Ein Schüler zeigt im Unterricht auf
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Welttag der Bildung
"Die Schulen leiden unter einer politischen Fehlplanung"

Wie kann das Bildungssystem gestärkt und Schwächen überwunden werden? Ein Gespräch mit der Vorsitzenden der Berufsvertretung von Gymnasiallehrkräften.

Von Katrin Schmermund 24.01.2025

Forschung & Lehre: Frau Lin-Klitzing, seit Jahren diskutieren wir über zu volle Klassen, zu wenige Lehrkräfte und ein schwindendes Leistungsniveau an deutschen Schulen – warum kommen wir scheinbar nicht voran?

Susanne Lin-Klitzing: Ein wesentlicher Grund liegt aus meiner Sicht darin, dass wir die Chancen der frühkindlichen Bildung nicht nutzen. Förderinitiativen zum Ausgleich von Bildungsbenachteiligung wie das Startchancenprogramm setzen in Deutschland in der Regel mit dem Schulbesuch an. Das ist zu spät. Wir verschleppen damit (Sprach-)Probleme in die Zukunft. Um die Leistungsfähigkeit des Bildungssystems in Deutschland nachhaltig zu verbessern, müssen wir – neben einer gesamtgesellschaftlich zu stärkenden Leistungsorientierung – früher ansetzen. Ansonsten tragen Kinder auf ihrem Bildungsweg ein Päckchen mit sich herum, das immer schwerer wird und zu immer größeren Herausforderungen für sie persönlich und das System im Ganzen führt. 

F&L: Wie geht es besser?

Susanne Lin-Klitzing: Wir brauchen vielerlei. Zunächst die diagnoseindizierte, verbindliche vorschulische Förderung für Kinder nach ihrer schulischen Eignungsuntersuchung im Alter von circa viereinhalb Jahren. Lange hat Deutschland dies im Unterschied zu anderen Ländern nicht genutzt. Man hat sich auf die grundgesetzlich vorgegebene Schulpflicht fixiert und gedacht, man dürfe vor der Schule nicht verbindlich fördern. Ich glaube, dass es vorschulische Förderung in den nächsten ein, zwei Jahren in so gut wie allen Bundesländern geben wird. Hamburg und Hessen führen dies bereits durch, Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein und Bayern wollen jetzt nachziehen, weitere Länder werden folgen. Die Umsetzung halte ich für möglich, weil wir das Instrument eines vorschulischen Einschulungstests bereits haben. Nun müssen die Länder die differenzierte (Sprach-)Förderung endlich verbindlich anschließen. 

Susanne Lin-Klitzing ist Professorin für Schulpädagogik an der Philipps-Universität Marburg und hat derzeit das Amt der Vorsitzenden des Deutschen Philologenverbands (DPhV) inne. DPhV / Marlene Gawrisch

F&L: Bundesweit fehlen Lehrkräfte. Zunächst betraf dies die Grundschulen, mittlerweile ist es aber an fast allen Schularten, vor allem auch an den beruflichen Schulen, so. Mit welchen Folgen? 

Susanne Lin-Klitzing: Die Schulen leiden seit Jahrzehnten unter einer generellen politischen Fehlplanung für die Einstellung von genügend Lehrkräften. Eine geplante Einstellung von plus / minus 100 Prozent Lehrkräften für 100 Prozent Unterrichtsabdeckung reicht nie aus. Wir brauchen dafür mehr Lehrkräfte, denn zum regulären Schulgeschäft gehören Klassenfahrten (dafür fällt ein Kollege im Unterricht aus), gehören Projekte (dafür fällt eine Kollegin im Unterricht aus), gehören Abordnungen an Schulverwaltungen (dafür fallen Kollegen im Unterricht aus). Zudem üben mehrheitlich Frauen den Lehrberuf aus. Werden sie schwanger, wird der Unterrichtsausfall nicht sofort ersetzt. Den Schülerinnen und Schülern fehlen kontinuierlich die für sie vorgesehenen Unterrichtsstunden. Eine falsche Einstellungsplanung, die in besonders herausfordernden Zeiten, wie wir sie jetzt haben, nichts mehr kompensieren kann.

F&L: Wie sollten Schulen und Politik auf den Lehrkräftemangel reagieren?

Susanne Lin-Klitzing: Die Kultus- und Finanzminister müssen einerseits attraktive und gute Angebote für junge Leute machen und gleichzeitig die Lehrkräfte, die bereits im System sind, halten. Beides ist entscheidend, doch der Fokus sollte zurzeit stärker auf der Unterstützung der aktuellen Lehrkräfte liegen, denn mit ihnen haben wir gut ausgebildete Kräfte im System. Junge Menschen zu gewinnen, ist wichtig, aber eine Absenkung der Ausbildungsstandards löst den Mangel grundsätzlich nicht, da insgesamt zu wenige Absolventinnen und Absolventen verfügbar sind. Gar nichts halten wir davon, Lehramtsstudierende schon in ihrem Studium eigenverantwortlich und mit verbindlicher Notenvergabe für die Schülerinnen und Schüler in der Schule zu verplanen. Das reduziert zwar kurzfristig den Unterrichtsausfall, verschlechtert aber langfristig die Qualität des Unterrichts und beraubt junge Menschen ihrer begleiteten Ausbildung. 

F&L: Die derzeitigen Arbeitsbedingungen schrecken viele ab. Was kann kurzfristig unternommen werden?

Susanne Lin-Klitzing: Die Probleme müssen sukzessive angegangen werden. Kurzfristig bedeutet dies: weg mit den vielen unterrichtsfernen bürokratischen Tätigkeiten wie beispielsweise der Abfrage und Dokumentation, ob die Kinder gegen Masern geimpft sind, oder der Organisation von Klassenfahrten. Das können Schulverwaltungsassistenten übernehmen. Zudem muss das Stundendeputat gesenkt werden. Nicht in einem übermäßigen Maße, das wäre nicht realistisch, aber ein bis zwei Unterrichtsstunden pro Woche weniger, um die Belastung von Lehrkräften nicht zu überstrapazieren und Freiräume für notwendige Fortbildungen zu schaffen.

"Lehrkräfte brauchen Räume, in denen sie auch mal zur Ruhe kommen können oder um eine Arbeit zu korrigieren."

Zusätzlich braucht es entschlossene Finanzzusagen, um den Investitionsrückstand an Schulen in den Griff zu bekommen. Wir stehen bei der Schulinfrastruktur vor einem riesigen Investitionsstau von aktuell 55 Milliarden Euro. Die Schule sollte eine Raumumgebung bieten, in der sich alle, die dort Zeit verbringen, wohlfühlen und gerne lernen und arbeiten. Lehrkräfte brauchen Räume, in denen sie auch mal zur Ruhe kommen können oder um eine Arbeit zu korrigieren. Aktuell ist das meist nicht möglich. Sie finden sich in überfüllten Lehrerzimmern wieder, in die bei einer Konferenz häufig nicht mal alle Lehrkräfte hineinpassen. 

F&L: Für das Gymnasium entscheiden sich viele Eltern, um ihren Kindern die vermeintlich besten Ausbildungs- und Berufschancen zu sichern. Dieser Weg ist nicht für alle Kinder ideal. Haben auch Sie diesen Trend politisch befördert?

Susanne Lin-Klitzing: Wir als Verband und ich persönlich haben uns immer für ein differenziertes Bildungssystem mit unterschiedlichen Schularten und eine damit einhergehende differenzierte Spitzenförderung ausgesprochen. Bedeutet: Kinder, Jugendliche und spätere Erwachsene sollten entlang ihrer Fähigkeiten und Talente gefordert und gefördert werden. 

Exzellenz muss nicht zwangsläufig eine akademische Topleistung am Gymnasium oder an der Universität bedeuten. Ich würde mir mehr Wertschätzung und exzellente Profilbildung auch an den anderen Schularten und gerade für das berufliche Schulwesen wünschen.

Bildungsministerinnen wollen messbare Bildungsziele

Die Bildungsministerinnen aus Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein Theresa Schopper (Grüne), Dr. Stefanie Hubig (SPD) und Karin Prien (CDU) haben in dieser Woche konkrete Ziele für die Leistungsverbesserung von Schülerinnen und Schülern in den nächsten zehn Jahren vorgestellt. Der Vorschlag umfasst die Bereiche frühe Bildung, Kompetenz- und Leistungsentwicklung der Kinder und Jugendlichen, Bildungschancen und Schule als Lern- und Lebensort. Eine begleitende Publikation der Wübben Stiftung Bildung stellt die erarbeiteten Inhalte näher vor.

Der Vorschlag der Ministerinnen formuliert messbare Ziele für die Absicherung des Bildungsminimums und für die Steigerung der Quote derjenigen, die die Regel- oder sogar Optimalstandards in Deutsch und Mathematik erreichen. Angestrebt würden 50 Prozent weniger Schülerinnen und Schüler ohne ersten Abschluss. Ein weiterer Indikator beziehe sich auf die Stärkung der Bildungsgerechtigkeit. Mit dem Vorschlag unmittelbar vor der Bundestagswahl wollen die drei Initiatorinnen einen Beitrag zur Frage leisten, wie das Bildungssystem in Deutschland verbessert werden könnte. 

F&L: Was bedeutet das für das Gymnasium?

Susanne Lin-Klitzing: Die ältere Generation, die jetzigen Kultusministerinnen und -minister, muss sich trauen, begründete hohe inhaltliche Ansprüche zu setzen. Gut finde ich beispielsweise, dass sich die verbindliche Grundschulempfehlung für die weiterführenden Schularten wieder mehr durchsetzt. Bayern und Sachsen hatten sie nie abgeschafft, Berlin, Sachsen-Anhalt und Baden-Württemberg führen sie – modifiziert – neu ein. In Baden-Württemberg setzt sich die Übergangsempfehlung aus einer Einschätzung der Klassenkonferenz zusammen, bestehend aus allen in einer Klasse unterrichtenden Lehrkräften unter Vorsitz der Schulleitung, einer Kompetenzprüfung der Schülerinnen und Schüler und der Einschätzung der Eltern. Bemessungsgrundlage sind neben einer Momentaufnahme also auch langfristige Beurteilungen. Mindestens zwei der drei Einschätzungen müssen für eine Gymnasialempfehlung positiv ausfallen. 

Diese Mischung halte ich für gut, weil erst kürzlich wieder bestätigt wurde, dass Eltern, die selbst auf dem Gymnasium waren, ihre Kinder eher dorthin schicken, nichtakademische Eltern eben nicht. Für Lehrkräfte hat die Timss-Studie 2024 gezeigt, dass diese die Leistung der Kinder unabhängiger vom sozioökonomischen Hintergrund beurteilen als Eltern.

F&L: Das Gymnasium wirkt, als befände es sich in einer Dauerreform. G9, G8 und wieder G9. Reformieren wir lieber neu, anstatt die tatsächlichen Probleme anzugehen?

Susanne Lin-Klitzing: Der Philologenverband war seit jeher Vertreter eines neunjährigen Gymnasiums, da dieses Modell unserer Ansicht nach eine vertiefte Allgemeinbildung, Wissenschaftspropädeutik und eine gute Studierfähigkeit fördert. Daher sind wir mit dem Ergebnis, dass alle westlichen Bundesländer, in denen die Politik die Gymnasien auf ein G8 "reformieren" wollte, nun wieder zu G9 zurückkehren können, sehr zufrieden. Diese nicht zielführende, rein schulorganisatorische Debatte hat uns um Jahre zurückgeworfen. Bei künftigen Reformen müssten die jeweiligen Bildungsministerien gründlicher und umfassender prüfen, wie wir unser Bildungssystem tatsächlich verbessern und international wettbewerbsfähiger aufstellen können.

F&L: Auch 2025 wird nicht alle Probleme lösen. Wo müssen wir Ende des Jahres stehen, damit Sie von einem erfolgreichen Jahr sprechen können?

Susanne Lin-Klitzing: Um ein absteckbares Ziel zu nennen: Wir müssen eine kritisch-konstruktive Auseinandersetzung führen, wofür KI im Bildungsbereich nützlich sein kann – und wofür nicht. Bis Ende 2025 sollte gewährleistet sein, dass Schulen dafür auf eine entsprechende datenschutzkonforme Bildungs-KI-Infrastruktur zugreifen können, bereitgestellt durch Bund und Länder. Den Kern von Schule als einem geschützten Entwicklungsraum für Kinder und Jugendliche, der maßgeblich durch die personale Interaktion geprägt ist, soll das nicht ablösen.