Wissenschaftsfreiheit
Irrtum und Moral
Die Natur der Wissenschaftsfreiheit, ihre normativen Fundamente und ihre möglichen Grenzen zu durchdenken, ist ein lohnendes Projekt – aber auch ein umfangreiches, aus dem sich hier nur einige Überlegungen skizzieren lassen. Was ist zunächst einmal so wichtig an einer freien Forschung und Lehre? Was macht diese Freiheit so schützenswert, dass sie hierzulande den Status eines Grundrechts verdient?
Einige Antworten liegen zwar nahe, doch sie greifen oft zu kurz. Ein erster Gedanke könnte lauten, dass Freiheit eben ganz allgemein ein hohes Gut sei und dass dieser Wert sich naturgemäß auch auf die Wissenschaft erstrecke. Diese Überlegung verfehlt jedoch die Besonderheit der Wissenschaftsfreiheit. Denn im Allgemeinen ist die Wissenschaft eher nicht als ein freier Raum gedacht und organisiert. Im Gegenteil, wie allen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern bestens vertraut ist, sind wissenschaftlicher Betrieb und Diskurs wesentlich von Hürden und exkludierenden Mechanismen geprägt. Wer es je unternommen hat, zu promovieren oder einen Text in einem hochrangigen Journal zu veröffentlichen, weiß darum.
Oft wird übersehen, dass die Wissenschaftsfreiheit in dieser Hinsicht ganz anders zu verstehen ist als die Meinungsfreiheit. Letztere entspricht tatsächlich der Idee einer gleichen und möglichst umfassenden Freiheit von Beschränkungen. Die Freiheit der Forschung hingegen ist die Freiheit Weniger – eine Freiheit, die von strengen Kontrollen und Beschränkungen eingehegt ist.
Wenn es also nicht einfach der allgemeine Wert der Freiheit ist, der die Bedeutung der Wissenschaftsfreiheit erklärt, was dann? Vielleicht ist diese Freiheit von instrumenteller Bedeutung, als ein Mittel zum Zweck der Erkenntnisgewinnung? Freie Forschung, so lautet der Gedanke, ist besonders innovative und produktive Forschung. Auch dieser Vorschlag erfasst die normative Grundlage der Wissenschaftsfreiheit nicht zur Gänze. Denn wenn die Freiheit der Forschung nur Mittel zum Zweck wäre, so würde sie den normativen Status aller instrumentellen Güter teilen – und der besteht darin, gegen andere Mittel und Zwecke abwägbar zu sein. Es wäre dann lediglich eine Sache der Klugheit, wenn etwa ein Ministerium mitunter willens wäre, Abstriche bei der freien und effektiven Gewinnung von Erkenntnissen zu machen, wenn dadurch andere politische Ziele effektiver befördert werden könnten.
Die normative Basis der Wissenschaftsfreiheit
Die normative Basis des Grundrechts auf Freiheit der Forschung muss daher noch mehr umfassen. Wenn diese Freiheit eingeschränkt wird, muss mehr auf dem Spiel stehen als eine relative Einbuße in der Effektivität der Wissensgewinnung. Eine unfreie Wissenschaft, so soll hier behauptet werden, wird ihrer Integrität beraubt. Wer der Forschung sachfremde inhaltliche Vorgaben macht, kompromittiert sie als solche.
Woran liegt das? Die Wissenschaften befassen sich mit Gegenständen, Daten und Argumenten, die jeweils ihre eigene Logik mitbringen. Die vorliegenden Belege deuten in bestimmte Richtungen, machen bestimmte Hypothesen eher und andere weniger wahrscheinlich. Was wir von der Wissenschaft erwarten, ist, dass sie diese subtile Eigenlogik ihres Materials getreu wiedergibt. Dazu muss sie frei sein, ihr zu folgen. Jede äußere Vorgabe darüber, zu welchen Resultaten die Wissenschaften gelangen dürfen (und zu welchen nicht), stellt dann einen verzerrenden Faktor dar – zumal, wenn diese Vorgaben aus der Politik stammen und sanktionsbewehrt sind. Wo solche Einflussnahmen erfolgen, können wir nicht mehr sicher sein, dass die Resultate, die wir erhalten, wirklich diejenigen sind, die sich bei unbefangenem Blick als gut begründet erweisen.
Nur eine freie Wissenschaft gibt uns Gewähr, dass wir exakt das erfahren, was jemand zu sagen hat, der oder die ausschließlich dem eigenen besten Urteil über den Gegenstand verpflichtet ist. Diese Freiheit ist also kein optionales Gut, sondern ein konstitutives, das durch die Natur wissenschaftlicher Erkenntnis und Kommunikation vorgegeben ist.
Die Autonomie der Wissenschaft
Das hat Folgen für unseren öffentlichen Umgang mit wissenschaftlichen Resultaten. Nicht nur müssen wir direkte sachfremde Einflussnahmen und Sanktionen vermeiden. Sondern wir sollten auch in der öffentlichen Diskussion wissenschaftlicher Beiträge keine Erwartungen und kritische Maßstäbe anlegen, denen zu folgen für die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eben unvereinbar wäre mit der Freiheit, nur den Belegen zu folgen.
Ich bezeichne dies als die Autonomie der Wissenschaft: Kritik an wissenschaftlichen Beiträgen muss sich, auch im öffentlichen Diskurs, ganz an die eigenen Maßstäbe der Wissenschaft halten.
Gewiss, diese Autonomie zu achten, ist mitunter kein Leichtes. Ein eindringliches Beispiel sind etwa die Thesen von Intelligenzforschern wie Richard Herrnstein und Charles Murray, die in den 1990er-Jahren in ihrem Buch "The Bell Curve" die These vertreten haben, schwarze Menschen hätten genetisch bedingt einen geringeren durchschnittlichen IQ. Diese Behauptung ruft, so zeigt mir meine eigene Erfahrung, oft unmittelbaren Widerspruch hervor, etwa in Form eines entrüsteten: "Jedem aufgeklärten Menschen muss klar sein, dass die Wahrheit ganz anders aussieht" oder eines leichtfertig pauschalen: "Diese ganze IQ-Forschung ist doch eh längst diskreditiert!"
"Kritik an wissenschaftlichen Beiträgen muss sich, auch im öffentlichen Diskurs, ganz an die eigenen Maßstäbe der Wissenschaft halten."
So sehr ich diese Reaktionen nachempfinden kann, hier ist Vorsicht geboten: Sie beruhen in ihrer Unmittelbarkeit allein auf moralischen Vorbehalten. Doch es gibt eben keine Gewähr, dass sich die Wahrheit über Intelligenz, ihre Verteilung und ihre Heritabilität an unsere moralischen Ideen hält. Eine angemessene Kritik an diesen Thesen muss also anders verfahren: Wir müssen ihnen zunächst einmal mit den Kriterien der Wissenschaft begegnen, und zwar in präziser Weise.
Die Autorität der theoretischen Vernunft
Aber sind wir damit dazu verurteilt, die Wissenschaft als einen moral- und politikfreien Raum zu behandeln? Nein – denn die Kriterien der Wissenschaft selbst reichen in Bereiche hinein, die zugleich politisches und moralisches Territorium sind. Warum? Die Wissenschaft ist nicht nur autonom, sie beansprucht auch Autorität. Es ist ihre wesentliche Rolle, ja, es ist die konstitutive Aufgabe der theoretischen Vernunft überhaupt, Erkenntnisse auf eine angemessen solide Basis aus Gründen und Belegen zu stellen. Und das bedeutet zugleich, dass die theoretische Vernunft jeden relevanten Zweifel an der Korrektheit und Zuverlässigkeit dieser Erkenntnisse als ihre ureigenste Zuständigkeit begreifen muss – ganz gleich, woher dieser Zweifel rührt.
"Die Wissenschaft ist nicht nur autonom, sie beansprucht auch Autorität."
Das ist ein entscheidender Gedanke. Denn Zweifel an der ausreichenden Gewissheit einer Hypothese können sich insbesondere auch in unserem praktischen Leben anmelden. Es kann für das soziale Wohlergehen offenkundig wichtig sein, ob zum Beispiel die Berechnungen der Tragfähigkeit einer Brücke auch wirklich korrekt sind. Und obgleich sie sich aus praktischen Interessen ergeben, sind die relevanten Fragen selbst rein theoretischer Natur: Wie sicher ist es, dass die Berechnungen stimmen? Wo sind sie vereinfacht, gerundet, modellhaft und basieren auf Standardwerten? Fragen wie diese, egal aus welchem Interesse sie sich ergeben, muss die theoretische Vernunft gleichsam zur Chefsache machen. Das wird überdeutlich an hypothetischen Äußerungen wie: "Meine Berechnungen ergeben, dass die Brücke ausreichend tragfähig ist. Aber nehmt doch besser die Fähre!" Hier lässt sich der praktische Ratschlag nur so verstehen, dass er zugleich die epistemische Zuverlässigkeit der Berechnungen in Zweifel zieht. Wir trennen die Zuständigkeiten eben nicht, etwa indem wir darauf beharren, die Berechnungen seien zwar theoretisch weiterhin einwandfrei, praktisch jedoch nicht.
Fallibilität und das Einschleichen des Praktischen
Eine weitere wichtige Einsicht: Unser theoretisches Streben nach Wissen kann es sich nicht leisten, jederzeit nur vollständige, unfehlbare Gewissheiten gelten zu lassen. Nicht nur sind solche Gewissheiten mit unseren endlichen Mitteln kaum je zu haben. Außerdem steht unser Interesse an wahren Erkenntnissen vor einem Zielkonflikt, den schon William James benennt: Wer sehr geringe Standards der Rechtfertigung verwendet, nimmt zwar viele Irrtümer in Kauf – doch wer sehr hohe ansetzt, dem entgehen viele wahre Einsichten.
Die Wissenschaften, die empirischen zumal, leben deshalb mit einem gewissen Grad an Fallibilität, Unsicherheit und Vorläufigkeit. Sie gehen von Thesen und Theorien aus, die zwar nach aktuellem Stand als hinreichend gut belegt gelten können, aber unter Umständen im Lichte neuer Belege revidiert werden müssen. Sie können und sollen nicht jegliche Zweifel ausräumen, sondern diejenigen, die sich als triftig und relevant präsentieren – und welche das sind, kann sich angesichts neuer Herausforderungen ändern.
Daraus ergibt sich aber, dass das Auftreten einer praktisch brisanten Lage nach höheren theoretischen Standards rufen kann. Denn wenn erstens die Standards der Theorie nicht immer automatisch die denkbar höchsten sein können und sollen, wenn zweitens praktische Lebenszusammenhänge Zweifel relevant machen können, die fast beliebig große Dringlichkeit annehmen können, und wenn drittens die theoretische Vernunft als solche sich jeden relevanten Zweifel zu eigen machen muss – dann ist eben ein Einfluss der Praxis auf die Standards der Theorie möglich. Es ergibt sich, dass praktische Erwägungen mitbestimmen können, wie gut eine These belegt sein muss, um auch aus der Sicht der Theorie als gerechtfertigt zu gelten. Dieser Zusammenhang heißt in der aktuellen Erkenntnistheorie Pragmatic Encroachment, ein "Einschleichen" praktischer Erwägungen in den vermeintlich "reinen" Bereich der epistemologischen Kriterien.
Rechtfertigung, Irrtumskosten und Moral
Es gilt dann in den Wissenschaften wie sonst auch in unserem Geistesleben: Manche Dinge haben eine solche Tragweite, dass wir uns besser besonders sicher sein sollten, bevor wir sie akzeptieren. Dabei geht es allerdings hier um etwas anderes als um die bekannte Forderung der Technikfolgenabschätzung. Es handelt sich also nicht nur darum, dass die Wissenschaften die praktischen Konsequenzen ihrer Forschungen mitbedenken sollten. Sondern es geht um die ungleich stärkere These, dass diese Folgen auch für die genuin wissenschaftliche Bewertung dieser Forschung relevant sein können.
Hier ergibt sich nun eine Schnittstelle mit Politik und Moral: Etwas zu vertreten, das wir im Lichte der möglichen Kosten nicht gut genug wissen, ist ein klarer Fall einer moralisch kritisierbaren Fahrlässigkeit – und es ist, wenn meine bisherigen Überlegungen stimmen, zugleich eine Fehlleistung unserer theoretischen Vernunft. Es ist ein moralisches und zugleich ein genuin theoretisches Defizit.
Wir müssen in der wissenschaftlichen Beurteilung der Rechtfertigung einer Hypothese die Irrtumskosten im Auge haben – die Kosten also, die sich ergeben würden, wenn wir so handeln, wie es im Lichte der Hypothese vernünftig wäre, diese These dabei aber falsch ist. Die Relevanz dieses Faktors ist uns allen im Zuge der Coronapandemie gegenwärtig gewesen, als wir im Wochentakt über neue Studienergebnisse informiert wurden und gar nicht umhin konnten, die praktische Dimension der Frage, ob diese Resultate ausreichend verlässlich sind, zu spüren.
"Wir müssen in der wissenschaftlichen Beurteilung der Rechtfertigung einer Hypothese die Irrtumskosten im Auge haben."
Und auch die bereits genannten fragwürdigen Thesen der Intelligenzforschung lassen sich aus dieser Perspektive moralisch kritisieren. Ihre theoretischen Mängel sind dabei mittlerweile durchaus bekannt. Verknüpfen wir dies mit der Einsicht, dass diese Thesen hochgradig brisante politische Implikationen haben könnten, wenn wir nach ihnen handeln, so werden diese Thesen auch moralisch kritisierbar – als fahrlässig schwach begründet im Lichte ihrer Irrtumskosten. Diese Kritik ist zugleich wissenschaftlich und moralisch, und sie kann unter Umständen sogar zu Protesten berechtigen.
Wie der Zusammenhang von Kosten und wissenschaftlichen Standards zu verstehen ist, lässt sich mit den formalen Mitteln der Philosophie und der Entscheidungstheorie gut analysieren. Wie diese Kosten freilich im konkreten Falle einzuschätzen sind, steht auf einem anderen Blatt. Es liegt auf der Hand, dass es hier keine Exaktheit gibt.
In der Tat wird dem hier skizzierten Ansatz mitunter vorgehalten, die Größe der Irrtumskosten habe etwas Spekulatives. Ganz gewiss – aber das ist kein Grund, die Kategorie nicht ernst zu nehmen. Zum einen können wir auch unter großer Unsicherheit oft sinnvoll Kosten abschätzen. Es gibt zum Beispiel hochgradig respektable Versuche, sogar die Kosten eines so komplexen Geschehens wie des Klimawandels zu benennen (etwa im bekannten "Stern Review on the Economics of Climate Change"). Zum anderen wäre es offenkundig irrational, die Irrtumskosten wissenschaftlicher Thesen für irrelevant zu erklären, bloß weil sie schwer einzuschätzen sind. Es ist dieser Faktor der Irrtumskosten, an dem sich epistemische und moralische Kriterien begegnen und den wir daher nicht ignorieren dürfen – wie groß die Unsicherheit auch sein mag.
Zum Weiterlesen
Vom Autor ist kürzlich erschienen: Wissenschaftsfreiheit und Moral, Suhrkamp Verlag Berlin, 2024.