Skulptur von Hölderlin
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Johann Christian Friedrich Hölderlin
Hölderlins "poetisches Geschäfft"

Friedrich Hölderlin zählt zu den bedeutendsten Lyrikern Deutschlands. Eine Einordnung seines Werks zum 250. Geburtstag des Dichters.

Von Johann Kreuzer 20.03.2020

Hölderlin, wie Hegel und Beethoven 1770 geboren, ist im Hinblick darauf, was sich mit seinem Namen verbindet, eigentlich eine Entdeckung des 20. Jahrhunderts. 1916 legte Norbert von Hellingrath erstmals das "Spätwerk" Hölderlins der breiteren Öffentlichkeit vor. Es war bis dahin, dem Verdikt oder der Mystifikation vom "verrückten Dichter" unterliegend, unediert geblieben. Die Hellingrath’sche Ausgabe änderte das mit ihrem Band 4 mit den "Gedichten 1800-1806" schlagartig. Er machte die Sprache von Hölderlins großer Dichtung, ihrer Pathologisierung entgegen, als "Herz, Kern und Gipfel" seines Werks und als dessen "eigentliches Vermächtnis" zugänglich.

Hölderlins Werk wurde zu einer zentralen Referenz soziokultureller Neuverständigung im Kontext des Sinnvakuums, das der Katastrophe des Ersten Weltkriegs folgte. Es wurde zum neuen Maß nicht nur (in) der Dichtung, sondern auch und gerade für die Fragestellungen, die nach dem "langen" bürgerlichen 19. Jahrhundert mit seiner Wissenschaftsgläubigkeit auf der Tagesordnung gesellschaftlicher Selbstverständigung standen.

Das gilt insbesondere für die Philosophie. Hier war Walter Benjamin einer der ersten, der die maßstabsetzende Bedeutung Hölderlins erkannte, etwas später wird Martin Heidegger auf ihn stoßen und die geschichtliche Bestimmung der Philosophie in der Erkenntnis der Notwendigkeit gipfeln lassen, "Hölderlins Wort das Gehör zu schaffen". In vergleichbarer Weise gilt Theodor W. Adorno die Sprachwirklichkeit, die beim "späten Hölderlin philosophisch der Philosophie voraus ist", als Maßstab für Dichtung und Philosophie.

Die Hölderlin seit seiner Neuentdeckung zugesprochene Rolle war und ist nicht nur gelegentlich mit hohem Pathos und mit projektivem Mechanismen verbunden. Die Frage, worin dieses projektive Pathos gründet, bedarf der Antwort nicht nur, um Prophylaxe gegenüber Mißbrauch zu üben, sondern nicht zuletzt deshalb, weil die aus dieser Frage folgenden Antworten die Gegenwart Hölderlins gerade auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts am besten bezeugen.

Im Spannungsfeld zwischen den Epochen

Hölderlins Werk ist um die Epochenschwelle 1800 zentriert. Hier sind es vor allem zwei Daten, die für diese Epoche prägend sind und in ihr wie über sie hinaus nachhaltige Wirkung erzeugten: zum einen die Französische Revolution – zum anderen die Revolutionierung der Denkungsart durch die kritische Philosophie Kants. Nicht zu vergessen sind die Grundlagen der Industrialisierung, für die in dieser Zeit stellvertretend die Erfindung der Dampfmaschine durch James Watt steht.

Die durch das Datum der Französischen Revolution entfachte Begeisterung klingt bei Hölderlin zunächst so wieder: "Ich glaube an eine künftige Revolution der Gesinnungen und Vorstellungsarten, die alles bisherige schaamroth machen wird." (Brief an J.G. Ebel vom 10. Jan. 1797). Knapp drei Jahre später folgt die realgeschichtliche Ernüchterung auf dem Fuß. Im November 1799 spricht Hölderlin (wieder in einem Brief an Ebel) von "der allmächtigen alles beherrschenden Noth" und endet mit: "Glüklich sind wir dann, wenn uns noch eine andere Hofnung bleibt! Wie finden Sie denn die neue Generation, in der Welt, die Sie umgiebt?"

Es war diese epochale Spannung zwischen revolutionärer Begeisterung und realgeschichtlicher Ernüchterung, in der die Denkanstöße aufgenommen wurden, die von Kants kritischer Philosophie und deren Forcierung durch Fichte ausgingen. Hölderlin gehört hier zusammen mit den beiden anderen (Tübinger) Stiftlern – dem 2020er Mitjubilar Hegel und mit Schelling – zu den prägendsten Akteuren.

Beredtes (und berühmtes) Zeugnis des Gesprächs zwischen den dreien ist das sogenannte "Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus." Hier findet sich (in Hegels Handschrift) die zur Sprache drängende Überzeugung formuliert, daß der "höchste Akt der Vernunft ein ästhetischer Akt" sei. Der "Philosoph" bedürfe "ästhetischen Sinn". Die "Poësie" bekomme dadurch "eine höhere Würde", sie "allein" werde "alle übrigen Wissenschaften und Künste überleben."

Damit ist der Doppelanspruch formuliert, der für Hölderlins Werk grundlegend geworden und geblieben ist: was "Dichtung" ist und sich als poetische Sprache mitteilt, erfolgt in Augenhöhe mit den avanciertesten Formen philosophischer Reflexion. Hatte schon Kant festgehalten, daß es "eigentlich die Dichtkunst ist, in welcher sich das Vermögen ästhetischer Ideen in seinem ganzen Maße" zeigt, so setzt Hölderlin das in poetische Sprachwirklichkeit um. 

Der Dichter als Reformator

Nun ist sein Werk kein monolithischer Block. Es gibt mehrere Phasen und Zäsuren. Am wichtigsten ist vielleicht die, die Ende 1799 beziehungsweise Anfang 1800 erfolgt und sich in zwei theoretischen Fragmenten dokumentiert: In "Das untergehende Vaterland …" und "Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig ist …" erarbeitet sich Hölderlin das Sprach- und Dichtungsver-ständnis, auf dem seine dann folgende poetische Arbeit beruht. Diese Zäsur geht einher mit der Aufgabe der Arbeit am Trauerspiel "Der Tod des Empedokles" – die Auseinandersetzung mit diesem Projekt begleitete Hölderlin von 1796/97 bis Ende 1799. Sein Gegenstand war, wie dem "zum Dichter geborenen" Empedokles gleichzeitig und als Dichter die Rolle eines "politischer Reformators" zukomme.

Die Arbeit an diesem Projekt mündet darin, dass Hölderlin die Sackgasse(n) erkennt, in die eine Ineinssetzung von Dichtungstheorie und Geschichtsanalyse führt. An ihre Stelle wird er die (geschichts-)philosophische Begründung des Anspruchs poetischer Sprache setzen. Wegen des Bezugs Dichter/Reformator hat die im Trauerspiel von Hölderlin verhandelte Gestalt des Empedokles freilich immer wieder dazu gereizt, sie auf Hölderlin selbst sozusagen zurück zu übertragen. Zeilen wie "Diß ist die Zeit der Könige nicht mehr. // Euch ist nicht/ Zu helfen, wenn ihr selbst euch nicht helft (…)" entwickelten einen änigmatischen Sog (zuletzt etwa in der 68-er- und Nach-68-er-Zeit), ebenso zu Sinnsprüchen isolierte Zitate wie "Die göttlichgegen-wärtige Natur/ Bedarf der Rede nicht (…)". Hier griffen und greifen Übertragungen, mit denen in das Stück jeweilige Hölderlinverständnisse projiziert werden. Für Hölderlin hatte diese Arbeit klärenden Charakter – sie leitet über zu dem, was für ihn ab 1800 als "freie Kunstnachahmung" zum Verständnis wie Anspruch der eigenen Arbeit wurde.

Leben und Werk Friedrich Hölderlins

Eine anschauliche chronologische Übersicht über das Leben von Friedrich Hölderlin bietet die "Hölderlin Gesellschaft". Auch eine Eindordnung der wichtigsten Werke Hölderlins ist dort verfügbar.

Der Phase der Arbeit am "Empedokles" vorangegangen war die Arbeit am Briefroman "Hyperion" – sie reicht zurück bis 1792 und beschäftigte Hölderlin bis Ende 1798. Im April 1797 erschien der erste, im November 1799 der zweite Band von "Hyperion oder der Eremit in Griechenland." Die Welt dieses Briefromans formuliert die Bezugskoordinaten, die zumeist mit Hölderlins Auffassung von griechischer Antike und "hesperischer" Gegenwart verbunden werden.

Hier finden sich grundlegende Empfindungs- und Denkmotive in unüberholbar eingängiger Weise formuliert, so im Ausruf: "Ich hab' es Einmal gesehn, das Einzige, was meine Seele suchte, und die Vollendung, die wir über die Sterne hinauf entfernen (…), die hab' ich gegenwärtig gefühlt. Es war da, das Höchste (…). Sein Nahme ist Schönheit." (Hyp. I.2) Oder der berühmte Athener-Brief am Ende des ersten Bandes, in dem es heißt, dass die Dichtung als "der Anfang und das Ende der Wissenschaft der Philosophie" zu verstehen sei, und in dem sich Hölderlin auf Heraklit via Platons "Symposion" beruft: "Das große Wort, das εν  διαφερον  εαυτῳ (das Eine in sich selber unterschiedne) des Heraklit, das konnte nur ein Grieche finden, denn es ist das Wesen der Schönheit, und ehe das gefunden war, gabs keine Philosophie." (Hyp. I.2)

Hölderlin beruft sich auf dieses erfahrungsgesättigte Verständnis der Erfahrung des Schönen in gegenwartsdiagnostischer Absicht. Das emphatische Bekenntnis dient der Feststellung, daß "aus blosem Verstand nie verständiges, aus bloser Vernunft nie vernünftiges gekommen" sei (Hyp. I.2). Ziel ist die exemplarische Beschreibung eines Erfahrungswegs, den eine revolutionär-jugendliche Begeisterung durchmessen muss, will sie angesichts des Schönen weder an sich selbst zugrunde gehen noch in Resignation oder Schlimmeres umschlagen. "Versöhnung ist mitten im Streit", heißt es am Ende. Das "So dacht' ich. Nächstens mehr." lässt daraus einen sich in die Gegenwart öffnenden Schluss werden. Das Programm des "Hyperion" wie der im Briefroman dargestellte Erfahrungsweg hat von Anbeginn eine sich mit ihm identifizierende Lektüre erfahren. Bis heute dürfte sie es sein, die zumeist die Tür in den Kosmos von Hölderlins Werk öffnet. 

Hölderlins Konzept des Erinnerns

Wie erwähnt justiert sich Hölderlins Arbeit wie Dichtungsverständnis in und mit der Wende ins Jahr 1800 neu. In knappster Weise benennt er es als Anspruch "freier Kunstnachahmung", "eine Erinnerung zu haben – die Betonung liegt auf: zu haben. "Haben" läßt sich, was die Erinnerung als Vermögen in sich schließt, allein in der Sprache – und nicht in Formen praktischer oder theoretischer Vernunft. Das ist der Grund, weshalb sich das wechselseitige Bedingungsverhältnis von Erinnerung und Sprache für Hölderlin allein in der Sprache der Dichtung zu erfüllen vermag. Und genau dies macht die philosophische Bedeutung des von ihm formulierten Konzepts "freier Kunstnachahmung" aus – eine Bedeutung, die das, was sich in Hölderlins Werk als Sprache freier Kunstnachahmung realisiert findet, seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts zur Referenz und zum Ansprechpartner in Dichtung, Philosophie und für künstlerische Selbstverständnisse hat werden lassen.

Für Hölderlin selbst differenzierte sich die eigene Arbeit, das, was er sein "poetisches Geschäfft" nannte, ab 1800 aus: Zuerst ist da die Arbeit daran, was er in einem Brief an den Verleger Wilmans "einzelne lyrische größere Gedichte 3 oder 4 Bogen" nennt, deren "Inhalt unmittelbar das Vaterland angehn soll oder die Zeit" – seine "Gesänge", die an der Gegenwart faßlich machen sollen, was es heißt, "eine Erinnerung zu haben", und wie sich der darin wirkliche Geist mitteilen läßt. An diesem "Frohloken vaterländischer Gesänge" arbeitet Hölderlin in einer Vielzahl von Entwürfen, Fassungen – nahezu alle erreichen keine abgeschlossene (fertige) Form. Doch hat Hölderlins "Freude, sich dem Leser zu opfern, und sich mit ihm in die engen Schranken unserer noch kinderähnlichen Kultur zu begeben" (so Hölderlin im Dezember 1803 in einem Brief an Wilmans), jene Gebilde hervorgebracht (freirhythmische Gesänge und Elegien insbesondere), die ihn bis heute zum Ansprechpartner haben werden lassen, wenn es um Dichtung geht beziehungsweise um jenen Akt der Sprachfindung, der ein Gedicht jeweils ist.

Solche Sprachfindung hängt nicht von einer "vollendeten Gestalt", einem "fertigen Text" ab, sondern allein davon, dass die Wirklichkeit des Erfahrens in einem sprachlichen Gebilde ins Wort gefaßt erscheint und dergestalt sich mitteilt. Bleiben die "größeren" Gedichte meist Fragment, so erscheinen 1805 die "Nachtgesänge" im Druck: sechs Oden und drei "kleine" freirhythmische Gedichte – darunter "Hälfte des Lebens", Hölderlins vielleicht meistrezipiertes Gedicht.

Der "verrückte Dichter im Turm"

Begleitet wird die enorme Produktivität der Jahre 1800-1806 von intensiver, Pindar und Sophokles geltender Übersetzungsarbeit. Die Arbeit an Pindar und die in ihr trainierte freie Rhythmik wirkt auf Hölderlins eigene Sprache zurück – hier bildet sich jener Sound heraus, der seine Sprache unverwechselbar macht. In der Auseinandersetzung mit Sophokles erarbeitet sich Hölderlin die kulturmorphologischen Grundlagen für einen freien Gebrauch des Eigenen. Nicht zuletzt dadurch eröffnen sich Perspektiven, die Hölderlin zum Ansprechpartner der Gegenwart haben werden lassen.

Im September 1806 wird Hölderlin in das Tübinger Universitätsklinikum verbracht, von dort im Mai 1807 mit dem Bescheid entlassen, höchstens noch "drei Jahre" zu leben zu haben. Es folgten dann 36 Jahre im Haus der Schreinermeisters Zimmer, der den Hyperion bewunderte und Hölderlin aufnahm. Justinus Kerner und Wilhelm Waiblinger setzten die Mär vom "verrückten Dichter im Turm" in die Welt. Sicher ist, dass diverse traumatische Erfahrungen sich in Psychoseerfahrungen auswirkten. Im Turm fand er, selbst wenn "er Streit hatte mit seinen Gedanken", Ruhe. Paul Celan – in 2020 ebenfalls ein Jubilar – hat sich auf diese Ruhe in "Erinnerung an/ schwimmende Hölderlintürme" berufen, wenn er 1961 ans Ende von "Tübingen, Jänner" jenes "("Pallaksch. Pallaksch")" setzte, das Hölderlin gebrauchte, wenn er es leid war, eindeutig Ja oder Nein zu sagen.