

Ein Jahr Krieg in Nahost
Krieg als Härtetest für Gesellschaft und Hochschulen
"Keine Statistiken und keine Worte können das Ausmaß der physischen, psychischen und gesellschaftlichen Zerstörung vollständig wiedergeben", sagt Joyce Msuya, stellvertretende Generalsekretärin des Büros für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) der Vereinten Nationen (UN) laut einer Meldung der Organisation. Anlass ist der Jahrestag des Massakers der Hamas in Israel am 07. Oktober 2023.
Vor einem Jahr haben die Hamas und andere bewaffnete palästinensische Gruppen in Israel mehr als 1.200 Männer, Frauen und Kinder getötet, worauf Israel bis heute mit massiven Vergeltungsangriffen reagiert. Die Deutsche Presseagentur beschreibt die folgenden Monate als Israels längsten und blutigsten Krieg seit der Staatsgründung 1948 und als einen unerträglichen Härtetest für die Gesellschaft.
Hochschulen mitten im Krieg
Laut des Berichts "Education under Attack 2024" war die Ukraine in den Jahren 2022 und 2023 mit mehr als 35 gemeldeten Fällen zwar das am stärksten von Angriffen auf Hochschuleinrichtungen betroffene Land. Palästina folgte darauf: Es habe ebenso wie der Sudan und der Jemen jeweils zehn und mehr Angriffe auf die Infrastruktur der Hochschulen verzeichnet.
Den zuletzt veröffentlichten Zahlen des Büros für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) der Vereinten Nationen (UN) zufolge waren am 6. Mai knapp 408 Bildungseinrichtungen (rund 73 Prozent) im Gaza-Streifen nicht mehr nutzbar. 625.000 Schülerinnen, Schüler und Studierende haben keinen Zugang mehr zu Bildung – das entspricht quasi 100 Prozent.
Der Krieg im Diskurs auf dem Campus und in der Wissenschaft
Als Reaktion auf die Auseinandersetzungen in Nahost fanden an zahlreichen Universitäten in den USA und weltweit Protestaktionen statt, die teils von gewaltvollen Übergriffen oder Ausschreitungen begleitet wurden. Auch in Deutschland kamen einige Hochschulleitungen bei der Regulierung der Proteste und dem Schutz jüdischer Studierender an ihre Grenzen. Im wissenschaftlichen Diskurs tun sich viele schwer, im Ringen um die Analyse und Bewertung der kriegerischen Auseinandersetzungen sowie deren globalen Folgen die aufkeimenden Emotionen beiseite zu lassen.
Simon Wolfgang Fuchs, Associate Professor für Islam in Südasien und im Nahen Osten an der Hebräischen Universität in Jerusalem, ist in den letzten Monaten stark aufgefallen, dass sich viele deutsche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit Regionalexpertise auffallend zurückhalten, was öffentliche Einschätzungen zur Situation in Gaza, Libanon und Israel anbelange. "Ich kann das absolut verstehen – man vermag meist einfach nur das Falsche zu sagen und wird leicht in den sozialen Medien in der Luft zerrissen."
Zum Glück gebe es laut Fuchs Journalistinnen und Journalisten, die fantastische Arbeit vor Ort leisteten. Sie würden nicht nur Äußerungen der Hamas, Hisbollah oder der israelischen Armee wiedergeben, sondern wirkliche Recherchearbeit betreiben. "Dennoch finde ich das wissenschaftliche Wegducken bedenklich. Unsere Stärke als an den Universitäten beheimatete Forschende besteht ja eigentlich darin, aktuelle Entwicklungen in größere Zusammenhänge einzuordnen, Gegenwart und jüngere Vergangenheit zusammenzubinden und nicht einfach stets der nächsten Eskalation atemlos und munter spekulierend hinterherzuhecheln."
Was ist von der Forderung aus der Politik zu halten, dass sich Hochschulen klar "Pro Israel" beziehungsweise "Kontra Antisemitismus" zu positionieren haben? Fuchs sieht das differenziert: "Ich kann mit derlei allgemeinen, unbeschränkten Aufrufen zur Solidarität wenig anfangen. Es ist keine Frage, dass antisemitische Verschwörungserzählungen aufs schärfste bekämpft werden müssen, dass jüdische Menschen in Deutschland und Israel sicher leben sollen und dass jeder akademischen Romantisierung von Terrorismus entgegenzutreten ist", konstatiert er. Die Verquickungen und Grenzen von Israelkritik und Antisemitismus würden in der deutschen Antisemitismusforschung allerdings kontrovers diskutiert. "Wen lassen wir hier als Schiedsrichter zu?," fragt Fuchs. "Die Geheimdienste hoffentlich nicht. Und heißt Solidarität mit Israel auch, dass man als Hochschule klar hinter einer teils extrem rechten Regierung stehen muss, in der es Minister gibt, die palästinensisches Leben abwerten?"
Seiner Meinung nach könne Israel für Deutschland bei all diesen Aspekten Vorbild und Warnung zugleich sein. Auf der positiven Seite werde hier viel leidenschaftlicher und offener medial über den Kurs des Landes und über die Bewertung der israelischen Politik in Gaza gestritten. "Auf der anderen, negativen Seite haben wir es im israelischen Hochschulsystem mit Gruppen und Akteuren zu tun, die ganz gezielt Kolleginnen und Kollegen verunglimpfen und mit Kampagnen öffentlich an den Pranger stellen als 'Terrorbefürworter' oder 'Verräter', mit ernsthaften Gefahren für Leib und Leben."
In Israel Lehrende und Forschende bräuchten aus der Perspektive des Regionalexperten Fuchs in diesen schweren Monaten kritische internationale Begleitung und Kontakte, da ihnen sonst die Luft zum Atmen fehle anhand deprimierender lokaler und regionaler Aussichten.
cva