Eine junge Frau steht im Mantel in einer Industriehalle.
Cora Straßburg

Beitragsserie Bildung
Impact statt Statistik – Wissenschaft mit gesellschaftlichem Mehrwert

Ich habe gelernt, dass akademische Erfolgszahlen in Extremsituationen wie einer Krankheit nicht helfen. 2024 konnte ich positive Wirkungen erzielen.

Von Lena Patterer 28.12.2024

Das Jahr 2024 war für mich vor allem von Dankbarkeit geprägt. Dankbarkeit für die kleinen Dinge, die wir im universitären Alltag oft viel zu selbstverständlich nehmen. Dankbarkeit für meinen Kopf, der es mir 2024 ermöglicht hat, Forschungsstrategien zu entwickeln und Vorlesungen zu planen. Dankbarkeit für meinen Körper, der mich die Treppen in der Universität erklimmen und im Hörsaal stehend eine Vorlesung halten lässt. 

Vieles davon war für mich im Jahr 2023 nicht möglich. Am Ende meiner Promotion wurde bei mir ganz überraschend bei einer Vorsorgeuntersuchung Brustkrebs diagnostiziert. Dies bedeutete für mich im Alter von 30 Jahren eine 6-monatige Chemotherapie zu durchlaufen und mich im Anschluss einer beidseitigen Mastektomie zu unterziehen. In der Zeit der Chemo war es für mich oft nicht möglich, konzentriert zu arbeiten, lange zu stehen oder Treppen zu gehen. 

Die Diagnose war ein Schock, durch die meine Welt komplett auf den Kopf gestellt wurde. Viele Dinge, die bis zu diesem Zeitpunkt meine Arbeit an der Universität geprägt haben, verloren von einem auf den anderen Tag vollkommen ihre Bedeutung: Noten, Publikationen, Zitationen. Welche Bedeutung haben diese "Erfolgszahlen", wenn man sich nicht sicher sein kann, das nächste Jahr zu überleben? Stattdessen rückten andere Dinge sehr viel stärker in den Fokus: Optimismus, Wertschätzung, Zufriedenheit und Lebenswille – positive Gefühle, die notwendig sind, um eine solche Zeit zu überstehen. 

Wandel meiner Lebenseinstellung

Ein Jahr später blicke ich auf die Zeit zurück und bin dankbar, dass dieser Fokus und der Wandel meiner Lebenseinstellung bis heute anhalten. Ich bin dabei keineswegs perfekt, ertappte mich ab und zu dabei, den akademischen Erfolgszahlen wieder mehr Bedeutung beizumessen. Trotzdem versuche ich, eine bessere Balance für mich zu finden. Statt Zahlen hinterherzujagen, die eventuell förderlich für meine berufliche Karriere sind, möchte ich viel lieber im Hier und Jetzt einen positiven und nachhaltigen Impact schaffen. 

Dieses Jahr ergaben sich für mich einige Gelegenheiten, eine positive Wirkung zu erzielen. Gelegenheiten, vor denen ich mich vor ein paar Jahren noch gescheut hätte, bei denen ich aber heute weiß, dass sie zu wichtig sind, um sich im Hintergrund zu halten. Beispielsweise hatte ich die Möglichkeit, an der deutschlandweiten Gleichberechtigungs-Kampagne "Not A Token Woman" der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH) Aachen teilzunehmen. Es wurden unter anderem Plakate mit Fotos von mir und weiteren Wissenschaftlerinnen der RWTH in deutschen Großstädten aufgehängt, um weibliche Vorbilder in einem männerdominierten Berufsfeld sichtbar zu machen. 

Die Sichtbarkeit ist wichtig, denn es gibt Studien, die belegen, dass Vorbilder hilfreich sind, damit sich Frauen selbst zutrauen, berufliche Wege einzuschlagen, die allgemein als männerdominiert gelten. Ich selbst hatte kaum Vorbilder, als ich meine Promotion gestartet habe, da ich eine von nur drei Wissenschaftlerinnen im 17-köpfigen Team war. Ebenso sind bei uns in der Fachgruppe von insgesamt 13 Professuren gerade mal zwei Stellen von Professorinnen besetzt. Obwohl ich bis jetzt immer das Glück hatte, nur an Lehrstühlen zu arbeiten, die sich durch einen starken Teamgeist auszeichneten, gab es auch für mich berufliche Situationen, in denen ich wegen meines Geschlechts unangenehmen Umständen ausgesetzt war. Allem voran ein Abend nach einem Projekt-Meeting, an dem ich als einzige Frau in der Runde gefragt wurde: "Wann ziehst du dich heute noch aus?" 

Damit sich solche Zustände ändern, Rahmenbedingungen geschaffen werden, die ein solches Verhalten nicht tolerieren, und Frauen in forschungsbasierten Projekten keine Rarität bleiben, engagierte ich mich im Rahmen der Kampagne aktiv als Vorbild für potenzielle Wissenschaftlerinnen.

Online-Umfrage 

1994 erschien die erste Ausgabe der hochschulpolitischen Zeitschrift "Forschung & Lehre". Sie informiert in Hintergrundberichten, Interviews und Essays über Entwicklungen in Hochschulen und Wissenschaft. Die Website ergänzt dies um tagesaktuelle Nachrichten, weiterführende Beiträge und Analysen. An einer Hochschule oder in der Wissenschaft tätig zu sein, ist heute nicht mehr dasselbe wie vor drei Jahrzehnten. Zeitschrift und Website haben sich ebenfalls weiterentwickelt und sollen stetig besser werden. 

Dafür ist Ihre Meinung gefragt: Welche Themen interessieren Sie besonders? Was fehlt Ihnen in der Berichterstattung? Wie finden Sie sich auf der Website zurecht? 

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Hoffnung und kleine Erfolgsgeschichten 

Natürlich bin ich nicht so naiv zu glauben, dass durch eine solche Kampagne das System von einem auf den anderen Tag komplett verändert wird. Aber für mich bedeutet dieses öffentliche Engagement, dass es für einige wenige Frauen einen Unterschied machen kann – und sei es nur unterbewusst zu sehen: Aha, es gibt Wissenschaftlerinnen im MINT-Bereich und nicht nur den älteren, weißen Herrn mit zerzaustem Haar und Reagenzglas in der Hand, welcher die Gemeinschaft an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in der Vergangenheit bildlich darstellte. 

Trotz dieser Hoffnung, zu einer kleinen Änderung in unserem patriarchalen System beizutragen, hatte ich auch einige Bedenken – beispielsweise hatte ich Angst, wegen meiner kurzen Haare, die ich den Nebenwirkungen der Chemo zu verdanken hatte, weniger als Frau wahrgenommen zu werden. Ein wunder Punkt, der auch durch die durchlaufene Mastektomie verstärkt wurde. Aber ich beschloss, diese Ängste zu überwinden, mit der Überzeugung, dass die potenziellen positiven Effekte der Kampagne wichtiger sind als meine patriarchisch-geprägte Unsicherheit. 

Insgesamt war die Kampagne ein toller Erfolg und ich bin froh, mich getraut zu haben. Ich habe Fotos aus Köln, Berlin und Karlsruhe von Freundinnen und Freunden zugeschickt bekommen, die meine Kampagnen-Bilder in ihrem Alltag entdeckt und mich mit ihrem positiven Feedback zur Kampagne bestärkt haben. Auch wenn es überhaupt nicht meine Intention war, hatte die PR-Aktion sogar positive Auswirkungen auf meine Forschung. Aktuell führe ich Verhandlungen über mögliche wissenschaftliche Kooperationen mit einem Unternehmen, das nur durch "Not A Token Woman" auf mich aufmerksam geworden ist. Ebenso haben wir eine studentische Hilfskraft eingestellt, die dadurch auf unseren Lehrstuhl gestoßen ist. 

An diesen kleinen Erfolgsgeschichten kann ich sehen, dass man manchmal etwas zurückbekommt, obwohl man ursprünglich nur geben wollte. Insgesamt habe ich durch meine Krebsdiagnose gelernt, dass kalte Statistiken, wie die 20. Veröffentlichung, in Extremsituationen wie einer Krankheit nicht helfen. Wohingegen ein wertschätzendes, diverses Miteinander in unserer Gesellschaft und an der Universität jeden Unterschied machen kann.

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Dieser Beitrag ist der zweite Teil unserer Feiertagsserie, in denen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre Perspektiven auf Lernerfahrungen teilen:

Im neuen Jahr blickt die Januar-Ausgabe von "Forschung & Lehre" auf das Schwerpunktthema "Bildung – quo vadis?"

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  • Im Gespräch mit Ludger Wößmann: 25 PISA-Punkte kosten rund 14 Billionen Euro – Deutschlands Bildungssystem aus volkswirtschaftlicher Sicht
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Hier geht es zur aktuellen Ausgabe – Lesen lohnt sicht!