Schultafel mit Apfel und Schwamm
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Lebenslanges Lernen
Gedanken über ein komplexes anthropologisches Problem

Lebenslanges Lernen ist ein häufiges Schlagwort der Bildungsdebatte. Wie ist dieses Konzept entstanden? Was macht das menschliche Lernen aus?

Von Andreas Dörpinghaus Ausgabe 8/17

Das Lebenslange Lernen hat bis heute eine kaum zu übertreffende Plausibilität. Wer wollte behaupten, man könne aufhören zu lernen oder lerne irgendwann einmal nicht mehr. Vielmehr wird zunehmend deutlich, dass das Lernen eine menschliche Fähigkeit ist, die uns in der Regel erhalten bleibt, die offensichtlich zu unserem Menschsein gehört und sich nicht mit dem Älterwerden verabschiedet, wohl aber verändert. Aber was das Lernen selbst eigentlich ist, von dem immerhin in solchen Zusammenhängen selbstexplikativ die Rede ist, was es für uns bedeutet zu lernen, ja, was es heißt, ein Leben lang lernen zu sollen, also stets quasi Bereitschaftsdienst zu haben, solche und weitere Fragen treten oft eher in den Hintergrund, wenn sie sich überhaupt stellen.

Ich möchte zunächst dafür werben, die Rede vom Lebenslangen Lernen zu schonen, sie ruhen zu lassen und stattdessen zu fragen, was es mit dem Lernen auf sich haben könnte, das alle unsere Beziehungen, also unsere Selbst-, Sozial- und Weltverhältnisse derart fundamental berührt. Vieles, was wichtig ist, lernen wir nicht eigentlich, und lernen es dennoch. Im Grunde wissen wir bis heute nicht, was genau geschieht, wenn wir lernen. Neurophysiologische Beschreibungen erfassen nicht das Lernen, sondern physiologische Effekte. Wir lernen stets durch Erfahrungen, die wir machen, in denen jedes Lernen als Prozess des Verstehens seinen Ausgang nimmt. Am Ende ist ein reflexives Lernen Bestandteil einer Persönlichkeit, die ihre Freiheit in der Gestaltung der Wirklichkeit durch den Möglichkeitssinn und darin auch im Nein-Sagen-Können findet. Das Lernen selbst ist in dieser Anbindung nicht beobachtbar, es bleibt Gegenstand der reflexiven Forschung als ein Geschehen, das Sinn und Bedeutung generiert, das Horizonte gestaltet, Möglichkeiten schafft. Wir müssen in der Wissenschaft, an Schulen und Universitäten wieder begreifen, dass es Dinge gibt, denen man nur durch Nachdenken beikommen kann. Das Lernen gehört dazu.

    »Wir müssen wieder begreifen, dass es Dinge gibt,
    denen man nur durch Nachdenken beikommen kann.«

Das Lernen des Lebens­langen Lernens

Das Lebenslange Lernen ist, so der Einsatz, ein eigenartiges Lernen. Mit anderen Worten: Das Lebenslange Lernen ist ein ganz bestimmtes Lernen, also eben nicht nur ein Lernen, und das ein Leben lang, sondern streng genommen eine eigene Vorstellung dessen, was es leisten soll. Um diesen Gedanken zu verstehen, ist es wichtig zu sehen, wie das Lebenslange Lernen als Konzeption überhaupt entstand. Seine Ausrichtung erhält das Lebenslange Lernen in den späten 1960/1970er Jahren und war mit der Sorge verbunden, das europäische Wirtschaftssystem sei nicht leistungsfähig genug. Der Deutsche Bildungsrat empfahl schließlich, das Lebenslange Lernen als eine Bereitschaft des Lernens bereits in der frühen Kindheit einzuüben und im Erwachsenenalter fortzuführen. Damit wurde zugleich die Erwachsenenbildung/Weiterbildung als quartärer Bildungssektor ausgebaut. Diese Empfehlung war vordergründig der scheinbaren Notwendigkeit geschuldet, dass Menschen in modernen Gesellschaften die Disposition erwerben müssen, sich stets neuen Verhältnissen, Situationen oder auch Anforderungen unmittelbar anzupassen. Der flexible, biegsame Mensch, das Bedürfnissubjekt, das zugleich Unternehmer seiner selbst sein sollte, war also beim Lebenslangen Lernen stets mitgedacht.

Historisch betrachtet entstand die Dynamik dieses Wandels, die moderne Gesellschaften bis heute prägen sollte, bereits im 19. Jahrhundert. Viele Dinge blieben zunehmend nicht mehr, wie vordem, über Jahrhunderte konstant, alles schien sich beständig zu verändern, Verlässlichkeiten schrumpften, das Leben geriet unter Zeitdruck. Dass dieser Prozess selbst nicht unabhängig von der Subjektivation des Bedürfnissubjektes – und seiner Marktfähigkeit – seit dem 19. Jahrhundert gedacht werden kann, steht auf einem anderen Blatt. Mit diesen beschleunigten Zeiten entsteht bis heute der Eindruck, als ändere sich alles permanent und vor allem zu schnell. Die Zeit wird seit dem 19. Jahrhundert zum Akteur – so auch im Lebenslangen Lernen –, weniger die Menschen, die sie erfahren. Das Lebenslange Lernen wurde dabei zum einen ein Effekt dieser Beschleunigungserfahrung des Wandels, aber eben zum anderen – und das ist viel bedeutender – zugleich ihr Motor. Die beständige Angst, „abgehängt“ zu werden, zu veralten, nicht „marktkonform“ zu sein, ist konstitutiver Bestandteil, gehört zum Lebenslangen Lernen schlichtweg dazu.

Ab dem 19. Jahrhundert öffnet sich die Fiktion der Zukunft zu Lasten der Faktizität der Gegenwart und erzeugt gerade in ihrer Ungewissheit eine tiefe Unsicherheit. Diese Unsicherheit wird in der Folge eine der wichtigsten Steuerungsgrößen von Gesellschaftsformationen im Bildungssektor. Das Lebenslange Lernen erschien als Versicherung gegen diese Unsicherheit. Daher nimmt es nicht wunder, dass es zur geheimen Formensprache und Programmierlogik der Bildungseinrichtungen – vor allem Schulen und Universitäten – spätestens seit den 1970er Jahren wurde und sich schließlich in die Modellierungen (Pisareform, Bolognareform) einschrieb. Zugleich korrelieren diese Vorstellungen mit einer nahezu schicksalhaften Eigenverantwortung des Einzelnen, bei gleichzeitig prinzipiell unterstellter Gleichheit aller. Die erwünschte Employability als generelles sowie unspezifisches Ziel des Bildungssystems führt, wenn sie in einem Nahverhältnis konkret auf Studiengänge, Lehrpläne oder auch auf den Einzelnen bezogen wird, zu einem Primat der bloßen Verwertung des Lernens.

Fragen wir im Anschluss der genealogischen Vergewisserung nach den maßgeblichen systematischen Gesichtspunkten eines Lebenslangen Lernens. Nun, der Sinn des Lebenslangen Lernens – ganz im Sinne geforderter Flexibilität – ist eine Anpassungsleistung. Aus dem Tierreich wissen wir, dass solche Anpassungsleistungen überlebenswichtig sind und in der Regel von der Natur gelenkt werden. In menschlichen Welten hingegen müssen wir solche Neujustierungen oft aufmerksam selbst vornehmen. Wir können dieses Anpassungslernen auch als ein reaktives (Reiz-Reaktions-) Lernen beschreiben, insofern es auf die Anforderungen und Problemkonstellationen, seien es gesellschaftliche, berufliche oder soziale, lediglich reagiert. Dass das Lernen in der Konzeption des derzeitigen Bildungssystems auf dieses Moment reduziert wird, ist kein Zeichen von vertrauenserweckender Komplexität, gleichwohl es genau darin Anziehungskraft entfaltet. Das gegenwärtige Bildungssystem konditioniert den Menschen als flexibles Bedürfnissubjekt, das nur noch zu wollen hat: Employability.

    »Das Navigationssystem unseres Bildungssystems
    kennt nur noch Zwischenziele.«

Mit der Vorstellung des Menschen als Lebenslang Lernendem ist zugleich die Gefahr verbunden, dass der Eindruck entstehen soll, dass wir nie mit etwas fertig werden. Ein additives, lineares, modularisiertes Lernmodell. Wir leben derzeit in einer Kontrollgesellschaft, die die Disziplinargesellschaft des 18. und 19. Jahrhunderts durch eine Reihe von Steuerungsmechanismen transformiert hat. Gilles Deleuze hat zu Recht darauf hingewiesen, dass der eingeübte Habitus des Nichtfertigwerdenden im Lebenslangen Lernen die Legitimation seiner permanenten prozessbegleitenden Kontrolle ist. Die Prüfungen werden auf Dauer gestellt. Und wer kein Ziel hat, außer reaktiver Flexibilität, haftet gefügig an den Dogmen der Anforderungen. Wir lernen so aber am wenigsten, Verantwortung zu übernehmen und einer ewigen, auch unmündigen Schülerschaft zu entfliehen. Erwarten wir nicht von Erwachsenen, dass es die sind, die mit irgendetwas fertig geworden sind und dann darin selbst Orientierung geben sollen? Das Navigationssystem unseres Bildungssystems kennt nur noch Zwischenziele. Wir werden geführt, indem der weite Blick in die Zukunft die Gegenwart verbirgt und mit ihr diejenigen Dinge, die wir entscheiden sollten. Ziele – auch pädagogische – wurzeln in der Gegenwart, nicht in der Zukunft.

Die Lebenszyklen von Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter – eine einstmalige pädagogische Errungenschaft zum Schutz von Kindheit und Jugend – werden nivelliert zugunsten einer dauerhaften Schülerschaft, die die Mündigkeit einer politischen Aufklärung aufs Spiel setzt. Das lebenslange Lernen denkt insgeheim eine defizitorientierte Lernvorstellung mit. Also es gibt ein Defizit, und das Lernen behebt dieses Defizit. Mit anderen Worten: Der Mensch ist ein Mängelwesen, das sich lernend anpasst und die Mängel zu kompensieren sucht. Eine neue Erbsünde. Wichtig ist in diesem Kontext, dass Prozesse der Normalisierung mit Defizitzuschreibung arbeiten und so normativ wirken.

Ist es aber nicht viel wichtiger, das Lernen des Menschen in einem Bildungssystem von seinen Ressourcen, ja, von seinen Möglichkeiten und Gestaltungen her zu denken? Menschliches Lernen ist doch im Kern gerade keine Anpassung oder bloße Verhaltensänderung, sondern eine Gestaltung der Wirklichkeit in ihren Bezügen. Das Lebenslange Lernen erweckt den Eindruck, als sammelten wir Kompetenzen wie Briefmarken. Eine Addition von Gelerntem, eine Modularisierung unseres Lernens, von dem zu Recht behauptet werden kann, dass es ein wichtiger Teil unserer Existenz ist. Und lernen wir nicht immer etwas? Die so wichtige Frage nach den Inhalten des Lernens geht in einer Defizitorientierung verloren. Daher wird dann auch nur noch das Lernen gelernt und nicht etwas. Wir lernen nur noch das Lernen, und dann lernen wir das Lernen zu lernen, und dann lernen wir zu lernen, wie wir das Lernen lernen usw. Ist denn nicht das kluge Handeln die Basis des Gebrauchs der vielen Kompetenzen, die wir einüben, ist nicht die reflexive Aneignung und die Anwendung des Wissens das Entscheidende?

Ich glaube, dass es wichtig ist, eine bildungspolitische Konzeption als Steuerungsmechanismus moderner Gesellschaften von der tatsächlichen Praxis des Lernens zu unterscheiden. Mir scheint dieser kritische Punkt deswegen so wichtig, weil die allzu große Selbstverständlichkeit der Rede vom Lebenslangen Lernen in der Tat Momente verdeckt, die von grundlegender Bedeutung sind und gerade nichts damit zu tun haben, dass wir ein Leben lang lernen. Vielmehr verführt die Rede vom Lebenslangen Lernen dazu, das Lernen selbst als eigentliches Problem an Schulen und Universitäten aus dem Blick zu verlieren und es zum Zwang zu generieren, als müsse es verordnet werden. Verhindert wird so eine reiche Kultur des Lernens, die weder von der Logik der sich anpassenden Beiläufigkeit des Lernens ausgeht noch das Lernen lediglich reduziert auf fehlende Motivation oder Unwillen der Beteiligten, als sei der Mensch per se lernfaul – das mitnichten. Eine Kultur des Lernens muss vielmehr einen bedeutenden Beitrag darin sehen, Räume und Zeiten des Lernens von anderen Tätigkeiten des Menschen mit ganz eigenen Möglichkeiten und Chancen zu unterscheiden. Es verschwindet in der Rede vom Lebenslangen Lernen eine bedeutende Kultur des Lernens, die früher als Bildung bezeichnet wurde.

    »Lernen gibt es nur im Plural und in der Vielfalt.«

Bildendes Lernen – Vom Verlernen

Fragen wir nunmehr danach, was das menschliche Lernen ist und ausmacht, sollten wir nicht vorschnell nach einer Bestimmung suchen, die ein bestimmtes Verständnis des Lernens ein für alle Mal kategorisch festlegt. Es wird in unserer Lebenspraxis nicht das eine Lernen geben können. Lernen gibt es nur im Plural und in der Vielfalt, denn was unter Lernen zu verstehen ist, hängt davon ab, was und wie gelernt wird und von wem. Dennoch könnte es wichtig sein, übergreifende Momente und Strukturen zu verdeutlichen, quasi eine Art Grammatik des Lernens, die als Spezifika und Bedingungen einer Kultur des Lernens Sinn und Maß geben. Ein Bildungssystem ohne eine reflexive Kultur des Lernens verdiente auch den Namen nicht. Das menschliche Lernen ist – anders als ein Anpassungslernen oder eine schlichte Verhaltensänderung – eine Praxis als Performanz menschlicher Lebensführung.

Mit dieser Bestimmung sind systematisch zwei Ausschlüsse verbunden. Sie ist, erstens, kein bloßes Wissen, denn lediglich das Wissen reichte nicht aus, um etwas Gelerntes auch ausüben oder anwenden zu können. Man lernt vielmehr, indem man etwas tut. Die Praxis des Lernens ist, zweitens, nichts, was man einfach herstellen kann, wie ein Handwerker seine Produkte herstellt, so als könne man das Lernen Anderer oder das Eigene herstellen. Gelegentlich grassieren bedauerlicherweise derartige Lernvisionen. Die menschliche Praxis des Lernens zeichnet sich vielmehr dadurch aus, dass sie ein weitgehend freiheitliches Tun, eine freiheitliche Aneignung innerhalb einer menschlichen Welt des Sinns und der Möglichkeiten in den Blick nimmt. Ein nicht reaktives Lernen kann nicht hergestellt werden, daher können wir uns im Lernprozess verirren und im Lernen auch scheitern oder gar verzweifeln. Lernen ist so betrachtet weder die Anpassung noch die unreflektierte Übernahme von Überzeugungen, Normen oder Wissensbeständen, vielmehr die reflexive Auseinandersetzung mit solcherlei Inhalten oder Gegenständen.

Fragen wir nun im Anschluss nach einer Beschreibung des Lernens: Das Lernen ist eine menschliche Praxis, in deren Vollzug wir nachhaltig Möglichkeiten für uns gewinnen. Lernen ist Aneignung von Möglichkeiten. Diese Möglichkeiten sind immer auch Gestaltungen unserer konkreten Wirklichkeit, unseres sozialen Miteinanders und des Bildes, das wir von uns haben. Das heißt aber auch – anders als bei einer Anpassungslogik –, dass sich unsere Wirklichkeit durch das Lernen verändert. Wir lernen, indem wir die Dinge anders sehen. Das ist der Unterschied zum reaktiven Lernen, das selbst das, worauf es reagiert, nicht zu ändern vermag.

Dieses spezifisch menschliche Lernen, das ich gerne als bildendes Lernen fassen möchte, erschließt neue Möglichkeiten für den Lernenden. Damit gehört es zu den wichtigsten Erfahrungen, die wir Menschen überhaupt machen. Und zwar zweifach: Zum einen ist der Lernprozess selbst als Tun und Tätigkeit eine konkrete Erfahrung. Vor allem aber machen wir die Erfahrung mit unserer Bildsamkeit. Es ist die Erfahrung, dass wir uns Möglichkeiten aneignen können, die wir vorher nicht hatten. Nur so leben wir nicht nur in einer faktischen Welt der Notwendigkeiten, sondern machen die Erfahrung unserer zwar beschränkten, aber tätigen Freiheit als Praxis, diese Wirklichkeit zu gestalten, ja, die Möglichkeiten selbst zum Bestandteil unserer Wirklichkeit werden zu lassen. Unsere Wirklichkeit ist immer auch die Welt unserer Möglichkeiten. Was sind aber nunmehr die Prozessbedingungen einer solchen Kultur des Lernens? Ich möchte als Antwort auf diese außerordentlich komplexe Frage die zentralen Merkmale ausführen.

Lernen ist immer eine Anwendung des Gelernten auf unseren gesamten Lebenshorizont in seiner Ganzheit. Es ist dann ein Verstehen, und zwar ein Sich-Verstehen auf etwas, nämlich auf das Gelernte. Das, was man gelernt hat, darauf versteht man sich. Gerade in komplexen Handlungskontexten ist es unerlässlich, dass man sich auf etwas hin versteht. Was immer geschieht, wenn wir lernen (und damit ist mehr gemeint als die Feststellung, dass unser Gehirn nicht untätig ist), etwas, was wir vorher nicht konnten, wird gekonnt, indem es reflexiv in Teile gefasst wird, die in ihrer Summe ein neues Ganzes ergeben, das nicht bereits in den Entitäten der Teile vorhanden war. Anders ausgedrückt: Lernen erzeugt etwas Neues, das aber durch ein reflexives Spiel zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit entsteht, es ist eine Dynamik, die selbst nach einer Möglichkeit, z.B. durch Neugier oder Interesse, drängt. Vielleicht lässt sich in Anlehnung an Foucault sagen, dass Lernen darin ein Begehren ist.

Doch Lernen bleibt in diesem Verstehen an ein Vorheriges gebunden. Es wird nicht einfach etwas Neues gelernt, hinzuaddiert, sondern ein Vorheriges wird verlernt oder umgelernt. Daher ist es auch interessant, dass Lernen seinen Anfang gerade in der Verzögerung eines selbstverständlichen Fortgangs von einer Gegenwart in die nächste unterbricht, wie Maurice Merleau-Ponty es einmal formulierte. Der Anfang liegt in einer sogenannten Negativität. Das Lernen als Form des Sich-auf-etwas-Verstehens hat darin stets einen negativen Charakter, weil ein Bedeutungshorizont scheitert. Mit anderen Worten: Das unbestimmte Mögliche, um das es im Lernen geht, ist in der und wird in der Negation wirklich, gestaltet so die Wirklichkeit des Lernens.

Ich hatte unterstrichen, dass menschliches Lernen keine bloße Anpassung sei. Wir reagieren in der Tat im Lernen nicht einfach auf etwas, sondern unser Lernen antwortet auf Situationen. Reagieren und Antworten sind sehr unterschiedliche Dinge. Wenn ich antworte, muss ich die Frage verstehen, auf die mein Lernen antwortet. Aber die Antwort gestaltet eben auch um, weil sie die Frage im Lichte der Antwort versteht. Lernen heißt dann auch, die Frage zu verstehen, auf die mein Lernen eine Antwort ist. Genauer: Der Prozess des Lernens ist genau dieses Sich-auf-etwas-Verstehen. Daher ist Lernen letztlich auch immer mit einem Sich-Fremdwerden verbunden. Wir lernen um, wir verlernen ja etwas, an dessen Stelle Neues entsteht, neue Möglichkeiten, neue Wirklichkeiten. Dafür müssen wir Altes, Selbstverständliches und auch manchmal Liebegewonnenes verlassen, um dem Neuen Raum zu geben.

    »Das Fremdwerden ist der Humus der Neugier, des Interesses,
    ohne die das ­Lernen nicht bewegt wird.«

Dieses Fremdwerden ist der Humus der Neugier, des Interesses, ohne die das Lernen nicht bewegt wird. Die Neugier und das Interesse am Lernen gehören zu den wichtigsten Dispositionen des Menschen. Nur durch das Lernen selbst bleiben sie uns erhalten. Das heißt aber auch, dass wir uns fragen müssen, wie Lernen beschaffen sein muss, damit Interesse und Neugier entstehen und wachbleiben kann. Nun, Neugier und Interesse entzünden sich an den Dingen, an Inhalten oder Fragestellungen. Sie sind die Leidenschaften und die Lust des Lernens und gehören unabdingbar zu einer Kultur des Lernens. Wir lernen immer etwas, daher ist das Lernen stets auf den Erwerb vielfältiger Modi des Wissens bezogen, das sich als Wissen gar nicht nur in der Verwertbarkeit erschöpfen kann und konstitutiver Teil von Kultur und Gesellschaft ist.

Lernen und Persönlichkeit

Das bildende Lernen ist eine Praxis, die Möglichkeiten aneignet und verwirklicht. Voraussetzung dieser Aneignung ist eine dreifache Lernrelation, die das Feld des Lernens bestimmt. Es gibt also nicht das Lernen an sich, sondern Praxen des Lernens, die sich situativ im Feld der Relationen gestalten. Wenn man den Menschen von seinen Möglichkeiten und nicht von seinen Defiziten her denken will, braucht man schlichtweg eine andere Vorstellung vom Lernen, die spezifisch für den Menschen ist; man muss ihn aus seiner Fähigkeit heraus verstehen, in der Praxis des Lernens Möglichkeiten zu schaffen und so Wirklichkeit zu gestalten. Dieses spezifisch menschliche Lernen ist ein bildendes Lernen, da sich diese Lernprozesse in ihrer verstehenden Reflexivität nicht von der nachhaltigen Implementierung in die Armaturen unserer Persönlichkeit, unseres Wahrnehmens, Handelns und der Gestaltung unserer Sinnhorizonte lösen können. Ferner ist dieses Lernen – ganz im Sinne des Bildungsprozesses Wilhelm von Humboldts – die Verwirklichung der Möglichkeiten des Menschen, der sich auf sein Tun hin versteht.

Ein bildendes Lernen lässt die Lernprozesse nicht außen vor, sondern macht sie zum konstitutiven Bestandteil der eigenen Persönlichkeit. Was immer auch die Persönlichkeit letztlich sein mag, so verwenden wir diesen Ausdruck zumeist, um zu betonen, dass Menschen in der Lage sind, eine Haltung zu zeigen oder Verhältnisse einzugehen, die wir als reflexiv beschreiben können und aufgrund derer mitunter überlegte Urteile gefällt werden. Es könnte doch in der Tat gute Gründe dafür geben, von Bildungseinrichtungen, wie z.B. Schule oder Universität, zu erwarten, auf dem beschwerlichen und anspruchsvollen Weg, auf dem junge Menschen eine Persönlichkeit werden sollen, also zunehmend gefordert sind, Stellung zu beziehen, selbst zu denken und eigene Urteile zu begründen, hilfreich zur Seite zu stehen.

Die Begriffe der Persönlichkeit und der Persönlichkeitsbildung haben ihre Funktion darin, den Normen des Faktischen oder auch dem Druck der Verhältnisse etwas Widerständiges entgegen setzen zu können. Mit anderen Worten: Wir verbinden also gerade mit dem Begriff der Persönlichkeit keine psychischen, individuellen Dispositionen, sondern die Fähigkeit des Menschen, eine Welt der Bedeutung und des Sinns mit zu gestalten und Sich-auf-sich-zu- verstehen. Es ist die Persönlichkeit, folgen wir Immanuel Kant für einen Augenblick, die unsere Freiheit verbürgt, die in der Lage ist, Schicksalhaftes in Willensakte zu transformieren, und Nein-Sagen zu können gegenüber dem Druck der Verhältnisse und den Erwartungen des Affirmativen. Das Lernen kann also nicht von der Bildung der Persönlichkeit getrennt werden. Wir lernen eben nicht nur etwas, sondern wir lernen immer auch etwas über uns als Lernende. Das heißt, das Lernen ist immer reflexiv auf die Persönlichkeit und ein Sich-Verstehen gewendet.

Seit der Antike ist die Frage, wie wir Menschen glücklich werden können, eine Frage, die uns Menschen beschäftigt. Die Antwort: Es gibt unter den vielen Erfahrungen, die wir machen, eben auch solche, die nicht folgenlos für uns bleiben. Das heißt, sie verändern im Prozeß der Bildung unsere Verhältnisse derart grundlegend, dass die Wirklichkeiten, in denen wir leben, andere werden. Wir werden glücklich durch Bildung und Lernen, durch Arbeit an uns. Ziel war in der Antike vor allem die Arete, die Tugend. Damit war nichts anderes gemeint, als dass wir unser Glück finden, wenn wir unsere Möglichkeiten lernend verwirklichen, wenn wir lernen, kluge Entscheidungen zu treffen, uns eben auf unser Handeln gut verstehen. Jedes bildende Lernen kennt die Lust am Lernen, die Freude, wenn wir etwas verstanden haben und Dinge gestaltend umsetzen können. Kurzum: Wenn wir neue Möglichkeiten entdecken und Freude daran haben, diese Möglichkeiten zu Spielräumen unseres Tuns werden zu lassen.

So betrachtet ist das Lernen ein Lebenssinn, nämlich uns in unseren Möglichkeiten zu fördern und in dem Tun zu verwirklichen. Die Persönlichkeitsbildung sowie das bildende Lernen sind die wichtigste gesellschaftliche Ressource und weit mehr als Ausgleich von Defiziten. Die Persönlichkeit verbürgt, dass Menschen Nein-Sagen können als eines Aktes, in dem die Freiheit, nicht dermaßen regiert zu werden (M. Foucault), auf sich selbst insistiert. Schulen und Universitäten brauchen keine Bildung zur Anpassung und zum affirmativem Ja-Sagen, sie benötigen keine Leistungsingenieure (R. Musil), die das menschliche Lernen mit der Kumulation von Lern-Wissen verwechseln und das Verstehen als Kulturluxus begreifen. Vielmehr sollten sie – selbst in der Verwertungslogik – Persönlichkeiten fördern, die lernen, Nein-Sagen zu können, selbstständig Sachverhalte oder Problemstellungen zu durch-denken, sich in Nachdenklichkeit verlieren, um sich in einem Sich-auf-sich-und-etwas-zu-verstehen finden, die Praxis als reflexive actio per distans begreifen. Wir dürfen denen, die das Neue in unsere alte Welt mitbringen, nicht das Neue aus der Hand schlagen, so eine wichtige Forderung Hannah Arendts. Das wäre das Ende von Schule und Wissenschaft. Große, aber auch kleine Ideen, werden nicht von Ja-Sagern erfunden.

Eine ausführliche Fassung des leicht gekürzten Textes kann bei der Redaktion von Forschung & Lehre angefordert werden.