Wissenschaftsfreiheit
Ist der freie wissenschaftliche Diskurs in Gefahr?
Der freie wissenschaftliche Diskurs hat in den westlichen Demokratien eine unverzichtbare Funktion für die demokratische Gesellschaft. Alle gesellschaftlichen Bereiche sollen sich auf die Wissenschaft als unparteiische und hohen Qualitätsstandards verpflichtete Erkenntnisquelle stützen können. Deren Ergebnisse sind zwar weder unfehlbar noch innerhalb der Disziplinen unumstritten. Sie repräsentieren aber den jeweiligen Stand einer sorgfältigen Prüfung, die – so die Erwartung – durch ein Interesse an der Wahrheit geleitet wird, das sich nicht politischen Vorgaben unterwirft oder ideologisch manipulieren lässt. Der Stand der Forschung kann daher auch zur Klärung von Fragen herangezogen werden, die in der Öffentlichkeit starke Emotionen hervorrufen. Darüber hinaus dient die Form der sachlichen Auseinandersetzung in der Wissenschaft auch als Vorbild für eine friedliche, mit Sachargumenten geführte Diskussion in der Öffentlichkeit.
Die diskursiven Bedingungen der Wissenschaft
Wie alle Grundrechte lebt aber auch die Wissenschaftsfreiheit von Voraussetzungen, die der staatliche Schutz allein nicht gewährleisten kann (Böckenförde-Diktum). Schon Kant hat in seinem berühmten Aufsatz "Was ist Aufklärung?" darauf hingewiesen, dass die menschliche Vernunft nicht monologisch funktioniert, sondern auf den freien Austausch mit Andersdenkenden angewiesen ist. Diese Erkenntnis wird von der Psychologie und den Kognitionswissenschaften (Mercier & Sperber 2017) bestätigt. Die Fähigkeit und Bereitschaft, verfügbare Informationen zu prüfen und Argumente für und gegen bestimmte Annahmen und Handlungsoptionen abzuwägen, entwickelt sich nur im sozialen Raum. Die einzelne Wissenschaftlerin oder der einzelne Wissenschaftler denkt voreingenommen, unabhängig von ihrer/seiner Intelligenz. Es wird nach Sachverhalten gesucht, die die eigene Meinung bestätigen, nicht nach solchen, die sie widerlegen.
Wissenschaft ist daher nur als ein kollektives Unternehmen möglich, das die intellektuelle Vielfalt und eine auch agonale Form der Auseinandersetzung fördert, die alle unter Druck setzt, ihre Hypothesen, aber auch die Angemessenheit ihrer Begriffe und theoretischen Grundannahmen zu hinterfragen. Sie kann sich nur in einer Debatten- und Streitkultur entfalten, in der die Beteiligten frei sind, eigene intellektuelle Wege zu gehen, und in der es erwünscht ist, auch Überlegungen zur Diskussion zu stellen, die gängigen methodischen und inhaltlichen Annahmen widersprechen. Dabei müssen sich die Beteiligten institutionell unterstützt und geschützt fühlen können. Eine solche Streitkultur kann nur dort reproduziert werden, wo Forschende, Lehrende und Studierende die offene wissenschaftliche Kontroverse schätzen, unabhängig davon, ob sie mit den geäußerten Positionen übereinstimmen oder nicht. In der Theorie ist dies unbestritten.
Konfliktkultur – Schwerpunkt in "Forschung & Lehre"
Die Oktober-Ausgabe von "Forschung & Lehre" widmet sich mit einem Themen-Schwerpunkt der Konfliktkultur in Gemeinschaften wie der Universität.
Die Beiträge:
- Maria-Sybilla Lotter: Bekannte Schweigespirale: Über Streitkultur in den Wissenschaften
- Matthias Middell: Wachsend unwillig: Streit und gesellschaftlicher Zusammenhalt
- Mario Gollwitzer: Epistemische Wahrnehmung schärfen: Zur Rolle von Konflikten aus sozialpsychologischer Sicht
- Sven Bloching | Ekkehard Felder: Im Labor mit Wittgenstein: Von "richtigen" und "falschen" Wörtern im Streit
- Im Gespräch mit Sonja Nielbock: Konflikte in der Universität: Über den Umgang mit Streit, Abgrenzungen und Wettbewerb
Hier geht es zur aktuellen Ausgabe – Reinlesen lohnt sich!
Bedrohungen der Streitkultur in den Wissenschaften
In der Praxis gibt es in den letzten Jahrzehnten nicht nur in autoritären Systemen, sondern auch in der westlichen Welt vermehrt Versuche, der freien Forschung und Diskussion auch zu politisch umstrittenen Themen Grenzen zu setzen. Diese Entwicklung hat sowohl technische, wissenschaftspolitische, ökonomische als auch ideologische Ursachen. Als zwei der entscheidendsten technischen Neuerungen sind die Entwicklung von Smartphones und die Verbreitung der sozialen Medien zu nennen. Sie eröffnen beispielsweise die Möglichkeit, inneruniversitäre Vorgänge wie Äußerungen in einem Seminar aufzuzeichnen und in die Öffentlichkeit zu tragen sowie Kampagnen gegen Lehrende zu organisieren. Gleichzeitig sind die Hochschulen für Skandalisierungen in der Öffentlichkeit anfälliger geworden als früher, weil sie sich heute auch als konkurrierende Unternehmen verstehen, die auf ihr Image achten müssen. Zugleich fehlt an vielen Universitäten noch ein professioneller Umgang mit den sozialen Medien. Wenn eine auch nur kleine Gruppe eine politische Kampagne gegen Hochschulangehörige startet, kann dies dazu führen, dass die Hochschulleitung vorschnell einknickt und sich nicht hinter ihre Professorinnen und Professoren stellt – wie in den weiter unten aufgeführten Fällen teils geschehen.
Ein weiteres Hindernis für eine vielfältige Forschung und eine agonale Streitkultur entsteht durch einen neuen Konformitätsdruck innerhalb des Fachkollegiums durch die Abhängigkeit von Drittmitteln. Viele vermeiden daher nach meiner Erfahrung Themen und Fragestellungen, die politisch kontrovers erscheinen könnten. Wer weiß schon, ob die Kolleginnen und Kollegen, die das neue Drittmittelprojekt begutachten sollen, zwischen wissenschaftlicher Qualität und politischer Erwünschtheit unterscheiden können? Besonders betroffen ist der wissenschaftliche Nachwuchs, dessen berufliche Existenz von solchen Bewilligungen abhängt.
Gerechtigkeit und Schutz von Gruppen
In ideologischer Hinsicht wird die freie Debatte heute weniger aus explizit parteipolitischen Gründen (nach dem Links-Rechts-Schema) infrage gestellt, als vielmehr unter dem moralischen Banner der Gerechtigkeit und des Schutzes vulnerabler Gruppen. Unter diesem Banner versammelt sich eine Vielzahl moralischer Projekte, von der Geschlechtergerechtigkeit über den Schutz und die Förderung von Minderheiten wie Transgender bis hin zur Klimagerechtigkeit.
Im Jahr 2014 hat die amerikanische Studentin Sandra Y. L. Korn im Campusmagazin „The Harvard Crimson“ erstmals eine Priorisierung dieser moralischen Perspektive zum Ausdruck gebracht (die wohl auch von vielen Lehrenden stillschweigend geteilt wurde). Unter der Überschrift "Let's give up on academic freedom in favor of justice" proklamierte Korn: "Student and faculty obsession with the doctrine of 'academic freedom' often seems to bump against something I think much more important: academic justice. […But] why should we put up with research that counters our goals simply in the name of 'academic freedom'? Instead, I would like to propose a more rigorous standard: one of 'academic justice'. When an academic community observes research promoting or justifying oppression, it should ensure that this research does not continue…" Als Beispiel wird die Intelligenzforschung genannt.
Aus Forschung & Lehre 10/24
Jetzt lesenEin politisch aktiver Teil derer, die den Vorrang der Gerechtigkeit vor der Wahrheitssuche fordern, scheint die Suche nach der Wahrheit für bloße Ideologie zu halten und in einer freien und kontroversen Debatte eine Quelle von Ungerechtigkeiten zu halten. Diese Haltung ergibt sich aus der Kombination zweier heute in den Kultur- und Sozialwissenschaften verbreiteter Leitideen:
Erstens bezieht sie sich auf die an Michel Foucault und Pierre Bourdieu angelehnte Vorstellung, dass die soziale Realität vor allem durch die Sprache beziehungsweise durch Diskurse erzeugt wird. Daraus leiten nicht wenige die Forderung ab, dass auch Probleme der Gerechtigkeit durch die Erzeugung und Durchsetzung einer gerechteren Sprache gelöst werden müssen. Zweitens gibt es das Leitbild der menschlichen Vulnerabilität, das besonders auf benachteiligte und marginalisierte Gruppen angewendet wird. Aus der Verbindung dieser Leitbilder entspringt die mehr oder weniger deutlich artikulierte moralische Pflicht, benachteiligte Gruppen vor den Verletzungen durch Sprache zu schützen.
Entsprechend sinkt die Bereitschaft, Beiträge von Andersdenkenden zu heiklen Themen als normalen Bestandteil freier akademischer Debatten zu akzeptieren. Schon vor drei Jahrzehnten äußerte der Wissenschaftsjournalist Jonathan Rauch in seinem Buch "Kindly Inquisitors" die Befürchtung: Ein sehr gefährlicher Grundsatz wird jetzt als soziales Recht eingeführt: Du sollst andere nicht mit Worten verletzen. Dieser Grundsatz ist eine Bedrohung –und zwar nicht nur für die bürgerlichen Freiheiten. Im Grunde bedroht er die liberale Forschung – also die Wissenschaft selbst.
Dieser neue Grundsatz lässt immer wieder Konflikte mit der Forschung und der Wissenschaftsfreiheit entstehen, denn auch sachlich begründete Kritik kann als Kränkung und Verletzung empfunden werden. So wurden seit dem 7. Oktober 2024 mehrmals Künstlerinnen und Künstler und bekannte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wie beispielsweise Nancy Fraser von Vorträgen ausgeladen, wenn sie sich israelkritisch geäußert hatten. Dabei wird in der Regel darauf verwiesen, dass jüdische Studierende vor antisemitischen Äußerungen bewahrt werden müssten. Der Begriff Antisemitismus ist aber nur einer von vielen, deren Bedeutung und Anwendungsbereich hoch umstritten sind, die derzeit in ihrer Anwendung stark erweitert werden und die man in der Philosophie als "basically contested concepts" bezeichnet: Dazu gehören auch Islamophobie, Rassismus, Transphobie und Sexismus, um nur einige Begriffe zu nennen, mit denen derzeit regelmäßig Einzelnen gegenüber Vorwürfe formuliert werden.
"[Zu den 'basically contested concepts'] gehören auch Islamophobie, Rassismus, Transphobie und Sexismus, um nur einige Begriffe zu nennen, mit denen derzeit regelmäßig Einzelnen gegenüber Vorwürfe formuliert werden."
Von Ausladungen und öffentlichen Kampagnen gegen die eigene Person, in denen solche Begriffe zur Diffamierung und Ausgrenzung eingesetzt wurden, waren in den letzten Jahren nicht wenige betroffen. Dazu gehören die Philosophin Kathleen Stock ("Transphobie"), die Ethnologin Susanne Schröter ("Islamophobie"), der Politologe Herfried Münkler ("Rassismus", "Sexismus"), der Historiker Egon Flaig ("Rassismus"), der Philosoph Georg Meggle ("Antisemitismus") und viele mehr. Der Schaden für die freie Debatte, der durch moralisch-politische Kampagnen angerichtet wird, geht weit über den Stress und die Bedrohungen hinaus, denen die jeweils Betroffenen ausgesetzt werden.
Ihr Beispiel wirkt abschreckend und lähmt die freie Debatte. Denn im Zeitalter des schnellen Shitstorms in den sozialen Medien will sich niemand einer öffentlichen moralischen Anklage und Verurteilung aussetzen, sodass Einladungen nicht nur zurückgezogen, sondern in den meisten Fällen gar nicht erst ausgesprochen werden. Der Schaden ist nicht nur für die Wissenschaft, sondern auch für die breitere Öffentlichkeit beträchtlich, denn wo, wenn nicht im geschützten Rahmen der Universität, können politische Streitfragen nüchtern und in gegenseitigem Respekt diskutiert werden?
Ausgrenzung kritischer Stimmen
Diese Ausgrenzung kritischer Stimmen geht nach meiner Beobachtung gelegentlich von Studierenden, gelegentlich von den Rektoraten, in den meisten Fällen aber vom eigenen Fachkollegium aus. Man organisiert Unterschriftenlisten, in denen ein schwarzes Schaf im Fach an den öffentlichen Pranger gestellt wird. Der meines Wissens harmloseste Fall sieht so aus: Ein durchaus angesehener Kommunikationswissenschaftler verfasst einen Meinungsbeitrag für das Debattenforum der Zeitschrift für Publizistik – ein Forum, das nicht der Veröffentlichung neuer Forschung, sondern der kontroversen Debatte dient. Darin kritisiert er, nicht ohne Polemik, die neuen Formen des Genderns. Der Beitrag wird von den Herausgebern einstimmig angenommen; sie vereinbaren zugleich mit einer Gruppe von Befürworter*/:innen diverser Formen des Genderns Entgegnungen, wie bei Meinungsbeiträgen üblich. Die Zusagen werden zurückgezogen. Stattdessen organisiert man im Fach eine Unterschriftenliste und verlangt von der Zeitschrift, solche Beiträge nicht mehr zu drucken. In diesem Fall waren sich konservative deutsche Medien ausnahmsweise einig mit der linken taz, die am 18. Februar 2021 schrieb: "Egal, was man davon hält – darüber muss diskutiert werden dürfen."
Wesentlich schlimmer erging es der englischen Philosophin Kathleen Stock, nachdem sie in verschiedenen englischen Blogs aus feministischer Perspektive Kritik an der Novellierung des englischen Geschlechtsanerkennungsgesetzes geübt hatte. In einem offenen Brief, der von vielen durchaus renommierten internationalen Fachkolleginnen und Fachkollegen unterzeichnet wurde, wurde ihr Transphobie, Verteidigung des Patriarchats und Gefährdung von vulnerablen Transgender-Personen vorgeworfen. Die Folge: Nach Morddrohungen musste sie ihre Professur aufgeben. Auch die Frankfurter Ethnologin Susanne Schröter, deren Kritik an unzureichenden Integrationsmaßnahmen für Muslime in einem offenen Brief im Fachkollegium als "antimuslimischer Rassismus" verurteilt wurde, benötigt inzwischen Polizeischutz.
"Dies verstärkt bei allen die Tendenz zur Selbstzensur und setzt die bekannten Mechanismen der Schweigespirale in Gang."
Viel verbreiteter als solche öffentlich ausgetragenen Kämpfe ist meines Erachtens jedoch die Selbstzensur aus Konfliktscheu und Angst vor beruflichen Nachteilen. Besonders deutlich wird dies bei Themen wie Migrationspolitik, Gendern, Intelligenzforschung, Klimaforschung, der Haltung zum aktuellen Israel-Palästina-Konflikt, der Frage, in welchen Kontexten Geschlecht als frei wählbar oder in welchen als biologisch vorgegeben zu betrachten ist. Wer von Meinungen abweicht, die zurzeit von Aktivistinnen und Aktivisten besonders vehement vertreten werden, zieht es meist vor zu schweigen. Dies verstärkt bei allen die Tendenz zur Selbstzensur und setzt die bekannten Mechanismen der Schweigespirale in Gang.
Autorität der Wissenschaften
Meine Vermutung: Nur wenn wir die Gerechtigkeit – was immer man sich darunter vorstellt – in den Wissenschaften nicht über die Wahrheit stellen, werden wir sie auf Dauer fördern können. Davon hängen auch die Autorität der Wissenschaft und ihr Einfluss in der Öffentlichkeit ab. Gerade wenn man sich für die Belange marginalisierter und ausgegrenzter Gruppen einsetzt, muss man sich auf die Autorität der Wissenschaft stützen können, um Vorurteile in der Öffentlichkeit zu entkräften. Jonathan Rauch – nicht nur Wissenschaftsjournalist, sondern auch Schwulenaktivist – formulierte vor dem Hintergrund seiner eigenen Erfahrungen ein emanzipationstheoretisches Argument für den freien Diskurs in der Wissenschaft: Die größte Gefahr für marginalisierte Gruppen, so Rauch, gehe nicht von irrationalem, sondern von rationalem Hass aus. Darunter versteht er eine Ablehnung, die auf falschen Annahmen über diese Gruppen beruht, die aber durchaus gerechtfertigt wäre, wenn diese Annahmen zuträfen.
Wer zum Beispiel glaubt, dass schwule Männer eine Gefahr für Kinder darstellen, wird diese Personengruppe auch dann ablehnen, wenn man von ihm Toleranz und Respekt einfordert. Diesen Hass kann man nicht abbauen, indem man entsprechende Äußerungen verbietet, sondern nur, indem man ihm die falsche Grundlage entzieht. Das bedeutet, erst als es der Schwulenbewegung gelungen war, die Psychiatrie und Teile der Sozialwissenschaften dazu zu bringen, Vorurteile gegenüber der sexuellen Orientierung von Menschen durch empirische Forschung und Revision psychiatrischer Kategorien zu widerlegen, konnte sich die öffentliche Einstellung gegenüber Schwulen allmählich ändern. Dies wäre nicht möglich gewesen, wenn die Öffentlichkeit nicht darauf vertraut hätte, dass Wissenschaft mehr ist als bloße Meinung und ergebnisoffen forscht – auch wenn sie nicht in einem politikfreien Raum operiert und wichtige Anstöße oft von außerhalb kommen.