Ein Laborant in weißem Kittel nutzt eine Virtual-Reality-Brille, um ein Bakterium per 3D-Modell zu untersuchen.
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Genforschung
KI als schöpferisches Werkzeug der Gen-Optimierung

Das neue KI-Modell "Evo" könnte die nächste Stufe der Evolution einleiten. Ein kalifornisches Forschungsteam prognostiziert Revolutionäres.

15.11.2024

Das neu entwickelte Modell Künstlicher Intelligenz (KI) namens "Evo" ist in der Lage, Genomsequenzen in großem Maßstab nicht nur mittels Deep-Learning-Techniken zu interpretieren, sondern auch durch ein tiefergehendes Verständnis optimierte Genome zu generieren. Diesen Fortschritt meldet das US-Forschungsteam um Bioingenieur und KI-Experte Dr. Eric Nguyen von der Stanford Universität in der heute auf "Science" veröffentlichten Studie "Sequence modeling and design from molecular to genome scale with Evo"

Große Sprachmodelle, also generative KIs, zeigten durch das Training mit riesigen Datenmengen immer bessere Multitasking-Fähigkeiten und Generierungskompetenzen. Verschiedene Ansätze, diese Fähigkeiten auf die synthetische Biologie anzuwenden, seien bislang gescheitert. Es sei schwierig, Genomsequenzen auf der Ebene einzelner Zeichen als Sprache zu analysieren. Dies ist der Studie zufolge nun mit "Evo" und großen Fortschritten in der Signalverarbeitung generativer KI gelungen. "Evo" sei das erste KI-Modell seiner Art, das DNA-Sequenzen im gesamten Genommaßstab mittels Auflösung in Einzelnukleotide (Grundbausteine der DNA) vorhersagt und generiert – wenn auch bislang nur für Prokaryoten wie Bakterien. 

"Die Weiterentwicklung groß angelegter biologischer Sequenzmodelle wie Evo, kombiniert mit Fortschritten in der DNA-Synthese und Genomtechnik, wird unsere Fähigkeit, Leben zu erschaffen, beschleunigen", heißt es in der Studie. Diese Vorhersagefähigkeiten und Generierungskompetenzen des Modells erstreckten sich über molekulare bis hin zu genomischen Komplexitätsskalen und förderten so das Verständnis und den Umfang der Kontrolle in der biologischen Wissenschaft. "Evo" könne Bauanleitungen beispielsweise für eine neuartige Crispr-Genschere entwerfen oder für komplett neue Organismen. "Evo" ist Open Source, um Transparenz und reproduzierbare Forschung zu fördern. 

Potenzielle Sicherheitsrisiken der neuen KI-Kompetenzen 

In erster Linie werden positive Möglichkeiten dieser neuen Erkenntnisse durch das Forschungsteam zum Ausdruck gebracht, wie etwa die Entwicklung von Therapeutika. Doch die Forschenden erwähnen in ihrer Studie auch ethische Implikationen und grundsätzliche Sicherheitsbedenken des genomischen Werkzeugs "Evo". Während das KI-Modell derzeit noch begrenzt sei, könne zukünftig das molekulare Design, die Synthese, die Manipulation und die Verbreitung neuer synthetischer genetischer Materialien Bedenken aufwerfen. Ihre Auswirkungen auf Einzelpersonen, die Gesellschaft und die Umwelt müssten Teil einer öffentlichen Diskussion sein. Als Beispiel nennt das Autorenteam das Potenzial, schädliche synthetische Mikroorganismen zu entwickeln, die natürliche Abwehrkräfte des Körpers umgehen, gegen aktuelle Behandlungen resistent sind oder schwerere Krankheiten verursachen. 

Es brauche unter den Nutzenden deshalb ethische Richtlinien und Schutzmaßnahmen wie beispielsweise Zugangskontrollen, um ungehinderte Abfragen nach schädlichen genetischen Sequenzen einzuschränken. Es sei eine politische Aufgabe, in Bildung und Kapazitätsaufbau zu investieren. Ziel müsse es sein, die nächste Generation von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mit ethischem Scharfsinn und den technischen Fähigkeiten auszustatten, damit sie die Komplexität der genetischen Forschung verantwortungsvoll meistern könnten. 

Der "Tagesspiegel" erwähnt in diesem Zusammenhang ein Projekt des Büros für Technikfolgenabschätzung des Deutschen Bundestags (TAB) namens "Biotechnologie und künstliche Intelligenz: Risiken der Forschung für Sicherheit und Proliferation von Biowaffen". Auf Initiative des Verteidigungsausschusses sollen innerhalb dieses Projekts bis 2026 nach eigenen Angaben mögliche Sicherheitsrisiken analysiert, Kontroll- und Regulierungsmöglichkeiten dargestellt sowie Möglichkeiten zu deren Weiterentwicklung diskutiert werden.

Einordnende Bewertungen aus dem Forschungsfeld

Professor Beat Christen, Direktor des Instituts für Mikrobiologie an der Universität Stuttgart, hält die neuen Forschungsmöglichkeiten für bahnbrechend: "Evo markiert einen Paradigmenwechsel in der Biotechnologie. Bislang wurden Produktionsstämme aufwändig über klassische DNA-Klonierungsmethoden hergestellt, was viel Fachwissen und manuelle Arbeitsschritte im Labor erforderte", führt er gegenüber "Science Media Center" (SCM) aus. "Im digitalen Raum entstehen neue DNA-Sequenzen, die anschließend durch chemische DNA-Synthese physisch hergestellt und in Zellen eingeschleust werden können. Dieser Ansatz der Digitalen Biologie beschleunigt die Entwicklung biotechnologischer Produktionsstämme oder therapeutischer Proteine für medizinische Anwendungen enorm", ordnet Christen die neue Technologienutzung weiter ein. In der Weiterentwicklung könnten neben neuen Proteinen zunehmend komplexe biologische Systeme, bis hin zu nützlichen Organismen, von Grund auf neu konstruiert werden.

"Durch Evo eröffnen sich etliche neue Anwendungsmöglichkeiten. Zum Beispiel kann man damit untersuchen, welchen Einfluss Mutationen auf die Funktionalität von Proteinen haben oder welche Mutationen beispielsweise für Antibiotikaresistenzen verantwortlich sind", befindet Professor Benedikt Brors, Leiter der Abteilung Angewandte Bioinformatik des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) in Heidelberg gegenüber SCM. "Im Tool steckt, was es eigentlich gelernt hat, um die Vorhersagen machen zu können. Wenn es uns gelingt diese Information zu extrahieren, werden wir viel darüber lernen wie Viren und Bakterien funktionieren", meint Dr. Anna Poetsch, Forschungsgruppenleiterin am Zentrum für Biotechnologie der Technischen Universität Dresden. Dazu könne das Modell für viele weitere Fragen angepasst werden, so dass der Fantasie kaum Grenzen gesetzt seien, führt sie gegenüber SCM fort. "Missbrauch setzt eine schlechte Intention voraus, aber gefährlicher ist vermutlich das Verwenden von Tools mit Unkenntnis. Missbrauch ist schwer zu stoppen, aber Problemen durch unsachgemäßen Umgang kann mit Forschungsförderung vorgebeugt werden", räumt sie als schädliche Anwendungsoptionen ein.

"Zum Beispiel kann man damit untersuchen, welche Mutationen beispielsweise für Antibiotikaresistenzen verantwortlich sind."
Professor Benedikt Brors, Deutsches Krebsforschungszentrum Heidelberg

Julien Gagneur, Professor für computergestützte Molekularmedizin an der Technischen Universität München (TUM) sieht die Übertragbarkeit der Genom-Analyse durch KI auf alle Organismen noch nicht gegeben: "Derzeit ist das Problem der Übertragbarkeit dieser Modelle auf Eukaryonten und insbesondere Säugetiere noch nicht gelöst. Die Genome von Säugetieren sind viel größer als die von Prokaryonten, es gibt viel weniger Säugetierarten und sie ähneln sich in der Regel auch stärker. Dies schränkt die Lernfähigkeit solcher Modelle ein". Deshalb werde ein einfaches Training von "Evo" mit Säugetieren wahrscheinlich kein nützliches Modell für die Vorhersage der Auswirkungen menschlicher Genome hervorbringen.

Dieser Artikel wurde am 15. November um 16:40 Uhr aktualisiert und am selben Tag erstmals veröffentlicht.  

cva