Ein Mann mit grauem Bart und Kopfhörern schaut auf sein Smartphone,  während um ihn herum bekannte Icons wie "Daumen hoch" oder "Briefumschlag" schwirren.
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Digitale Diskursräume
Empörung first, Wahrhaftigkeit second

Falschinformationen wirken auf gesellschaftliche Debatten. Psychologische und technologische Ursachen zu verstehen, kann digitale Diskursräume retten.

Von Christina Elmer 11.04.2025

Wo Wahlen anstehen, wird gekämpft – um Stimmen, Spenden und nicht zuletzt auch um die Deutungshoheit im Diskurs. Das war auch vor der Bundestagswahl im Februar 2025 deutlich spürbar. Ob in den sogenannten sozialen Netzwerken, im Bundestag oder in TV-Duellen: Vielfach tauchten Falschinformationen auf und verbreiteten sich schneller als ihre Korrekturen. Zwar wurden weder besonders wirkungsvolle KI-Deepfakes noch ebensolche Kampagnen aus dem Ausland beobachtet. Eine Wahlwiederholung, wie sie in Rumänien im Mai bevorsteht, bleibt Deutschland somit erspart. Dennoch: Die Zeit um die Bundestagswahl war geprägt von einem Wahlkampf, der immer wieder erfundene, übertriebene oder aus dem Kontext gerissene Behauptungen verhandelte, vor allem bei Themen mit besonders hohem Empörungspotenzial. 

Dadurch verschob sich die öffentliche Debatte. Besonders viele Falschmeldungen drehten sich um die Migration nach Deutschland, die Energiewende und den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Zudem wurden Desinformationskampagnen gezielt gegen Spitzenkandidaten lanciert, allen voran gegen Robert Habeck und Friedrich Merz. Wo und von wem derartige Kampagnen in Umlauf gebracht werden, lässt sich auch mit forensischen Methoden nur selten aufklären. 

Investigative Recherchen konnten vor der Bundestagswahl immerhin die Kampagne "Storm-1516" zu ihren russischen Ursprüngen zurückverfolgen. Dabei wurden gefälschte Nachrichtenseiten für Angriffe auf Politikerinnen und Politiker genutzt und von Influencern verbreitet. Immer wieder stellten Falschnachrichten zudem die Integrität des Wahlprozesses infrage, etwa mit Behauptungen zu angeblich vernichteten Briefwahlstimmen oder unverschlossenen Wahlurnen – Desinformation also, die vor demokratischen Wahlen regelmäßig beobachtet wird.

Logik von Desinformationskampagnen 

Der politische Diskurs wurde davon nicht nur beeinflusst, sondern trug häufig auch selbst zur allgemeinen Verunsicherung bei. Nicht selten waren es Spitzenkandidatinnen und Spitzenkandidaten, die in Parlamentsdebatten oder in Wahlkampfsendungen weitere Falschinformationen in die Welt setzten. Etwa Friedrich Merz, der Ende Januar im Bundestag über das Ausmaß sexueller Gewalt durch Zugewanderte sprach und dabei nachweislich übertrieb. Oder Olaf Scholz, der die Steigerung der Abschiebungen während seiner Kanzlerschaft im TV-Quadrell übermäßig groß darstellte. Schließlich Alice Weidel, die in einem Gespräch mit Elon Musk auf dessen Plattform X gleich eine ganze Reihe von Falschbehauptungen aufstellte, darunter: Deutschland leide unter explodierender Kriminalität, verzichte als einziges Land weltweit auf Atomenergie und Adolf Hitler sei Kommunist gewesen.

Diese Aussagen zeigen: Oftmals lassen sich Falschinformationen mit gesundem Menschenverstand und etwas Recherche in offiziellen Dokumenten, amtlichen Statistiken oder historischen Quellen widerlegen. Nicht selten stehen auch bereits redaktionelle Faktenchecks zur Verfügung, die Hintergrundwissen bereitstellen oder wiederkehrende Thesen behandeln. Das Problem besteht also nicht in einem Mangel an Informationen – im Gegenteil. Wer Zeit auf digitalen Plattformen verbringt, wird in kürzester Zeit mit Behauptungen aus einer Unmenge an Informationsquellen variabler Glaubwürdigkeit konfrontiert, ja geradezu überschwemmt. 

Die Verlässlichkeit dieser Informationen einzuschätzen, fordert gerade jüngere Menschen massiv heraus. Sie müssten sich einer emotional aufgeladenen Nutzungssituation entziehen, Methoden und Werkzeuge der Onlinerecherche anwenden und schließlich die Qualität von Quellen bewerten – also Kompetenzen anwenden, die ihnen oftmals schlicht fehlen. Im Ergebnis zeigen Studien zwar eine starke Wahrnehmung von Falschmeldungen und eine entsprechend hohe Risikoeinschätzung, jedoch im Gegensatz dazu eine eher schwach ausgeprägte Medienkompetenz bei den Betroffenen. Laut der jüngsten Pisa-Studie fühlen sich weniger als die Hälfte der Schülerinnen und Schüler in Deutschland in der Lage, die Qualität von Informationen fundiert zu beurteilen – ein Wert unterhalb des OECD-Durchschnitts.

Erschwerte Forschungsbedingungen 

Zugleich gelten Falsch- und Desinformationen laut einer Expertenbefragung des Weltwirtschaftsforums weltweit als größtes unmittelbares Risiko. Dabei lässt sich das Phänomen selbst in Umfang und Rezeption nicht exakt vermessen. Denn in den komplexen Netzwerken des digitalen und analogen Raums ist die Verbreitung von Informationen nur teilweise nachvollziehbar. Zudem fehlen der evidenzbasierten Forschung aktuell noch die nötigen Plattformdatenzugänge für übergreifende Analysen. Bisherige Studien deuten zwar auf eine quantitativ eher überschaubare Verbreitung von Falschmeldungen hin, zeigen aber gleichzeitig eine starke Verunsicherung und einen Vertrauensverlust, der auch den Journalismus als relevantes Korrektiv im Informationsökosystem umfasst. Auch lassen sich reale Folgen von Falschinformationen beobachten – vor allem, wenn sich Eliten und Multiplikatoren an ihrer Verbreitung beteiligen. 

Die Auswirkungen von Desinformation reichen somit weit über einzelne Behauptungen und ihre unmittelbare Rezeption hinaus. Der gesellschaftliche Diskurs verändert und verschiebt sich. Er wird emotionalisiert und polarisiert, fokussiert sich häufiger auf prominente Personen und seltener auf komplexe Zusammenhänge. Zugleich ist der Diskurs durchzogen von Fehlinformationen, die auch von etablierten Akteuren verbreitet und in der digitalen Öffentlichkeit intensiv diskutiert, jedoch nicht systematisch überprüft werden. 

Selbst wenn Menschen Behauptungen als falsch erkennen, muss das nicht das Ende einer Kampagne bedeuten. Verbreitet werden sie für gewöhnlich trotzdem, etwa um Aufmerksamkeit zu erzeugen oder Zugehörigkeit zu demonstrieren. Empörung first, Wahrhaftigkeit second. Die Konsequenz sind Debatten ohne Common Ground, also eine gemeinsame Wissensbasis, die für das Gelingen von Aushandlungsprozessen elementar ist. Hinzu kommen persönliche Angriffe mit erfundenen Vorwürfen. In den digitalen Diskursräumen, die ein Ort gesellschaftlicher Teilhabe sein könnten, steigt infolgedessen der Druck – vor allem auf exponierte Personen, auf Minderheiten und schließlich auf die Meinungsfreiheit. Denn in einem Klima uneingeschränkter Redefreiheit, die auch unwahre Behauptungen und Beleidigungen einschließt, können eben doch nicht mehr alle ihre Meinung frei äußern.

Freiheit unter Druck – Schwerpunkt in Forschung & Lehre 

Die April-Ausgabe von Forschung & Lehre widmet sich mit einem Themen-Schwerpunkt der Freiheit. 

Die Beiträge: 

Karl-Rudolf Korte
Angewandte Freiheiten: Demokratie im Spannungsfeld von Wählerinteressen, Politik und einer veränderten Informationskultur 

Klaus Ferdinand Gärditz
Funktionstüchtigkeit statt Applaus: Wie unsere freiheitliche Verfassungsordnung unter Druck geraten ist und was es darauf für Antworten gibt 

Stefan Gosepath
Gewisse Spannung: Wissenschaftsfreiheit aus philosophischer Sicht 

Susan Richter
Von Affen und Menschen: Die Fackel zwischen Aufklärung und Zerstörung 

Christina Elmer
Empörung first, Wahrhaftigkeit second: Chancen und Gefahren digitaler Diskursräume 

Hier geht es zur aktuellen Ausgabe – Reinlesen lohnt sich!

Faktenchecks und Regeln für Plattformen 

Wie also können wir den gesellschaftlichen Diskurs vor Falschmeldungen schützen? Zunächst einmal, indem wir ihn als gemeinsamen Prozess verstehen, der auf Wahrhaftigkeit und einen Common Ground angewiesen ist, um relevante Themen konstruktiv bearbeiten zu können. Fakten sind dafür ein unverzichtbarer Baustein, gerade auch für Politikerinnen und Politiker sowie andere Multiplikatoren. Von ihnen dürfen wir erwarten, dass sie ihre Aussagen anhand fundierter Quellen begründen können. Dafür wären unter anderem eine Entschleunigung digitaler Debatten hilfreich sowie Interaktionsmöglichkeiten, die Nutzerinnen und Nutzer zur Reflexion anregen und auf diesem Weg zur emotionalen Abkühlung beitragen. Je weniger polarisiert eine Debatte abläuft, desto mehr Aufmerksamkeit kann letztlich der Sachebene gewidmet werden. Dazu beitragen können auch eine differenzierte Themensetzung, konstruktive Impulse und eine aufmerksame Moderation.

Tauchen dennoch Falschmeldungen in Debatten auf, lassen sich zwei Methoden für sinnvolle Gegenmaßnahmen unterscheiden: Vorbereitend können Menschen im Rahmen eines Prebunkings über wiederkehrende Narrative und Strategien aufgeklärt werden, um diese später unmittelbar erkennen zu können. Während beim Debunking Falschmeldungen nach ihrer Verbreitung richtiggestellt werden, meint Prebunking, dass Bürgerinnen und Bürger dafür sensibilisiert werden, dass Falschinformationen verbreitet werden. In diesen Bereich fallen auch Schulungen zur allgemeinen Verbesserung der Medienkompetenz. 

Schwieriger ist es, Falschinformationen aus der Welt zu räumen, wenn sie sich bereits in den Köpfen der Betroffenen verankert haben. Ein Debunking durch Faktenchecks sollte daher psychologische Effekte berücksichtigen: Um die Falschmeldung nicht noch weiter zu stärken, sollte sie im Faktencheck immer von wahren Informationen umschlossen sein. Idealerweise sollte die Widerlegung eine alternative, logische Erklärung für den beschriebenen Zusammenhang liefern und nicht komplexer sein als die Falschmeldung. Nicht zuletzt sollte das Format zur Zielgruppe passen. Wer zum Beispiel Jugendliche mit Faktenchecks erreichen möchte, sollte diese auf den passenden Netzwerken kommunizieren und die dort übliche Aufmerksamkeitsspanne schon bei der Konzeption der Formate mitdenken. Ohnehin sollten die großen Onlineplattformen stärker gegen Falschinformationen in die Pflicht genommen werden. Mit ihren Empfehlungsalgorithmen und einem Fokus auf der vermarktbaren Aufmerksamkeit ihrer Nutzerinnen und Nutzer betreiben sie eine technologische Infrastruktur, die sich fatalerweise auch für bewusst irreführende Kampagnen hervorragend eignet. Im Rahmen des Europäischen Digital Services Act (DSA) wurden daher Maßnahmen gegen Desinformation in einer Selbstverpflichtung definiert, die derzeit in einen stärkeren Verhaltenskodex umgewandelt wird. Dieser sieht ein intensiveres Monitoring durch die Plattformen vor, eine verbesserte Zusammenarbeit mit Forschenden und Faktencheckern sowie Transparenz bei politischer Werbung. 

Medienbildung aufbauen und weitergeben 

Zwar erweist sich die Selbstverpflichtung bisher als begrenzt wirksam und unvollständig, etwa fehlen bei den Unterzeichnern mit Telegram und X noch zwei Plattformen, die bei der Verbreitung von Falschmeldungen regelmäßig eine zentrale Rolle spielen. Auch die Datenzugänge für Forschende sind für systematische Analysen noch nicht ausreichend, wobei diesbezüglich ein anstehender delegierter Rechtsakt für Besserung sorgen könnte. Luft nach oben ist also reichlich. Dennoch hätte eine starke EU-Regulierung durchaus das Potenzial, Desinformation auf Onlineplattformen entgegenzuwirken – auch wenn sie bei der Bewältigung des Gesamtproblems nur eine Komponente von vielen sein kann. 

Psychologische und technische Faktoren müssen also ineinandergreifen, damit sich Falschmeldungen ausbreiten. Aus diesen Wirkmechanismen lassen sich auch allgemeine Empfehlungen für die Kommunikation wissenschaftlicher Zusammenhänge ableiten. Erstens sollten Forschende den Common Ground öffentlicher Diskurse zu stärken versuchen, etwa indem sie wichtige Grundannahmen in ihre Kommunikation integrieren. Zweitens sollten sie Informationskompetenzen vermitteln, indem sie auch Metawissen zur wissenschaftlichen Arbeit sowie zur Bewertung von Quellen und Methoden kommunizieren. Drittens sollten Forschende gezielt auch jüngere Zielgruppen auf digitalen Plattformen anzusprechen versuchen und damit den digitalen Debattenraum ganz unmittelbar aufwerten. Sie können mit ihrem Engagement persönlich demonstrieren, wie wertvoll fundiertes und verlässliches Wissen ist – auch als Grundlage eines Diskurses, der sich um die relevanten Zukunftsfragen kümmert. Nicht in Echokammern, sondern gemeinsam und wahrhaftig.