

Langzeitstudie
Emotional zerrissenes Deutschland?
Neben auseinanderdriftenden politischen Meinungen tendieren Menschen in Deutschland zunehmend zu emotionaler Spaltung, berichtet ZEIT ONLINE auf Basis vorliegender erster Ergebnisse aus einer Langzeitstudie. Die Einstein Research Unit "Coping with Affective Polarization" unter der Leitung von Psychologieprofessorin Jule Specht erhebt für den Berliner Polarisierungsmonitor seit Anfang des Jahres regelmäßig Daten darüber, wie Menschen politisch denken und welche Gefühle sie mit Andersdenkenden verbinden. Dazu werden über 4.000 repräsentativ ausgewählte Menschen befragt.
Affektive Polarisierung – die wachsende emotionale und ideologische Kluft zwischen Gruppen – schwächt demzufolge den Zusammenhalt und das demokratische Selbstverständnis einer Gesellschaft. Im Gespräch mit dem Wochenmagazin stellt Sprecht heraus, dass Meinungsverschiedenheiten bis hin zu festen ideologischen Lagern an sich noch keine Gefahr für die Demokratie darstellen: "Was wir als Gesellschaft befürchten, wenn wir von Spaltung sprechen, ist doch weniger, dass Menschen unterschiedliche Meinungen haben. Sondern, dass sie sich aus politischen Gründen voneinander abwenden, nicht mehr miteinander reden wollen, nicht mehr friedlich zusammenleben können."
Beispielsweise würden der Psychologin zufolge Menschen, denen Klimaschutz wichtig sei, häufig Menschen verachten, bei denen das nicht so ist, und umgekehrt. Ähnlich sei es bei Themen wie Sozialleistungen oder Asyl. Insbesondere an den politischen Rändern gebe es Menschen, die Debatten emotionalisieren und ein Gruppendenken heraufbeschwörten. Je größer diese Ränder würden, desto gespaltener fühle sich die deutsche Bevölkerung.
Indizien für eine Verschärfung der emotionalen Spaltung
Neben den Konfliktlinien entlang unterschiedlicher politischer Themen befragt die Forschungsgruppe die Teilnehmenden auch zu ihren Parteivorlieben. Das Zugehörigkeitsgefühl zu einer politischen Gruppe oder Partei sei eng mit dem menschlichen Bedürfnis nach Orientierung, Identität und Bestätigung verbunden. Problematisch werde dies erst, wenn eine Gruppe die andere abwerte.
Parteien, Politikerinnen und Politiker könnten sich heutzutage nicht mehr auf dauerhafte Unterstützung sympathisierender Personen verlassen und müssten um sie buhlen, erklärt Specht. Dabei seien insbesondere im Internet moralisierende und aufgeladene Inhalte erfolgreich. Insbesondere ein "Wir-gegen-sie-Denken" und die dazugehörige Rhetorik schüre affektive Spaltung.
Menschen, die Widersprüche ertragen könnten und es aushalten würden, dass Sachverhalte oder Situationen kompliziert seien, würden weniger zu affektiver Polarisierung neigen, erklärt die Forschungsgruppenleiterin. Auch die Fähigkeit zur Empathie und die Offenheit für neue Erfahrungen seien Faktoren, die emotionale Abgrenzung eher verhinderten. Stark affektiv polarisierte Menschen seien laut Specht unzufriedener mit der Demokratie, misstrauten staatlichen Institutionen, aber auch der Wissenschaft und dem Journalismus.
Im extremen Fall führe starke Ablehnung der Gegenseite zu Wut, Verachtung und schließlich auch zu Gewalt. Die Forschungsgruppe wolle deshalb herausfinden, wie man beispielsweise Andersdenkende "an einen Tisch" bringen könne, damit das friedliche Zusammenleben nicht gefährdet werde. Eine präventive Option seien auch Gruppentrainings für Empathie.
cva