Das Foto zeigt eine lesende Frau auf einem Sofa im Wohnzimmer
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Lesekultur
Gibt es keine Idylle mehr?

Die extrem beschleunigte Gegenwart lässt nach Ansicht von Medienwissenschaftlern keine Möglichkeit mehr zum Innehalten. Eine Gegenrede.

Von Felix Grigat 25.02.2018

Im digitalen Zeitalter gibt es keine Idylle mehr. Nirgendwo findet man einen Raum emotionaler oder informationaler Isolation. Davon ist der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen überzeugt. Man könne nicht mehr aussteigen, es gebe keine Möglichkeit, diesem "permanent pulsierenden elektrischen Bewusstseinsstrom der Menschheit" zu entkommen.

Ganz gleich, wo wir seien, versuchen Sie es mal, fordert er in einem Interview über sein aktuelles Buch "Die große Gereiztheit" auf. "Gehen Sie auf eine Party, schalten Sie Ihr eigenes Handy ab, und Sie sehen Menschen, die beieinanderstehen und auf einmal anfangen, darüber zu reden, was jetzt gerade in Florida passiert. Sie fahren dann zum Bahnhof und Sie sehen auf den Bildschirmen die Breaking News Nachrichten, was ist gerade in Florida passiert. Sie steigen in die U-Bahn und Sie haben die entsprechenden Schlagzeilen oder die aufgeregten Gespräche".

"Der Zauberberg existiert nicht mehr"

In einer Zeit der intensiven Vernetzung, der indiskreten Medien, die uns alle jederzeit zur Verfügung stünden, würden wir "geflutet" von einer Stimmung der Unruhe, der Nervosität, der allgemeinen Mobilmachung. Alles in einer Erreichbarkeit und Unmittelbarkeit, der wir kaum entfliehen könnten. Das vielbeschworene "globale Dorf" sei ein "total gereiztes Dorf". Das Aussteigen, das Sich-Zurückziehen in eine Art Digital Detox-Seminar sei illusionär. Der "Zauberberg" existiere nicht mehr. Unter Anspielung auf ein Kapitel des Buches von Thomas Mann behauptet Pörksen, es gebe nur noch "Die große Gereiztheit".

Leseretreats als "Wellness mit Büchern"?

Man könnte Pörksen entgegnen, dass es die Idylle ja nie gegeben habe. Aber das wäre zu einfach. Heute eher degeneriert zu einem Schlagwort von Urlaubs- oder Immobilienprospekten, hatte sie literaturgeschichtlich immer auch einen utopischen Aspekt. Es ging durchaus um mehr als um Regression oder ein bloß beschauliches Glück auf dem Land.

Je mehr die Menschen heute der von Pörksen diagnostizierten Gereiztheit ausgesetzt sind, je mehr wächst die Zahl der Ausstiegsangebote für kurze Zeit.  So gibt es in Großbritannien zum Beispiel "Leseretreats", eine Art Wellnessurlaub mit Büchern um des Lesens willen. Diese könnten gar der nächste größere Trend werden – zumindest nach der Überzeugung einer BBC-Autorin.  Die Retreats wollen für eine kurze Zeit das anbieten, was Pörksen als illusionär bezeichnet: Menschen für eine Zeit davon abzubringen, nur 20 Minuten im Zug auf der Fahrt von der Arbeit nach Hause, also nur zwischendurch und neben wiederholten Blicken auf ihr Smartphone, zu lesen. Sie sollen sich einmal ganz auf das ausführliche Lesen und das Vergnügen daran konzentrieren können. Und ja: Es geht auch darum, die Abhängigkeit und das ständige Starren auf Smartphones für kurze Zeit zu begrenzen. Doch werden Tablets oder Smartphones nicht per Dekret aus dem Leseretreat verbannt. Allerdings bieten die Veranstalter an, diese bei der Ankunft zu übernehmen, um eine Art digitales Detox zu fördern. Eine Illusion? Die vergebliche Suche nach einer Idylle? Würde man Pörksens Diagnose komplett folgen, so wären weder Bildung noch Lesen im emphatischen Sinne möglich und die Teilnehmer solcher Retreats sollten ihr Geld sinnvoller anlegen. Doch ist das wirklich so?

Der Beginn des "extensiven Lesens" im 18. Jahrhundert

Die Gereiztheit, die Pörksen beschreibt, hat bereits im 18. Jahrhundert begonnen. Das zeigt das Beispiel des Leseverhaltens. Bis etwa 1750 haben die Menschen noch "intensiv" gelesen. "Sie besaßen nur wenige Bücher – die Bibel, einen Kalender, ein, zwei Andachtsbücher –, und die lasen sie wieder und wieder, zumeist laut und zu mehreren, so dass sich ihnen ein schmaler Ausschnitt aus dem überkommenen Spektrum tief ins Bewusstsein prägte", schrieb der amerikanische Essayist Sven Birkerts. Spätestens seit 1800 habe dann das "extensive" Lesen begonnen. Die Menschen konsumierten Lesestoff aller Art, besonders Periodika und Zeitungen, und sie lasen alles nur einmal und hasteten dann weiter zur nächsten Sache.

Vielleicht all das noch nicht ganz in dem Ausmaß, wie es heute durch den Smartphone-Gebrauch geschieht. Doch das Ergebnis ist vergleichbar: Durch die "Verdrängung der Vertikalität durch die Horizontalität", durch das Problem des Übermaßes an Texten, tendierte der Leser mehr und mehr zur Oberflächlichkeit, konstatiert Birkerts. Solches Lesen bleibe seicht, aber es erfasse "einen riesigen Gegenstandsbereich". Die Quantität triumphiere über die Qualität. Daraus folge, dass wir über unendlich mehr verstreute "Informationsbits" verfügten als die früheren – aber ein Bezugsrahmen dafür fehle. "Wir erleben in unseren Tagen ein Schwinden der Tiefe, genau genommen sogar des Paradigmas der Tiefe", sagt Birkerts.

Das "vertikale Bewusstsein"

Der Sinn für den tiefen natürlichen Zusammenhang der Dinge sei eine Funktion des "vertikalen Bewußtseins". Dieses hieß einmal Weisheit: das Wissen nicht von Fakten, sondern von Wahrheiten über die Natur des Menschen und den Gang des Lebens. Heute  neigten wir sogar zur Verlegenheit angesichts ehemals bedeutungsschwerer Begriffe wie 'Wahrheit', 'Sinn', 'Seele'. Menschen, die solche Wörter noch in den Mund nähmen, verdächtigten wir gar eines "sentimentalen Nostalgikertums". Wo die Zeit in Warenform gebracht, zu einer messbaren Größe unter anderen gemacht würde, bestehe keine Aussicht, dass irgendeine Information ihre potenzielle Bedeutsamkeit offenbaren könne. Wir seien dabei die "Tiefenzeit" zu vernichten. "Wo elektrische Impulse regieren und die Psyche dazu abgerichtet wird, mit Daten zu arbeiten, ist keine Erfahrung von Tiefenzeit möglich. Ohne Tiefenzeit keine Resonanz, und ohne Resonanz keine Weisheit." Also eine vergleichbare Analyse wie die von Pörksen.

Doch sieht Birkerts Auswege: Die vertikale Orientierung könne da stattfinden, wo Schweigen möglich sei. Dies gebe es nur noch in Kirchen – für Menschen, die der Andacht fähig seien – und im Sprechzimmer der Psychotherapeuten. Aber auch die ernsthafte Lektüre, ausdauerndes Lesen führe zu einer "zweiten Existenz auf einer tieferen Seinsebene". "In ihm haben wir das Mittel, uns vom Zug der Zeit abzusetzen."  Mit ihm könnten wir der Tendenz zur Oberflächlichkeit widerstehen und in die Tiefe graben. Das Schöne an der vertikalen Orientierung sei, dass sie sich nicht rechtfertigen und begründen müsse. Sie sei sich selbst genug. Eine Erfüllung. Wie Birkert es so schön beschreibt, bringen wir das Ich "in eine andere Position, um anders sehen zu können." Wie bei einer Meditation ist es ein "langsames Eintauchen und Sichversenken".

"Ein Zauber, der löst und bindet"

Das Lesen, wenn es so glücke, führt zu einer Zeitveränderung: "Die Zeit des Lesens, die Zeit, die durch die Resonanz der Sprache des Buchautors im Ich definiert ist, ist nicht Weltzeit, sondern Seelenzeit." Das Lesen sammelt den Leser aus der Zerstreuung. Das intensive Lesen ist kein bloßes Wiederholen des Vergangenen, sondern verwandelt es in lebendige Gegenwart. Hans Georg Gadamer hat mit scharfem Gespür das Wunder, das hier geschieht, formuliert: "die Fähigkeit des Lesens ...(ist) wie eine geheime Kunst, ja wie ein Zauber, der uns löst und bindet. In ihm scheint Raum und Zeit aufgehoben. Wer schriftlich Überliefertes zu Lesen weiß, bezeugt und vollbringt die reine Gegenwart der Vergangenheit."

So ist für die, die sich heute noch in große Literatur versenken können, doch noch ein Zauber möglich und nicht alles verloren. Ob man es Idylle oder einfach nur die Suche nach und das Finden von Humanität für Augenblicke nennen mag, kann jeder für sich entscheiden.