Der untere Teil (wieviel Prozent möchte ich nicht ausrechnen) war seiner Zeit verhaftet – frauenfeindlich, antidemokratisch, männerbündlerisch, ächzendes 19. Jahrhundert.

"Der obere Teil seines Denkens war prophetisch, der untere Teil seiner Zeit verhaftet."

F&L: Nietzsche war auch geprägt durch die sogenannten "deutschen" Eigenschaften wie Melancholie, Schwere der Gedanken, das Pathetische und Tiefsinn. Inwieweit spielt das in seinem Denken eine Rolle?

Elmar Schenkel: Nietzsche war längere Zeit eng mit Richard Wagner und seiner Frau verbunden, dessen Musik die deutsche Schwere und das Pathos schlechthin verkörpern. Die Auseinandersetzung mit ihm und den Gedanken des "schweren Bluts" ließ Nietzsche die französischen Komponisten bevorzugen, die vergleichsweise leichtere Musik und das Operettenhaftere, das Italienische. Er musste da auch aus der eigenen "Hülle" rausklettern. Man muss sich dazu auch vorstellen, in welche Familie Nietzsche hineingeboren wurde: elf Generationen vor ihm waren Pfarrer und er war allein unter frommen Frauen aufgewachsen. In seinen Schriften beklagt er sich über die deutsche Schwere, die Bierseligkeit und so weiter. Und ist ihr doch verhaftet. Eisbergtheorie auch hier.

F&L: Welche Rolle spielt der Wahnsinn bei Nietzsche?

Elmar Schenkel: Der Wahnsinn war natürlich auch schon vor seinem Klinikaufenthalt im Anmarsch, in den letzten fünf Jahren vor dem Ausbruch in Turin. Da beobachtet man bereits einen erheblichen Verlust an Sozialbeziehung und das Aufkommen schlimmer Phantasien. Man streitet nun darüber, wie weit das sein philosophisches Denken beeinflusst hat. In seinen Schriften greift er den Wahnsinn als romantischen Geniekult an, andererseits sieht er die blitzartigen Überfälle des Wahns auch als Erkenntnisform. Auch hier: selbstwidersprüchlich.

F&L: Nietzsche hatte auch eine besondere Nähe zur Psychologie....

Elmar Schenkel: Ja, das Unbewusste spielte eine große Rolle bei ihm, da ist er wieder in der Tradition der Romantiker. Interessant ist auch, dass Sigmund Freud die Beschäftigung mit Nietzsche vermieden hat, da es dort auch eine Menge Überschneidungen gab. Schopenhauer, sein frühes Idol, war ein Psychologe der ersten Stunde. Bei Freud wie bei Nietzsche ist das Ich ein zusammengesetztes Gebilde, dynamisch, instabil, gespalten. Gelenkt von Trieben, Instinkten, amoralischen Überlebensmustern. Das Ich als Illusion haben Freud wie Nietzsche untersucht. Nietzsche ist im Übrigen ein sehr psychologischer Denker, ganz anders als Marx. Der Einzelmensch steht im Vordergrund. Im Grunde ergänzen sich Marx und Nietzsche bestens, bei allen Unterschieden.

"Gerade weil Nietzsche so umstritten ist, müssen wir uns mit ihm beschäftigen. Wir müssen uns auch unseren eigenen Vorurteilen stellen."

F&L: Wie hat sich das Interesse in Deutschland an Nietzsche in den letzten Jahren gewandelt?

Elmar Schenkel: Betrachtet man den Osten Deutschlands, muss man sagen, dass grundsätzlich Interesse an Nietzsche besteht, da er zu DDR-Zeiten persona non grata war. Er wurde verboten und tabuisiert. Großer Nachholbedarf also. Darüber geben auch unsere Briefe an Nietzsche Auskunft, geschrieben von Menschen, die in der DDR aufwuchsen. Es war mir wichtig, dass diese Sichtweisen gezeigt werden. Deutschlandweit gibt es ein paar Leute, die sich prominent mit Nietzsche beschäftigen, so Peter Sloterdijk und Rüdiger Safranski, der eine Nietzsche-Biographie geschrieben hat. Andreas Urs Sommer, Ralf Eichberg und so manche jüngeren Forscher wie Corinna Schubert wären zu erwähnen. In Deutschland ist man aber insgesamt sehr vorsichtig, da die Nationalsozialisten ihn für ihre Zwecke missbraucht haben. Joschka Fischer, der wohl zweimal in Röcken war, hat ins Gästebuch beim Besuch der Gedenkstätte eingetragen, dass ihm Zweifel bleiben. Und da hat er Recht. Das Problem bei der Beschäftigung mit Nietzsche an der Universität besteht darin, dass es mittlerweile eine Grundstimmung gibt, die die Beschäftigung mit ihm als politisch rechts ansieht. Das ist eigentlich prähistorisches Verhalten: Berührungstabus. Gerade weil Nietzsche so umstritten ist und zugleich ungemein anregend, müssen wir uns mit ihm beschäftigen. Wir müssen uns auch unseren eigenen Vorurteilen stellen. Dazu kann er sehr hilfreich sein. Denn seine Denkweise ist bis zum Punkt des Wahnsinns antiideologisch, weil er überall im Denken Vorurteile aufdeckt. Was nicht heißt, dass er selbst keine hätte.

F&L: Wäre gerade deshalb die wissenschaftliche Beschäftigung mit Nietzsche doch aktuell und wichtig?

Elmar Schenkel: Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Nietzsche hat viele fruchtbare Seiten. Erstens verkörpert er wie kein anderer das Denken seiner Zeit und darüber hinaus, in allen Widersprüchen. Zweitens steht er mit seinem Lebenslauf für eine ganze kulturgeschichtliche Epoche ein: Gelehrter, Komponist, Antichrist, Dichter, Denker, Genie, die Beziehung zu Richard Wagner, Wahnsinn, Herausforderung für die Künste und Philosophie, für Lebensentwürfe. Drittens ist die Rezeption Nietzsches im 20. Jahrhundert ein Spiegelbild ideologischer Kämpfe: Es beginnt mit dem Nietzschekult um 1900, führt zum amerikanischen Superman, zu den Nazis, zu den Tabus im Osten, zum Poststrukturalismus. Weltweit – das zeigen unsere Briefe – dürfte er der populärste Philosoph überhaupt sein. Wir lernen dabei etwas über die jeweiligen Kulturen, in der Art, wie sie Nietzsche verarbeiten. Wer sich wissenschaftlich mit Nietzsche beschäftigt, wird vieles über sich selbst und die eigene Zeit erfahren und erkennen.