Migrationsgegner und Migrationsbefürworter stoßen bei Protesten in Dover, England aufeinander, im Bildhintergrund stehen Polizisten.
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Migrationsforschung
Fundiertes Wissen statt Vorurteile

Zuwanderung – kaum ein Thema spaltet europäische Gesellschaften so stark, wie dieses. Ein Gespräch über Gründe und Folgen der Bevölkerungsbewegungen.

Von Friederike Invernizzi 28.07.2021

Forschung & Lehre: Herr Prof. Dustmann, Migration ist ein polarisierendes Thema, das nicht selten Eingang in Verschwörungstheorien und populistische Parolen findet. Sie engagieren sich seit Jahren für eine ausgewogene Diskussion zu Migration und Integration. Was motiviert Sie dazu?

Christian Dustmann: Migration ist ein faszinierendes Thema, da es sich mit dem Bedürfnis der Menschen beschäftigt, ihre Lebensumstände zu verbessern. Viele Menschen werden in Umstände hineingeboren, die ihnen nicht nur wenige Möglichkeiten zur eigenen Entwicklung bieten, sondern häufig auch von Unsicherheiten und fehlender ökonomischer Stabilität geprägt sind. Dies trifft nicht nur auf Menschen in Entwicklungsländern zu, die oft durch Instabilität, Armut und schlechte Staatsführung gekennzeichnet sind, sondern ist auch in entwickelten Ländern zu beobachten. Die jüngeren Arbeiten des Harvard-Ökonomen Professor Raj Chetty und seiner Ko-Autorinnen und Ko-Autoren illustrieren für die USA beispielsweise dramatische Chancenunterschiede, die sich für Menschen ergeben, die in der gleichen Stadt, jedoch in unterschiedlichen Nachbarschaften geboren werden. Migration erlaubt es, widrigen Umständen zu entfliehen, um die eigene Lebenssituation zu verbessern.

Porträtfoto von Professor Christian Dustmann.
Christian Dustmann ist Professor für Economics am University College London, Vereinigtes Königreich. Er ist Preisträger des Carl-Friedrich-von-Weizsäcker-Preis 2020. privat

F&L: Wie hat sich die Migrationsforschung entwickelt?

Christian Dustmann: Als ich vor dreißig Jahren anfing, mich mit diesem Thema zu beschäftigen, gab es nur sehr wenige Ökonominnen und Ökonomen, die zu Migration arbeiteten. Das hat sich besonders in den vergangenen 15 Jahren verändert. Teilweise hängt das sicherlich damit zusammen, dass Migration auch global wichtiger geworden ist und intensiver in der Öffentlichkeit diskutiert wird. Zentral für diese Entwicklung ist jedoch auch die bessere Qualität der Daten, zu denen Forschende heute Zugang haben – vor allem Daten administrativer Art. Denn die Analyse der Migration ist natürlich in erster Linie eine empirische: Migration und ihre vielen Facetten sind ein Phänomen, das nur durch extensive Datenanalyse bewertet werden kann. Migration berührt dabei nahezu alle Themenbereiche der Ökonomie, von der Arbeitsökonomie über die Familienökonomie zur Makroökonomie bis hin zur Außenhandelswirtschaft und der theoretischen Ökonomie und der Ökonometrie.

F&L: Hinter den Daten, die Sie ansprechen, stehen Menschen. Wer ist von Migration betroffen?

Christian Dustmann: Migration hat Effekte auf mindestens drei Gruppen von Menschen. Zunächst einmal auf die Migrantinnen und Migranten selbst: Die Entscheidung, den Geburtsort zu verlassen oder sogar in ein anderes Land auszuwandern, hat enorme Auswirkungen auf sie und ihre beruflichen Karrieren. Die zweite betroffene Gruppe sind die Menschen in der Herkunftsregion oder im Herkunftsland der Emigrierenden. Das sind oft zurückbleibende Familienmitglieder, etwa Eltern oder Kinder. Viele Migrationssituationen führen zu Familientrennungen – nehmen Sie als Beispiel die Migration aus den Philippinen, wo viele Eltern ihre Kinder bei den Großeltern lassen. Eine Auswirkung ist die Sorge, dass die Trennung von den Eltern negative Folgen für die Kinder hat. Andererseits können Geldüberweisungen der Eltern sowohl den Kindern als auch dem Rest der Familie Möglichkeiten verschaffen, die sonst unerreichbar wären, zum Beispiel der Schulbesuch der Kinder oder der Bau eines Hauses. Emigration spüren aber auch nicht unmittelbar Betroffene im Heimatland. Zum Beispiel kann die Auswanderung hochqualifizierter Fachkräfte negative Auswirkungen auf Zurückbleibende haben, beispielsweise durch die Abwanderung medizinischen Personals. Emigration kann aber auch einen Arbeitsmarkt entspannen, der von hoher Arbeitslosigkeit geprägt ist, und dadurch zu einer Entlastung der Sozialsysteme führen. Die dritte Gruppe, die von Migration betroffen ist, sind Menschen im Zielland. Auch hier können Auswirkungen positiv oder negativ sein. Es wird häufig befürchtet, dass Migration zu niedrigerem Lohnwachstum führt, die Evidenz hierfür ist allerdings sehr schwach. Dagegen kann Migration zu zusätzlichem Wirtschaftswachstum führen, wenn beispielsweise Migrantinnen und Migranten Arbeitskräfte stellen, die vom Arbeitsmarkt nachgefragt werden, aber von der heimischen Bevölkerung nicht angeboten werden können.

"Zu berücksichtigen ist jedoch, dass nicht zwangsläufig jeder durch Migration gewinnt: Obgleich in der Summe positiv, gibt es auch potenziell Verlierer der Migration."

Ökonominnen und Ökonomen sind sich einig, dass Migration immer zu Effizienzgewinnen führt – wenn Menschen dort arbeiten können, wo ihre Arbeit am höchsten entlohnt wird, kann das enorme positive Auswirkungen haben. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass nicht zwangsläufig jeder durch Migration gewinnt: Obgleich in der Summe positiv, gibt es auch potenziell Verlierer der Migration. Wer gewinnt und wer verliert, und wie man in diesen Verteilungsmechanismus eingreifen kann, ist ein wichtiges Thema der ökonomischen Forschung über Migration, das von hoher Relevanz für die Politik ist.

F&L: Migration fordert auch die betroffenen Staaten. Welche gesellschaftlichen Effekte hat sie?

Christian Dustmann: In diesem Kontext fokussiert sich das größte Forschungsinteresse auf die Auswirkungen der Migration auf das Zielland. Immigration stellt die Politik vor Herausforderungen, denn die Menschen, die einwandern, müssen in die Gesellschaft und den Arbeitsmarkt integriert werden. Integration geht in beide Richtungen: Sie beeinflusst die Zugewanderten, die häufig in einem anderen kulturellen Umfeld aufgewachsen sind. Sie verändert aber auch die Gesellschaft des Aufnahmelandes. Beispielsweise erzeugt die indischstämmige Bevölkerung in Großbritannien enorme Möglichkeiten in den Handelsbeziehungen mit Indien, da entsprechende Kontakte entweder bestehen oder einfacher entwickelt werden können. Migration hat enorme, teils sehr positive Einflüsse auf Kultur und Kunst – und natürlich nicht zuletzt auch auf die kulinarische Vielfalt. Für uns ist das heute alles selbstverständlich, ich kann mich aber noch sehr gut an meine erste Pizza in meiner kleinen Heimatstadt Anfang der 1970er-Jahre erinnern – in der ersten Pizzeria, die von neapolitanischen Immigranten betrieben wurde. Das war für mich ein enormes Erlebnis.

F&L: Sie haben die Herausforderungen für die Politik angesprochen. Natürlich denkt man sofort an die Flüchtlingskrise von 2015, als Politikerinnen und Politiker sich in einem komplexen Spannungsfeld von Flüchtenden, Zuwanderungsgegnern und -befürwortern wiederfanden. Können Sie diese Herausforderungen genauer beschreiben?

Christian Dustmann: Die Politik wandert immer auf einem schmalen Grat. Auf der einen Seite muss sie denen entsprechen, die in der Migration große Vorteile sehen, zum Beispiel die Wirtschaft, die händeringend nach Fachkräften sucht. Auf der anderen Seite muss sie die Sorgen der Menschen um ihren Arbeitsplatz und den Verlust der eigenen Identität berücksichtigen. Hinzu kommen Sorgen von Menschen, die eher von irrationalen Ängsten getrieben werden. Leider werden diese Ängste massiv von bestimmten politischen Interessensgruppen ausgenutzt, da sie einfach manipulierbar jedoch schwer widerlegbar sind. Populistische Bewegungen haben fast immer Migration als Kernpunkt ihrer politischen Agenda.

F&L: Sie sprachen gerade Ängste und Sorgen an. Welche Vorurteile gegenüber Migrantinnen und Migranten können Sie widerlegen?

Christian Dustmann: Lassen sie mich zunächst "Vorurteil" definieren. Auf Wikipedia findet man: "Ein Vorurteil ist ein Urteil, das einer Person, einer Gruppe, einem Sachverhalt oder einer Situation vor einer gründlichen und umfassenden Untersuchung, Abklärung und Abwägung zuteilwird." Ich denke, dies ist eine gute Definition, um die Rolle der Forschung aus meiner Sicht zu erklären. Ich sehe es als Aufgabe der Forschung an, gut recherchierte Fakten zu schaffen, also Information und Einblicke zur Verfügung zu stellen, die Vorurteile, die auf einem Mangel an Information beruhen, zu verhindern. Zum Beispiel die Frage zu beantworten, ob es wahr ist, dass Migration zu Lohnsenkungen für deutsche Arbeiterinnen und Arbeiter geführt hat. Oder, ob es richtig ist, dass Migrantinnen und Migranten häufiger Straftaten verüben als Einheimische. Oder, dass Zugewanderte mehr Sozialleistungen in Anspruch nehmen als Einheimische, und weniger Steuern bezahlen. Um Ihnen ein Beispiel zu nennen: Nachdem Großbritannien 2004 seinen Arbeitsmarkt für Arbeiterinnen und Arbeiter aus den osteuropäischen neuen Mitgliedsländern geöffnet hatte, sind viele Menschen aus Polen, Ungarn und anderen Ländern eingewandert – es fehlte im Vereinigten Königreich an Facharbeiterinnen und Facharbeitern, Krankenschwestern, Gastronomieangestellten und so weiter.

"Unsere Studien fanden große Beachtung in der öffentlichen Diskussion. Natürlich wurden unsere Ergebnisse von einem Teil der Politik, Öffentlichkeit und Presse stark angegriffen."

Obgleich diese Immigration Engpässe beseitigte – es gab endlich wieder Handwerker in London, die häufig besser ausgebildet waren als britische Handwerker – schürte dies in der Bevölkerung Ängste um Arbeitsplätze, das Lohnniveau, aber auch um Zugang zu öffentlichen Gütern der medizinischen Versorgung und anderen Sozialleistungen. Sehr schnell kursierten dann in der englischen Presse Geschichten, dass Zugewanderte – vor allem aus osteuropäischen Ländern – sehr viel mehr an Transferleistungen in Anspruch nahmen, als sie dem Staat durch Steuerzahlungen zurückzahlten. Wir haben innerhalb eines Forschungsprojektes Daten aufgearbeitet und analysiert und ganz klar zeigen können, dass das Gegenteil der Fall war: Zugewanderte – ganz besonders aus Europa – zahlten in den Jahren nach 2004 sehr viel mehr durch Steuerzahlungen an den britischen Fiskus als sie durch Transferleistungen erhalten hatten. Dies stand im starken Kontrast zur einheimischen Bevölkerung, die deutlich mehr Transferleistungen in Anspruch nahm als Immigranten. Unsere Studien fanden große Beachtung in der öffentlichen Diskussion. Natürlich wurden unsere Ergebnisse von einem Teil der Politik, Öffentlichkeit und Presse stark angegriffen und häufig einfach als falsch hingestellt. Allerdings wurden die Studien in angesehenen Fachjournalen publiziert und waren transparent. Es gelang den Zweiflern nicht, zu anderen nachvollziehbaren Ergebnissen zu kommen.

F&L: Haben Sie durch Ihre Studien Vorurteile abbauen können?

Christian Dustmann: Wohl kaum – Vorurteile verändern sich nur sehr langsam. Aber wir haben Informationen zur Verfügung gestellt, die es Menschen ermöglichen, ihre Ansichten und Meinungen auf einer breiteren Informationsbasis zu bilden. Ich halte dies für eine Grundaufgabe der empirischen ökonomischen Forschung. Wenn also auf einer politischen Veranstaltung behauptet wurde, das EU-Migranten mehr Transferleistungen in Anspruch nahmen, als sie durch Steuern zurückzahlten, dann wurde häufig als Erwiderung unsere Studie zitiert, und es fiel dann sehr schwer solche Behauptungen aufrechtzuerhalten.