Das Foto zeigt eine Szene aus dem Film "Felix Krull" mit Horst Buchholz, Liselotte Pulver und Peer Schmidt.
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Bildung und Arbeit
Eine Prise Felix Krull für die Hochschulen

Die Hochschulen sollen immer mehr in den Produktionsprozess der Wirtschaft eingebunden werden. Grund genug, an Alternativen zu denken.

Von Felix Grigat 01.05.2018

Felix Krull sollte man nicht gerade als Vorbild für die Bildung an Hochschulen empfehlen. Denn mit Bildung oder "Selbstoptimierung" hat er nichts am Hut. Er ist ein Hochstapler, dem es vor allem um sich selbst und seinen Vorteil geht. Charmant, witzig, einnehmend – aber eben ein Hochstapler.

Peter Sloterdijk allerdings sieht da durchaus einen Zusammenhang. So hatte er im Jahr 2011 den wegen Plagiats in seiner Doktorarbeit zurückgetretenen Minister Theodor zu Guttenberg als einen Mann mit einem "gutentwickelten Krull-Faktor" bezeichnet. Die Universitäten, so legte der Philosoph nach, seien durchaus ein Trainingslager für "krullsche Subjektivitäten". Er meinte, dass man an den Hochschulen nicht mehr unterscheiden könne zwischen einer "authentischen Kompetenz" und einer "umfassenden Simulation derselben". Deshalb wäre ja auch an den Universitäten von "Scheinerwerb" für das Ansammeln von Leistungen die Rede.

Nun, soweit sollte man Sloterdijk nicht folgen. Dennoch mag man als kleines Experiment einer Einsicht Felix Krulls nachgehen, die vielleicht etwas für sich hat. Selbst Hochstapler sagen ja dann und wann etwas Wahres.

Bildung als "Geschenk der Freiheit"

Felix Krull kann nämlich gar nichts mit der in Schwaben entwickelten These anfangen, dass Bildung Arbeit sei. Dem Rheingau entsprungen, welterfahren und sprachgewandt, hatte Felix Krull da eine ganz andere Sicht der Dinge: "Bildung wird nicht in stumpfer Fron und Plackerei gewonnen, sondern ist ein Geschenk der Freiheit und des äußeren Müßigganges; man erringt sie nicht, man atmet sie ein; verborgene Werkzeuge sind ihretwegen tätig, ein geheimer Fleiß der Sinne und des Geistes, welcher sich mit scheinbar völliger Tagdieberei gar wohl verträgt, wirbt stündlich um ihre Güter, und man kann wohl sagen, daß sie den Erwählten im Schlafe anfliegt."

Wie anders der Stuttgarter Hegel, der Bildung mit Arbeit identifiziert, weil er Denken und Urteilen wesentlich als Arbeit versteht und weil sich der Mensch die Anerkennung, die er suche, durch Arbeit verschaffen könne. Der Mensch sei eben von Natur nicht, was er sein soll, und bedürfe deshalb der Bildung. Er müsse sich zum Allgemeinen erheben und das Besondere opfern. Das Ziel dieses Bildungs- und Arbeitsprozesses sei, das Individuum durch Verzicht auf seine Eigenheiten zu bilden und in das "Element der Sache", zum Beispiel den preußischen Staat, einzubilden. Der Mensch ist für Hegel das denkend-arbeitende Geistwesen, homo laborans, die Arbeit der Selbsterzeugungsakt des Menschen. Damit wird für Hegel Arbeit zur fundamental-anthropologischen Kategorie.

Der Bankrott der unbedingten Tätigkeit

Was ist dagegen einzuwenden? Arbeiten ist menschlich. Aber, ist der Mensch wesentlich Arbeitswesen? Konsequent gedacht müsste er dann "arbeiten, um nicht zu verzweifeln" (Thomas Carlyle). Er muss sich die Anerkennung vor sich selbst und den anderen Menschen erwirken. Der Arbeitende bekommt in seinem Leben die Frucht seiner selbsteigenen Arbeit und nichts sonst. Er bekommt nichts geschenkt. Dies mündet konsequent in einen Zug zur "unbedingten Tätigkeit", von der Goethe sagte, sie mache "zuletzt bankerott". Kennzeichen für das Gute und den Erfolg der so verstandenen Bildung ist die Mühe, die sie bereitet hat. Nein, nicht die Mühe ist das Gute: "Das Wesen der Tugend liegt mehr im Guten als im Schweren." (Thomas von Aquin).

Für die Menschen der Goethezeit war "Bildung" kein ausschließlich pädagogisches Konzept, sondern Kernbegriff der Selbstverständigung des Menschen über sich und die Welt. Bildung – das bedeutete für Wilhelm von Humboldt und Friedrich Schleiermacher lebendige Wechselwirkung des Ichs mit der Welt, von Rezeptivität und Spontanität. Der lebenslange, nicht abschließbare Bildungsprozess war "eigentliches Menschwerden", der "eigentliche Zweck des Menschen". Ja: "Jeder ungebildete Mensch ist die Karikatur seiner selbst". (Friedrich Schlegel)

Die vielfältige Wechselwirkung des Menschen mit der Welt, die der Bildungsbegriff formuliert, ist aber weit mehr als Arbeit: Zweckfreies Gespräch, Genuss von Musik und Kunst, Freundschaft und Spiel, Religion – all dies trägt eminent zur Bildung des Menschen bei, ist Teil eines "Spielraums der Freiheit" (Bonhoeffer), der auch die Arbeit umgreift. Bildung als "eigentlicher Zweck" des Menschen ist Ausdruck der nicht begründ- und produzierbaren Menschenwürde und hat damit einen Überschuss an Reichweite und Gehalt gegenüber dem Arbeitsbegriff. Die Unterscheidung von Bildung und Arbeit bewahrt die Arbeit vor totalitären Ansprüchen und gibt ihr ihren angemessenen anthropologischen Ort.

Die Furcht vor dem Individuellen

Friedrich Nietzsche hat, mit viel Psychologie und noch mehr Sachlichkeit, in dem "unermüdlichen Reden vom´Segen der Arbeit‘, einen Hintergedanken vermutet: den der Furcht vor dem Individuellen. Die "Faulheit", die "im Grunde der Seele der Thätigen" liege, verhindere, dass der Mensch "Wasser aus seinem eigenen Brunnen schöpfe". In der Tat: Sich bilden bedeutet, so formulierte es bereits Schleiermacher gegen Hegel, sich im Zusammenhang der Welt in seiner unverwechselbaren Individualität eigentümlich darstellen, "selbst werdend Welt zugleich zu bilden." Es gehe darum, "immer mehr zu werden, was ich bin". Bildung ist damit zugleich unzeitgemäß.

Für Hegel ist Rationalität "Anstrengung des Begriffs" und nichts sonst. Die große abendländische Tradition unterschied hier vielleicht genauer: nicht nur in der Sinneswahrnehmung, sondern auch im geistigen Erkennen gebe es ein Element "rein empfangenden Hinblickens" (Pieper). Um zur Wahrheit zu gelangen, müsse man auch "Hinhorchen auf das Wesen der Dinge" (Heraklit). Dies wurde der diskursiven ratio übergeordnet, die vita contemplativa war wichtiger als die vita activa. Auch der sehr auf das Tun und das Werk achtende Goethe wusste davon: In Rom übte er sich darin, "alle Dinge, wie sie sind, zu sehen und abzulesen...das Auge licht sein zu lassen."

Das ist sicher nicht das, was man bei Felix Krull nachlesen kann. Doch ein "Geschenk der Freiheit" ist Bildung durchaus, da hat der Hochstapler recht. Etwas mehr von dieser Gelassenheit in Bildungsdingen, ein klein wenig mehr von diesem speziellen "Krullfaktor" würde den immer mehr in die ökonomische Produktion eingebundenen Hochschulen gut tun.