Illustration der Genschere Crispr/Cas
picture alliance / AGRAR-PRESS / ap

Genomeditierung mit CRISPR/Cas
Kleine Eingriffe, große Fragen

CRISPR/Cas ist aus den Lebenswissenschaften nicht mehr wegzudenken. Dabei zeigt die "Genschere" wie kaum ein anderes Werkzeug ethische Dilemmata auf.

Von Norbert W. Paul 22.10.2021

"Der Unterschied zwischen Theorie und Praxis ist in der Praxis oft krasser als in der Theorie". Dieser Spruch, eingeritzt in Hörsaaltische in Zeiten von Präsenzunterricht, ist spielerisch, trifft aber die aktuelle Ausgangslage der Debatte um CRISPR/Cas recht gut. CRISPR/Cas ist ein niederschwelliges Werkzeug zum Schneiden und gezielten Verändern von – auch menschlichen – Genomen. Das Verfahren kann in jedem halbwegs gut ausgerüsteten Labor durchgeführt werden. Sowohl Eingriffe in differenzierte (somatische) Körperzellen als auch in die Keimbahn sind möglich. Während die Auswirkungen der somatischen Gentherapie auf das jeweilige Individuum begrenzt bleiben, wirkt sich die Keimbahntherapie auf Nachkommen aus und hat potenziell transgenerationelle Effekte, die kaum rückholbar sein dürften.

Damit hat eine seit vielen Jahrzehnten unter der Bedingung von Möglichkeiten geführte – oft theoretische – Debatte nun einen sehr konkreten Anlass, praktisch zu werden. Was ist gemeint? Im Februar 1975 wurden neue rekombinante Techniken der Genmanipulation zur Übertragung von Genabschnitten zwischen unterschiedlichen Organismen auf einer viel beachteten Tagung in Asilomar in Kalifornien diskutiert. Es kam zu einer freiwilligen Selbstkontrolle der Wissenschaften mit einem Moratorium. Seitdem werden Verfahren der Genomeditierung kritisch und mit öffentlicher Aufmerksamkeit begleitet. Kaum ein anderer Bereich der biologischen Grundlagenforschung ist hinsichtlich potenzieller Chancen und Risiken so gründlich unter die Lupe genommen worden. Umfassende, staatlich geförderte Begleitforschung hat neben grundlegendem ethischen Orientierungswissen auch Beiträge zur Technologienfolgeabschätzung hervorgebracht. All dies stand lange Zeit lediglich unter der prinzipiellen Annahme der klinischen Anwendbarkeit. Frühe Versuche zur Gentherapie in den 1990er Jahren wurden auf Intervention der US-amerikanischen National Institutes of Health (NIH) ins Labor zurückverlegt. Die zuverlässige Erreichbarkeit therapeutisch relevanter Zielstrukturen (gene targeting), die stabile Integration des korrektiven genetischen Materials in das Genom (gene integration) und die therapeutisch wirksame Aktivierung (gene expression) stellten eine sichere und wirksame Anwendung in Frage.

CRISPR/Cas erlaubt breite Anwendung von Gentherapien

Sehr früh wurde bei der Gentherapie zwischen Eingriffen in funktional ausdifferenzierte Körperzellen und reproduktive Zellen der Keimbahn unterschieden. Eingriffe in die Keimbahn wurden stets als ethisch bedenklich angesehen. Man befürchtete eine "Neo-Eugenik" und genetische Selbstoptimierung des Menschen mit zweifelhaftem Ausgang. Es waren auch die schwer abzuschätzenden transgenerationellen Effekte von Keimbahnveränderungen, die als möglicherweise fehlerbehaftete Technoevolution des Menschen abgelehnt wurden. Die auf das Individuum beschränkte somatische Gentherapie wurde und wird, wenn auch mit Vorbehalten gegenüber der Neuartigkeit der Technologie, als medizinisch sinnvoll, sozial akzeptabel und ethisch rechtfertigbar angesehen. Solche Therapien wurden schon Ende der 1990er Jahre an einzelnen Patienten durchgeführt. Eine breite Anwendung der Verfahren war nicht in Sicht.

"Daher sind wir aufgefordert, jetzt zu entscheiden, welche Formen der somatischen Gentherapie oder der Keimbahnintervention wir zulassen."

Dies hat sich nun mit CRISPR/Cas geändert. Das mit relativ geringem Aufwand kostengünstig zu etablierende Verfahren lässt eine breite, anwendungsorientierte Forschung und Entwicklung zu. Zwar ist die Implementierung klinischer Anwendungen ebenfalls schwierig, denn geringfügig gegenüber der Zielregion versetztes Schneiden des Genoms mit dem dann ebenfalls versetzten Einfügen von Information stellt noch ein pragmatisches Problem dar. Diese so genannten "off-target-effects"  führen zu unerwünschten Veränderungen des Genoms mit nicht immer absehbaren Folgen. Gegenüber frühen, sehr grundlegenden Herausforderungen des "gene targeting" befindet sich CRISPR/Cas jedoch eher in einer Phase der Feinjustierung. Daher sind wir aufgefordert, jetzt zu entscheiden, welche Formen der somatischen Gentherapie oder der Keimbahnintervention wir zulassen. Die Frage, ob Genomeditierung überhaupt stattfinden sollte, muss durch das ubiquitär verfügbare, niederschwellige Werkzeug CRISPR/ Cas als beantwortet angesehen werden. Ein erneutes Moratorium – wie etwa vom Deutschen Ethikrat vorgeschlagen – wird wohl nicht standhalten.