Transport eines Covid-Patienten zur Intensivstation
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Coronavirus
Es kann jeden treffen

Die Zahl der Corona-Neuinfektionen steigt weiter an. Der Präsident der Deutschen Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin warnt vor dem Kollaps.

Von Friederike Invernizzi 01.04.2021

Forschung & Lehre: Herr Professor Marx, die Neuinfektionen durch Corona steigen rasant – auch die Zahl der schweren Verläufe. Wie ist aktuell die Situation auf den Intensivstationen?

Gernot Marx: Ich bin in großer Sorge, weil wir auf einem relativ hohen Niveau in die dritte Welle der Pandemie gestartet sind. Wir hatten knapp 2.700 Covid19-Patienten am 10. März (Tiefststand) auf deutschen Intensivstationen und heute sind wir bereits bei mehr als 3.700  (Stand 1. April 2021), das heißt 1.000 Patientinnen und Patienten mehr als im März. Wir befinden uns im exponentiellen Anstieg, genau wie wir es von der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) auch vorhergesagt haben. Jetzt ist überhaupt keine Zeit über Öffnungen oder Lockerungen zu sprechen, sondern wir müssen jetzt die Infektionszahlen unter Kontrolle bringen. Erst wenn diese wieder unten sind, kann man über Öffnungen reden.

F&L: Ist durch die Impfungen der über 80-Jährigen denn eine Entlastung auf den Intensivstationen spürbar?

Gernot Marx: Aufgrund der Durchimpfung der über 80-Jährigen sehen wir diese deutlich seltener auf den Intensiv- und Notfallstationen. Aber es war nicht so, dass wir in der ersten Welle hauptsächlich über 80-Jährige behandelt hätten. Mehr als 75 Prozent der Intensivpatienten waren jünger als 80. Im Schnitt lag das Durchschnittsalter der Covid19-Patientinnen und Patienten auf den Intensivstationen in der zweiten Welle bei 68 Jahren. Wie sich das jetzt in der dritten Welle entwickelt, müssen wir noch sehen. Allerdings berichten Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Teilen Deutschlands von sehr viel jüngeren Patientinnen und Patienten ohne Vorerkrankungen, die auch schwer erkranken und sogar beatmet werden müssen. Man muss also leider sagen: mittlerweile kann es jeden treffen.

F&L: Wie hoch ist mittlerweile der Anteil der Covid-Patienten auf den Intensivstationen und welche Folgen hat das für andere Notfallpatienten?

Gernot Marx: Das ist regional sehr unterschiedlich. Die Kunst ist, die jeweiligen Kapazitäten der Kliniken, wenn es notwendig ist, zur Verfügung zu stellen. An vielen Orten werden durch die Situation wieder mehr Corona-Patienten aufgenommen, dadurch müssen geplante Operationen und andere Eingriffe verschoben werden, natürlich nicht die Behandlung anderer Notfallpatienten. Wer sich genau informieren möchte, kann die regionale Auslastung bei uns im DIVI-Intensivregister verfolgen.

F&L: Sind bestimmte Risikogruppen immer noch stärker gefährdet?

Gernot Marx: Die Daten zeigen, dass Vorerkrankungen ein Risiko bedeuten, an Corona zu erkranken. Aber aufgrund der Mutationen kann es wie gesagt mittlerweile im Prinzip jeden treffen. Außerdem hängt es von der Viruslast ab: Je höher die Viruslast ist, die sich im Körper ausbreitet, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass man schwer erkrankt und intensivmedizinisch betreut werden muss.

"Die Langzeitfolgen können wir noch gar nicht abschätzen, aber die Intensivpatientinnen und –patienten sind auf jeden Fall für ihr Leben gezeichnet." 

F&L: Sie warnen vor weiteren Lockerungen und haben stets harte Gegenmaßnahmen gefordert, um die dritte Welle, die nun offensichtlich bereits eingetreten ist, zu verhindern. Wie beurteilen Sie das Agieren der Kanzlerin in den vergangenen Tagen und die Maßnahmen der Länder, die teils sehr unterschiedlich sind?

Gernot Marx: Die Neuinfektionen nehmen rasant zu. Wir benötigen aus Sicht der Intensivmedizin dringend Maßnahmen, die das Infektionsgeschehen unter Kontrolle bringen. Deshalb fordern wir einen harten Lockdown, um die aktuelle dritte Welle zu durchbrechen. Die getroffenen Maßnahmen wirken sich in der Intensivmedizin immer erst mit einer Verzögerung von 14 Tagen aus. Das bedeutet, wenn wir jetzt einen Lockdown hätten, kommen wir in den nächsten zwei Wochen auf 5.000 Intensivpatienten, wenn wir noch zwei bis drei Wochen warten, sind es schon 7.000 bis 8.000 Patientinnen und Patienten. Das haben wir über unser Prognosemodell klar berechnet. Es muss also jetzt etwas passieren. Man muss nur ins europäische Ausland schauen, um zu sehen, wie schnell sich die Situation dramatisieren kann. In Frankreich wird auf den Intensivstationen triagiert, das wollen wir verhindern. Bei schweren Verläufen müssen die Betroffenen, die überleben, viel eher mit schlimmen Begleiterscheinungen wie Verlust von Geschmackssinn und Fatigue-Syndrom rechnen als Patientinnen und Patienten mit leichteren Verläufen. Diese Menschen sind über viele Wochen und Monate nicht mehr dieselben, die sie einmal waren. Die Langzeitfolgen können wir noch gar nicht abschätzen, aber die Intensivpatientinnen und –patienten sind auf jeden Fall für ihr Leben gezeichnet. Es geht also darum, der Bevölkerung ganz viel Leid und Tod zu ersparen.

F&L: Wie bereiten Sie sich auf die zunehmende Zahl an Fällen vor? Wird es sowohl im ärztlichen als auch im pflegerischen Bereich genug Personal geben?

Gernot Marx: Wir haben uns vor einem Jahr deutschlandweit eine Art 7-Tage-Notfallreserve geschaffen von über 10.000 Intensivkapazitäten, auf die wir sofort Zugriff haben. Das Problem ist die Personalressource, das heißt, wenn ich die Versorgung komplett auf Covid19-Patientinnen und -Patienten umstelle, also ärztliches und pflegerisches Personal auch aus anderen Bereichen transferiere, hätte ich eine Mischung aus professionellem Intensivpersonal und zusätzlichen Ausgebildeten. Das ist aber alles andere als eine professionelle Standardversorgung. Das ist dann wirklich Notfall-Krisenmanagement. Das gilt es unbedingt zu vermeiden.

F&L: Was passiert, wenn nicht alle Covid-19 Patienten in den Maximalversorgungskliniken oder in Universitätskliniken intensivmedizinisch betreut werden können?

Gernot Marx: In Deutschland haben 1.280 Kliniken Intensivkapazitäten, und wir gehen davon aus, dass die meisten dieser Häuser im Notfallmodus einspringen. Ich glaube weiterhin, dass die Politik aufmerksam genug unseren Mahnungen zuhört und entsprechend verantwortungsvoll handelt. Die Situation ist ja nicht hoffnungslos. Wir bekommen relativ viele Impfdosen. Wenn wir in den nächsten Wochen acht bis zwölf Wochen viele Menschen impfen können und noch ein paar Wochen durchhalten, uns disziplinieren und private Kontakte vermeiden, dann kommen wir meines Erachtens relativ gut durch diese kritischste Phase der Pandemie. Eine weitere Chance bietet das virtuelle Krankenhaus. Mit dem telemedizinischen Netzwerk ist es uns gelungen, wesentlich weniger Menschen von den externen Häusern in den zentralen Intensivstationen transferieren zu müssen. Sie konnten ortsnah behandelt werden, was auch für die Familien gut ist. Durch die Telemedizin läuft die Weitergabe von Informationen von Patientinnen und Patienten außerdem viel reibungsloser. In Fällen, in denen diese in die Intensivmedizin müssen, haben wir schon sehr viele Informationen über sie. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) hat im Februar 2021 die Voraussetzung für die Finanzierung telemedizinischer Beratungen bei der Versorgung von Corona-Kranken beschlossen. Bis zum Jahresende erweiterte er die sogenannten Zentrums-Zuschläge auch auf Konsiliarleistungen von Spezialkliniken, die in einem intensivmedizinischen digital-gestützten Versorgungsnetzwerk (IDV-Zentren) eingebunden sind.

F&L: Wie geht es den vielen tausend Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Notfall- und Intensivmedizin nach den vielen Monaten hoher Belastung durch die Behandlung von Corona-Patienten?

Gernot Marx: Die große Belastung der Menschen, die sich um Corona-Patientinnen und -patienten auf Notfall- und Intensivstationen kümmern, sorgt mich neben der Akutversorgung am meisten. Zunächst war die Angst vor der Ansteckung und dem Weitertragen des Virus in die eigenen Familien besonders groß. Das hat sich jetzt mit der weitgehend flächendeckenden Impfung des Personals gelegt. Darüber hinaus entsteht durch die Behandlung der Covid19-Patienten eine bislang nicht gekannte psychische und physische Überlastung. Die Arbeit in der Schutzkleidung, insbesondere mit der FFP2-Maske, ist sehr anstrengend. Wenn man das jeden Tag mehrere Stunden macht, ist man völlig erschöpft. Außerdem war die höhere Sterblichkeit auf den Intensivstationen durch das Corona-Virus für alle Beteiligten sehr bedrückend. Da spielt es keine Rolle, dass es Alltag ist, mit lebensbedrohlichen Krankheiten und damit auch mit dem Tod zu tun zu haben.

"Krise heißt immer, dass man auch viel sprechen muss."

F&L: Was kann getan werden, damit das Personal weiterhin gut und gesund durch diese Zeit kommen?

Gernot Marx: Wir versuchen, die Belastungen mit psychologischen Unterstützungsangeboten aufzufangen. Wir achten außerdem darauf, noch mehr als üblich miteinander im Gespräch zu bleiben, zum Beispiel durch Meetings und andere Möglichkeiten des Kontakts. Krise heißt immer, dass man auch viel sprechen muss. Außerdem ist eine erhöhte Aufmerksamkeit gegenüber den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gefragt, um rechtzeitig zu merken, wenn es jemandem nicht gut geht. Wir haben außerdem gemeinsam mit der Fachgesellschaft für Krankenpflege eine Stellungnahme verfasst, in der wir konkrete Maßnahmen gefordert haben, wie zum Beispiel finanzielle Anreize wie Steuerreduktion von Nachtarbeit und Wochenendarbeit oder das Modell 80 Prozent arbeiten mit 100 Prozent Lohn. Die große Sorge ist nicht, dass diese Menschen ihre Aufgabe nicht verantwortungsvoll erfüllen, sondern dass viele nach der Pandemie den Beruf wechseln, weil sie sagen: "Ich kann nicht mehr". Deshalb sind Maßnahmen, um die Wertschätzung auszudrücken, besonders wichtig.

F&L: Die Leitlinie zur stationären Therapie von Patienten mit COVID-19 wurde in den letzten Monaten mehrfach überarbeitet. Welche neuen Aspekte sind aktuell besonders wichtig?

Gernot Marx: Die mehrfache Überarbeitung ist bisher einzigartig in Deutschland. Dies betrifft insbesondere die Verwendung von Medikamenten in der Therapie von Covid19-Patienten, die sich durch aktuelle Studienergebnisse permanent ändern muss. Zudem wird in den Leitlinien die Betreuung der Betroffenen nach der Krankheit festgelegt, um Erkenntnisse über die Langzeitfolgen der Erkrankung zu gewinnen.

F&L: Wie wollen Sie die Erfahrungen aus der Corona-Pandemie langfristig in der Intensivmedizin nutzen?

Gernot Marx: Die Erfahrungen werden uns lehren, uns künftig besser auf mögliche weitere  Pandemien vorzubereiten. Ein ganz wichtiger Punkt ist das DIVI-Intensivregister, mit dem es möglich ist, alle Intensivpatienten in Deutschland zu erfassen. Das haben wir seit einem Jahr und es ist im europäischen Raum einzigartig. Das möchten wir langfristig nutzen als Instrument, um die Kapazitäten steuern zu können. Darüber hinaus werden uns die Erfahrungen mit dem virtuellen Krankenhaus – also die digitale Vernetzung und die telemedizinische Unterstützung – hoffentlich dazu bringen, die telemedizinische Versorgung regional und deutschlandweit etablieren zu können.