Steinplatte mit der Aufschrift Auschwitz zum Gedenken an den Holocaust auf dem Jüdischen Friedhof Berlin Weißensee
mauritius images / Catharina Lux

Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus
"Es geht mehr um Wissen als um Haltung"

Wie erinnern und gedenken wir der Gräueltaten des NS-Regimes? Wie gehen wir als Gesellschaft heute mit dem Judenmord um? Fragen an einen Historiker.

Von Friederike Invernizzi 27.01.2023

Forschung & Lehre: Seit 1996 gedenkt Deutschland offiziell der Opfer des Nationalsozialismus. Wie kann man als Gesellschaft an den Holocaust angemessen erinnern?

Ulrich Herbert: Was wäre hier wohl "angemessen"? Wie soll man in der Nachfolge der Tätergesellschaft der Ermordung von sechs Millionen Menschen "angemessen" gedenken? Fast jeder dritte Deutsche hat in der Familie jemanden, der an diesen Taten direkt oder indirekt beteiligt war. Angesichts dieser Dimensionen ist es schwer, auf diese Frage eine Antwort zu finden.

Portraitfoto von Prof. Dr. Ulrich Herbert
Ulrich Herbert ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Freiburg. Badische Zeitung

F&L: Sie sind einer der Herausgeber der umfassenden Quellensammlung "Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945" (VEJ). Welche Bedeutung hat die Sammlung für die Nachwelt?

Ulrich Herbert: Zunächst hat die Sammlung eine Bedeutung für die Forschung. Hier wurden mit enormem Aufwand über zwei Jahrzehnte hinweg in mehr als zwanzig Ländern tausende Dokumente zum Mord an den Juden zusammengetragen, der größte Teil davon zuvor unveröffentlicht. Dabei wird zudem jedes Opfer und jeder einzelne Täter biographisch abgebildet, sodass die Sammlung auch ein "Schriftdenkmal" für die ermordeten Juden ist, wie es ein Kollege formuliert hat. Darüber hinaus ist die Sammlung für den wissenschaftlichen Unterricht an den Universitäten wichtig, sicherlich auch für engagierte Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrer.

F&L: Warum blieb die Holocaust-Forschung an deutschen Hochschulen für lange Zeit ein Randthema?

Ulrich Herbert: So kann man das nicht sagen. Es gibt seit den späten 60er Jahren eine wachsende Zahl von Kolleginnen und Kollegen, die sich mit dem Nationalsozialismus intensiv beschäftigt haben. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Judenmord aber hat sich auch international erst in den 80er Jahren intensiviert, ebenso in den USA oder in Israel. Es war offenbar erst eine gewisse zeitliche Distanz nötig, um die Umrisse dieses Gebirges an Verbrechen zu erkennen und zu verstehen.

"Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Judenmord hat sich erst in den 80er Jahren intensiviert."

F&L: Es gibt immer weniger Zeitzeugen der NS-Zeit. Wie verändert sich dadurch Ihre Arbeit?

Ulrich Herbert: Die Bedeutung von Zeitzeugen war in den vergangenen Jahrzehnten sehr wichtig für die Beschäftigung mit der NS-Zeit an Schulen und Universitäten. Allerdings müssen Grundkenntnisse über den Nationalsozialismus vorhanden sein, um das einzuordnen, was die Zeitzeugen erzählen. Die Unmittelbarkeit und Authentizität erschließt sich nur dem, der auch etwas über diese Zeit weiß. Es gibt umfangreiche Sammlungen von Interviews und Erinnerungsliteratur, die in der Forschung natürlich genutzt werden. Große Bedeutung für unsere Arbeit hatten vor allem die nachgelassenen Zeugnisse der NS-Opfer aus den Jahren der Verfolgung – Briefe etwa, Aufzeichnungen über das Erlebte, Tagebücher, bis hin zu Zetteln, die die jüdischen Opfer während des Transports in den Osten geschrieben und in den Güterwagen versteckt haben, als letzte Nachricht vor ihrer Ermordung.

F&L: Alexander und Margarete Mitscherlich warnten in ihrem berühmten, 1967 erschienenen Band "Die Unfähigkeit zu trauern" vor der Weigerung, die Vergangenheit wahrzunehmen und zu verarbeiten. Sie attestierten der damaligen Bundesrepublik Verdrängung und Verleugnung der Gräueltaten der Nationalsozialisten. Wie ist es heute?

Ulrich Herbert: Zunächst war dieses Buch, dessen Titel oft missverstanden wird, ja eine psychoanalytische Deutung der Unfähigkeit der Deutschen, den Tod Hitlers, des verehrten Führers, zu betrauern. Daraus sei eine Art von Melancholie entstanden, die eine Auseinandersetzung mit den Untaten der Nazis und mit den Opfern blockiert habe. Hier ging es also eher um die Unwilligkeit als um die Unfähigkeit der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit. Diese Unwilligkeit hatte auch damit zu tun, dass ein erheblicher Teil der Eliten der NS-Zeit nach dem Krieg in der Bundesrepublik eine große Rolle gespielt hat. Erst viele Jahre nach dem Krieg begann sich das zu ändern, als die Kontinuität der Eliten zunehmend als Skandal empfunden wurde, als deutlich wurde, dass NS-Täter jahrelang unbehelligt und in zum Teil führenden Positionen unter uns lebten. Da begann der intensive, lang anhaltende, sehr strittige und sehr komplizierte Prozess der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit in Deutschland, der bis heute anhält. Und die Vielzahl der Texte und fast täglichen Bezugnahmen auf den Judenmord zeigen ja, dass wir damit auch heute noch nicht fertig sind.

F&L: Wie hat sich die Beschäftigung mit dem Holocaust in den letzten Jahren verändert?

Ulrich Herbert: Die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit hat in den 90er Jahren einen Höhepunkt erreicht, als viele vermuteten oder erhofften, das werde mit der Wiedervereinigung nun zu Ende gehen. Aber das Gegenteil war der Fall – öffentliche Debatten über das Buch von Goldhagen, über die Zwangsarbeiter, über die Wehrmachtsausstellung, über das Berliner Holocaustdenkmal entbrannten in bis dahin ungekannter Heftigkeit. Mittlerweile hat sich in Deutschland aber ein doch weit reichender Konsens herausgebildet: Der Nationalsozialismus und seine Verbrechen werden von den Deutschen heute ganz überwiegend mit Abscheu und Beschämung wahrgenommen. Man könnte sagen, dass das mittlerweile zur Grundidentität der Deutschen gehört. Die Schwierigkeiten liegen heute eher an anderen Stellen.

F&L: Welche Schwierigkeiten meinen Sie?

Ulrich Herbert: Wir haben es heute in der Gesellschaft insgesamt und auch bei den Eliten bei diesem Thema eher mit einem Übermaß an Meinung und Emphase zu tun, die sich aber vom konkreten Geschehen immer weiter ablösen, über das tatsächlich eher rudimentäre Kenntnisse bestehen. Während meiner Zeit in Israel war in den Gesprächen mit den Studierenden dort die durchgängige Meinung zum Thema Erinnern an den Holocaust in Deutschland, dass man auf emotionale Appelle und Betroffenheitsbekundungen gut verzichten könne. Das einzige, was man von den Deutschen verlange, sei, dass sie sich mit den Geschehnissen gut auskennen sollten.

"Wir haben es heute in der Gesellschaft bei diesem Thema eher mit einem Übermaß an Meinung und Emphase zu tun."

F&L: Die deutsche Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus ist also zu sehr betroffenheitsorientiert?

Ulrich Herbert: Oft verbunden mit der Haltung, man wisse das doch alles. Zwei Beispiele. Bei einer Erhebung zu der Frage, wie hoch der Anteil der Deutschen unter den ermordeten europäischen Juden sei, schwanken die Schätzungen zwischen einem Drittel und "alle". Tatsächlich waren es etwa 2,5 Prozent, 150.000 Menschen. Ein Großteil der Deutschen ist der Überzeugung, die Juden seien alle in KZs umgebracht worden. Ein Großteil der ermordeten Juden hat die Konzentrationslager gar nicht gesehen, sie sind direkt von der Rampe ins Gas gebracht worden. Dann gibt es die Meinung, der Holocaust sei ein "industrieller" Prozess der Ermordung der Juden in den Gaskammern gewesen. Mindestens die Hälfte der Juden ist aber auf brutale Weise ganz "traditionell" ermordet worden, erschlagen oder erschossen oder an Hunger und Seuchen gestorben. Die Emphase der öffentlichen Betroffenheit verbindet sich hier mit dem Desinteresse an den Geschehnissen selbst.

F&L: Wie sollten wir damit umgehen?

Ulrich Herbert: Es kann nicht jeder ein Spezialist für die Nazizeit sein. Und die Überzeugung, aus der Beschäftigung mit NS-Zeit und Judenmord würde sich eine Art von spezifisch deutscher antifaschistischer, demokratischer Ethik ergeben, ist sicher falsch, schon weil sich in anderen Ländern eine solche Ethik ganz ohne diese Verbindung zum Holocaust ergibt. Aber es wäre sicher gut, wenn wir uns in Deutschland stärker mit dem Vorgang des millionenfachen Massenmords an den Juden und an vielen anderen Gruppen – den sowjetischen Kriegsgefangenen, der Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten, den Sinti und Roma, den Behinderten –, also mit den Verbrechen selbst beschäftigten als mit der Frage der angemessenen Betroffenheit. Eine solche Beschäftigung aber ist kein kollektiver, sondern eher ein individueller Prozess; und auch nicht in erster Linie ein Problem des Unterrichts an den Schulen, die ohnehin überfordert sind. Mein israelischer Kollege Yehuda Bauer hat das so erklärt: "Die Lektüre eines einzigen Taschenbuchs über die Geschichte des Judenmords ist mehr wert als der Besuch von drei Gedenkveranstaltungen". Es geht dabei also weniger um Deklaration der Ergriffenheit als um die Beschäftigung mit der Sache selbst. Weniger um Haltung als um Wissen.

Holocaust-Gedenktag

Am 27. Januar 1945 wurde das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau befreit. An diesem Jahrestag wird seit 2005 der "Internationale Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust" begangen.