junge Frau sitzt mit angezogenen Beinen vor einem Fenster und schaut zur Seite
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Psychologie der Stille
Heimliche Sehnsucht nach dem Lockdown?

Die Menschen sind angesichts schwerer Krisen verunsichert und ziehen sich zunehmend zurück. Doch wie gut tun uns Stille und Rückzug? Ein Gespräch.

Von Friederike Invernizzi 28.12.2021

Forschung & Lehre: Herr Grünewald, in der kürzlich erschienenen "Zukunfts­studie 2021", einer tiefenpsychologischen Untersuchung des Rheingold Instituts Köln, wird beschrieben, dass zwei Drittel der Deutschen ängstlich in die Zukunft blicken und es einen Trend zum Rückzug ins Private gibt. Ziehen sich die Deutschen zurück, weil ihnen die Welt zu laut geworden ist?

Stephan Grünewald: Lärm und Hektik in unserer modernen, zunehmend technisierten und auf Effizienz getrimmten Welt setzen uns in der Tat sehr zu. Man muss aber dazu sagen, dass die Klage über die Zunahme von Lärm in der Welt durch die Jahrhunderte ein immer wieder vielbemühtes Topos ist. Der französische Philosoph Blaise Pascal schrieb schon vor über vierhundert Jahren, dass das größte Unglück der Menschen sei, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer sitzen könnten. Neu ist, dass es in den letzten Jahren immer mehr Geräuschquellen gibt, Orte, in denen keine menschengemachten Geräusche erschallen, werden immer weniger. Aus jedem der unzähligen Lautsprecher an allen Orten quillt Musik, überall kann ich mittlerweile auf Social Media Kanälen mit dem Rest der Welt kommunizieren, nicht zu vergessen, der Lärm durch die weltweit wachsende Mobilität.

Portraitfoto von Stephan Grünewald
Stephan Grünewald ist Psychologe, Gründer des Rheingold-Instituts Köln und Autor. privat

F&L: Warum können Menschen denn, um Ihr Zitat von Blaise Pascal aufzugreifen, nicht häufiger einfach mal still in einem Zimmer sitzen?

Stephan Grünewald: Die Geräusche oder der ständige sonore Lärmpegel erfüllen eine wichtige Funktion: Wir fühlen uns nicht mehr allein und sind nicht auf uns zurückgeworfen – wir bleiben im Fluss des Lebens. Die Stille kann uns mit einer unaushaltbaren Leere in unserem Inneren konfrontieren, einer "Abgründigkeit". Zwar fühlen wir uns durch Lärm und Hektik häufig gestresst und unruhig, andererseits dient die Beschallung aber auch als "ohrale" Befriedigung zur eigenen Beruhigung,  Dämpfung oder Stimulierung. Die Kopfhörer, die wir oft unterwegs tragen, um Musik oder Podcasts zu hören, fungieren als moderne Ohren­Schnuller. Klang und Geräusche sind übrigens unsere frühesten Sinneserfahrungen. Wir werden quasi als Radiohörer geboren, weil wir bereits im Mutterleib von Herzschlag-Rhythmen und den Stimmen unserer Eltern umbraust waren. Die Stille gehört beileibe nicht zu unserem primären Erfahrungsschatz.

F&L: Die Menschen haben also Angst davor zu hören, was die Stille uns sagen würde?

Stephan Grünewald: Ja, denn Lärm hat durch die Geräuschkulisse auch etwas Beruhigendes, weil die Menschen dann spüren, dass das Leben draußen noch da ist. Zum Unglück der Stille gehört ja auch, dass man nicht nur in die eigenen Abgründe schaut, sondern, dass man das Gefühl hat, allein in einer toten Welt zu sein. Die Stille, wenn sie dann als leblos, feindlich oder auch als ungeheure Langeweile erlebt wird, stresst Menschen daher noch mehr als ein Lärmpegel, der es verhindert, die eigene Stimmung zu spüren.

F&L: Was führt uns denn dazu, trotzdem die Stille zu suchen?

Stephan Grünewald: Stille kann den Boden für intensive Glücksgefühle bereiten. Das zeigt sich zum Beispiel in unseren Weihnachtsliedern. Unser wichtigstes Weihnachtslied ist "Stille Nacht, heilige Nacht". Da besingen wir eine Stille oder einen momenthaften Übergang, wo alle Widersprüche sich auflösen, wo sich alles friedlich fügt, wo wir uns im Ideal der weißen Weihnacht total geborgen und eingebettet fühlen. Die weiße Schneeschicht überdeckt alles Trennende und alles Kontrastierende. Das ist eine ganz wichtige Übergangserfahrung, wenn etwas zur Ruhe kommt und seinen Frieden findet.
Ein anderes Bild: Wir sprechen vom Säugling, der "gestillt" wird. Da ist das Stillen so ein Moment des wundersamen Geborgenheitseinklangs mit der Welt zwischen Kind und Mutter. Es ist ein lebenslanges Thema oder ein Topos, dass wir das Glück der Stille nur momenthaft erleben, nicht nur zur Weihnachtszeit.

F&L: Wächst denn das Bedürfnis nach mehr Ruhe?

Stephan Grünewald: Das Bedürfnis nach Ruhe scheint mir bei vielen Menschen ein eher vordergründiger Wunsch zu sein: Wenn ich mich beispielsweise in eine Wellness-Oase "zurückziehe", um Ruhe zu finden und mich zu entspannen, herrscht dort mitnichten Stille, sondern es wird in der Regel ein sensorisches Feuerwerk in Form von Massagen, wohltemperiertem Licht, Klängen und Gerüchen und sonstigen "Erlebnissen" abgefeuert, um mir die Stille "erträglich" zu machen. Letztlich geht es dann also primär nicht so sehr um Stille, sondern darum, das Gefühl der "Urgeborgenheit" zu reaktivieren.

F&L: Man sagt, dass Kreativität die Stille liebt...

Stephan Grünewald: Für viele Künstlerinnen und Künstler ist Stille eine Voraussetzung für Kreativität: Während beispielsweise der Komponist Gustav Mahler in seinem Komponierhäuschen arbeitete, musste seine Frau Alma Mahler im Umkreis alle Wanderer abweisen, damit sie nicht in die Gegend kamen. Sie sollte den Kühen die Glocken abhängen, damit das Läuten den Komponisten nicht störte, er war in der Situation, wo es "in ihm klang", in der er selbst Musik war und zur Welt bringen wollte. Der Lärm der Welt hätte seinen eigenen Klang übertönt.

F&L: Durch die Corona-Pandemie wurden wir gezwungen, uns zurückzuziehen. Das Leben wurde ruhiger. Was hat das mit den Menschen in diesem Land gemacht?

Stephan Grünewald: Die Lockdown-Phasen hatten eine sehr stark entschleunigende Qualität, weil die von außen anbrandende Welt jetzt wirklich durch die eigenen vier Wände gebannt wurde. Man kann diesen Zustand ganz allgemein so beschreiben wie einen "kollektiven Vorruhestand", in den wir alle geraten sind. Für einige waren die Lockdowns eine existenzielle Zumutung, weil sie auf engstem Raum mit anderen Familienmitgliedern zusammen sein mussten, weil bestimmte strukturierende Elemente wie Schule wegbrachen, weil man sich mit der Situation überfordert fühlte et cetera. Wir haben aber in unseren Studien festgestellt, dass die Lockdowns für die anderen, das sind geschätzt ca. ein Drittel der Menschen in Deutschland, die schönste Zeit in ihrem Leben war: Man konnte sich auf das Wesentliche konzentrieren, die "buckelige" Verwandtschaft musste draußen bleiben, es gab Zeit, um die Schränke aufzuräumen, man konnte mit Hingabe kochen und die Familie rückte wieder näher zusammen. Der große Kreis des Lebens, der uns zu sehr beschäftigte, schrumpfte auf ein begehbares Maß zusammen. Die Reiseweltmeister wurden zu Wanderweltmeistern. Diese Gruppe hat das Leben im Lockdown als sehr beglückend empfunden, weil auch der Neid auf das Leben der anderen wegfiel, weil alle das gleiche "egalisierte" Leben führten. Das Drittel, das haben wir festgestellt, hoffte insgeheim, dass die Zahlen hoch blieben, damit der Lockdown verlängert würde, und jetzt beobachten wir bei dieser Gruppe fast so etwas wie eine "Lockdown"-Nostalgie: "Ach, wie war das doch schön, als es so ruhig war." Die größere Gruppe der Menschen konnte zwar teils die Vorteile der Zurückgezogenheit genießen, sie wollten aber wieder zurück in den großen Kreis des Lebens.

"Die Lockdown-Phasen hatten eine sehr stark entschleunigende Qualität, weil die von außen anbrandende Welt jetzt wirklich gebannt wurde."

F&L: Können durch eine ruhige und sehr zurückgezogene Lebensweise sozialer und gesellschaftlicher Gemeinsinn und allgemeine Zuversicht verloren gehen?

Stephan Grünewald: Ja, in der Tat. Zwei Drittel der Deutschen blicken laut unserer Zukunftsstudie ängstlich auf die gesellschaftliche Zukunft. Mangelndes Vertrauen in Staat und Institutionen sowie die Angst vor gesellschaftlicher Spaltung forcieren den Rückzug in private Nischen. Die Menschen haben ihre Sozialsysteme "vertikutiert". Sie haben ihre Schränke aufgeräumt und gleichzeitig überlegt, wer aus dem Freundeskreis noch wirklich wichtig ist. Da ist der eine oder andere buchstäblich in der "Altkleidersammlung" gelandet. Das ist natürlich eine Gefahr, dass die Selbstbezogenheit wächst und dass man sich nur noch mit seinesgleichen umgibt. Die Bereitschaft zum Austausch mit anderen, die die Voraussetzung für die Toleranz und für eine "weltmännische" Haltung ist, könnte schwinden. Wenn das zu einer Dauerhaltung wird, verlieren wir als Gesellschaft den Weltbezug. Man kommt nicht mehr mit dem "Fremden" in Kontakt. Man muss aber dazu sagen, dass in der deutschen Gesellschaft gleichzeitig die Bereitschaft gewachsen ist, allein oder mit Gleichgesinnten für eine lebenswerte Zukunft tätig zu werden.