Fingerabdruck in einem Blutstropfen unter der Lupe
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Schuld und Strafe
Kriminalitäts-Statistik versus gefühlte Sicherheit

Ein Blick in Kriminalitätsstatistiken versachlicht manche Diskussion. Ein Kriminologe erklärt, was beim Lesen der Statistiken zu beachten ist.

Von Vera Müller 16.11.2019

Forschung & Lehre: Herr Professor Bliesener, wie hat sich die Kriminalität in Deutschland über die Jahre entwickelt? Können Sie ein paar bemerkenswerte, vielleicht überraschende Entwicklungen aufzeigen?

Thomas Bliesener: Generell kann man sagen, dass die Kriminalität insgesamt abgenommen hat. Wenn wir einen Vergleich ziehen mit 1993 – seit dieser Zeit gibt es für Gesamtdeutschland eine Polizeiliche Kriminalitätsstatistik (PKS) –, dann hat sich die Zahl der Straftaten, die zur Anzeige gebracht worden sind, von etwa 6,7 auf 5,5 Millionen reduziert. Das gilt für alle Straftaten. Davon sind allerdings etwa zwei Drittel Eigentumsdelikte, das heißt Diebstahl-, Betrugs- und Sachbeschädigungsdelikte. Diese Straftaten beunruhigen die Bevölkerung im Allgemeinen nicht so wie zum Beispiel schwerere Formen der Gewalt oder Sexualdelikte. Schauen wir uns in diesen Bereichen die Zahlen an, zeigen sich zum Teil andere Entwicklungen. Auffällig ist zum Beispiel jüngst ein Anstieg bei den Sexualstraftaten. Hier muss man aber berücksichtigen, dass 2016 der Gesetzgeber die Sexualstraftaten neu normiert hat und mehr Taten in diesen strafrechtlich relevanten Bereich fallen. Es sind also mehr Handlungen einer Strafe unterstellt worden.

Portraitfoto von Prof. Dr. Thomas Bliesener
Professor Thomas Bliesener ist Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen privat

F&L: In welchem Verhältnis stehen Straftaten von deutschen und nichtdeutschen Tätern?

Thomas Bliesener: Nichtdeutsch ist in der polizeilichen Kriminalstatistik derjenige, der keinen deutschen Pass, also keine deutsche Staatsangehörigkeit hat. Im Fall einer doppelten Staatsangehörigkeit wird die Person, obwohl sie dann auch nichtdeutsch sein kann, als Deutsche gezählt. Bei den meisten Straftaten werden die nichtdeutschen Tatverdächtigen etwa in dem gleichen Rahmen auffällig wie die Deutschen. Zum Teil sind sie aber auch häufiger straffällig. Das können wir auf verschiedene Faktoren zurückführen: Zuwanderer sind in der Regel jünger als die einheimische Bevölkerung und auch etwas häufiger männlichen Geschlechts. Zudem wissen wir auch von den einheimischen Deutschen, dass es vor allem die jungen Männer sind, die die meisten Straftaten begehen. Ein Teil lässt sich also mit den soziodemografischen Merkmalen erklären. Diese Erklärung reicht jedoch nicht aus, wenn wir eine weitere Gruppe, die Migranten, betrachten. Hier haben wir eine noch etwas höhere Belastung als bei der Gruppe der Nichtdeutschen.

F&L: Wie ist die Kriminalstatistik zu bewerten? Wo liegen ihre Grenzen?

Thomas Bliesener: Zum Problem wird es, wenn man die PKS als Abbild der tatsächlichen Kriminalität betrachtet. Die PKS bildet nur das ab, was der Polizei bekannt wird. Und bekannt wird ihr das in der Regel, indem ein Opfer  die Straftat zur Anzeige bringt. Viele Opfer scheuen aber davor zurück, eine an ihnen begangene Straftat zu melden, möglicherweise, weil sie sich schämen. Im Bereich der Sexualstraftaten ist das häufig ein Motiv. Es kann aber auch sein, dass sie sich von der Strafverfolgung keinen Nutzen versprechen. Schließlich kommt es auch vor, dass Opfer die Straftat gar nicht bemerken. Zum Beispiel beim Taschendiebstahl wird gar nicht selten angenommen, dass man das Portemonnaie verlegt oder irgendwo liegen gelassen hat. Die PKS ist eine "Erledigungsstatistik", ein Beleg sozusagen für die Arbeit der Polizei. In gewisser Weise hat die Polizei immer ein Interesse daran, dass sie Straftaten registrieren kann, weil sie dadurch ihre eigene Existenz rechtfertigt. Und natürlich ist es für sie von Vorteil, wenn in bestimmten Bereichen die Häufigkeit oder die Zahl steigt, weil man damit politische Forderungen wie Ausstattung, Mittelzuwendung et cetera durchsetzen kann.

F&L: Warum haben Menschen trotz der statistischen Abnahme von Verbrechen diffuse Ängste?  

Thomas Bliesener: Die Furcht vor Kriminalität ist zunächst einmal etwas Irrationales, da lässt sich mit nüchternen Zahlen wenig bewirken. Bei der Kriminalität erleben wir in den letzten Jahren tatsächlich ein deutliches Auseinanderdriften der vorhandenen Zahlen und der gefühlten Unsicherheit. Und dabei beziehe ich mich nicht nur auf die PKS, sondern auch auf die sogenannte Dunkelfeldforschung. Hier befragen wir die Bevölkerung im Rahmen repräsentativer großangelegter Studien, was ihr im letzten Jahr zugestoßen ist, wie sie damit umgegangen ist, ob sie das der Polizei gemeldet und wie die Polizei darauf reagiert hat. Darüber lässt sich das Dunkelfeld erhellen. Die daraus resultierenden Zahlen können wir dann auf die Gesamtbevölkerung hochrechnen.

"Die Furcht vor Kriminalität ist zunächst einmal etwas Irrationales, da lässt sich mit nüchternen Zahlen wenig bewirken."

Obwohl die Kriminalität eher gesunken ist beziehungsweise zumindest in weiten Bereichen stagniert, steigt das subjektive Empfinden, dass die Kriminalität zunimmt. Zu der Frage, warum das so ist, existieren bisher keine wirklich verlässlichen und hinreichend aussagekräftigen Studien. Allerdings geben einige Studien Hinweise. In bestimmten Fällen greift das, was die Psychologie Verfügbarkeitsheuristik nennt. Wenn man also die Häufigkeit eines Ereignisses danach einschätzt, wie häufig man selbst davon gehört oder etwas Entsprechendes erlebt hat. Hinzu kommen bestimmte Mechanismen in unserer modernen Medienlandschaft. Untersuchungen zeigen recht übereinstimmend, dass heute über einen einzelnen Vorfall, das heißt eine einzelne Straftat und deren Folgen, viel häufiger berichtet wird als in früheren Zeiten. Eine einzelne Straftat produziert heute viel mehr Nachrichten. Das ist der erste Mechanismus. Der zweite Mechanismus, der auch diese Verfügbarkeitsheuristik bedient, sind Bilder. Wir sind heute sehr viel stärker mit Videokameras ausgestattet, die uns auch mit authentischem Material von zum Beispiel schweren Gewaltvorfällen beliefern. Die Dynamik dieser bewegten Bilder hat eine ganz besondere Qualität, sie graben sich ins Gedächtnis ein und sind dann im Nachhinein auch immer wieder verfügbar. Wenn ich über Gewalt nachdenke, fällt mir dieses Bild, das ich irgendwann einmal gesehen habe, wieder ein und bedient meine Verfügbarkeitsheuristik. Der dritte Mechanismus sind die sozialen Medien. Durch unser Verhalten in den sozialen Medien, durch die Recherche im Internet und die dahinter liegenden Algorithmen werde ich viel stärker mit Informationen zu Inhalten versorgt, mit denen ich mich mal beschäftigt habe. Auch dadurch entsteht der Eindruck, dass viel mehr passiert.

F&L: Wie lässt sich hier gegensteuern?

Thomas Bliesener: Man muss die objektiven Daten präsentieren, sie aber auch in ihren Grenzen beziehungsweise ihrer Beschränktheit vorstellen. Sie allein bilden nicht die Wirklichkeit ab. Sie dokumentieren, was der Polizei bekannt wird. Da wir die Zahlen auf gleiche Art und Weise über viele Jahre erheben,  lassen sich Veränderungen in vielen Bereichen sehr gut abbilden. Das ist zwar nur die Spitze eines Eisbergs, aber offensichtlich verändert sich das, was dort herausschaut, in bedeutsamer Art und Weise. Dadurch erhalten wir eine verlässliche Information.

F&L: Die Deliktstruktur ist nichts Statisches, Verschiebungen und Erweiterungen fordern Polizei und Staat heraus. Können Sie an einem Beispiel zeigen, auf welche Art und Weise die Polizei darauf reagiert?

Thomas Bliesener: In der Tat gibt es Verschiebungen innerhalb der Deliktstruktur von PKS. Vor einigen Jahren sahen wir uns zum Beispiel mit einem Anstieg beim Tageswohnungseinbruch konfrontiert. Die Einbrüche haben die Öffentlichkeit sehr stark verunsichert, weil sie ein Eingriff in die Intim- beziehungsweise Privatsphäre sind. Die Opfer nehmen das häufig sehr problematisch auf, nicht selten tragen sie Traumatisierungen davon. Diese Zunahme hatte zur Folge, dass die Polizei ihre Anstrengungen, auch in der Prävention, verstärkt hat. Sie beriet die Bürger, wie sie ihr Haus sichern können. Auch die Sicherheitsindustrie reagierte entsprechend, so dass die Zahlen tatsächlich in der zeitlichen Folge wieder zurückgingen. Als dieser Bereich nicht mehr so akut war, konzentrierte sich die Polizei auf andere Felder, zum Beispiel auf Drogenkonsum und -handel. Wird hier wenig oder gar nicht kontrolliert, gibt es keine Kriminalität, die Opfer beziehungsweise die Konsumenten zeigen sich ja nicht selbst oder ihre Dealer an. Wenn Ressourcen in diesen Bereich hineingegeben werden, wird die Zahl der Delikte dort steigen. Diese Delikte kommen also aus dem Dunkel- ins Hellfeld, weil die Polizei stärker kontrolliert. Wenn mehr kontrolliert und ermittelt wird, kann das aber auch die tatsächliche Kriminalität reduzieren, weil es für die Täter gefährlich wird.

Natürlich entstehen immer neue Deliktformen, für die der Gesetzgeber zunächst keine Sanktion vorgesehen hat. Ein Beispiel ist Stalking, das Nachstellen. Auch früher wurde solch ein Verhalten nicht toleriert; gesellschaftlich war es tabuisiert, aber es kam vor. Erst nachdem einige der Opfer öffentlich gemacht haben, wie sehr sie darunter leiden, ist der Gesetzgeber eingeschritten. Ähnliches gilt für die Vorfälle Silvester 2015/16 auf der Domplatte in Köln. Täter begingen sexuelle Übergriffe in der Gruppe und nutzten die Hilflosigkeit der Personen, in der Gruppe nicht weglaufen zu können, aus. Der Gesetzgeber reagierte, indem er die entsprechenden Paragraphen neu formulierte.

F&L: Was hat sich in der gesellschaftlichen Einstellung zum Bestrafungssystem in Deutschland verändert?

Thomas Bliesener: In der Vergangenheit haben wir die sogenannte Punitivität, den Wunsch nach Strafhärte, für Deutschland und andere Länder angeschaut, und zwar bei Frauen und Männern, Jungen und Alten, denen, die bereits Opfer einer Straftat geworden sind, und denen, denen das noch nicht passiert ist. Heute stellen wir fest, dass es auch sehr stark vom Delikt abhängt. Opfer von Sexualstraftaten wünschen sich nicht nur, dass der Täter bestraft werden soll, sondern häufig auch, dass die Gesellschaft anerkennt, dass dem Opfer Unrecht widerfahren ist. Dieser Wunsch ist bei Opfern von Sexualstraftätern sehr mächtig, möglicherweise wegen einer – vermeintlichen oder echten – Unterstellung in der Gesellschaft, das Opfer habe ja auch eine gewisse Teilschuld.

F&L: Wie steht die Bevölkerung in Deutschland zu einer verstärkten Polizeipräsenz?

Thomas Bliesener: Die allgemeine Bevölkerung steht der Arbeit der Polizei sehr positiv gegenüber. Auch die Polizei selbst hat ein hohes Ansehen, das zeigen unsere repräsentativen Studien aus Schleswig-Holstein und Niedersachsen. Eine Erhöhung der Präsenz im allgemeinen Orts- beziehungsweise Stadtbild wird begrüßt. Negative Effekte zeigen sich eher dort, wo die Polizei im großen Aufgebot martialisch in Schutzkleidung auftritt. Hier haben wir Hinweise, dass die Präsenz von Polizei Gewalttaten sogar eher befördert. Das gilt für Massenveranstaltungen, Demonstrationen, Konzerten oder Fußballspiele.

F&L: Die Ansichten zum Strafmaß beziehungsweise zur Strafhärte divergieren in der Gesellschaft. Wie wirksam sind harte Strafen?

Thomas Bliesener: Weltweit existieren viele Studien zum Zusammenhang zwischen dem Aufkommen von Kriminalität und der Höhe der Strafe, die für ein bestimmtes Verhalten vorgesehen ist. Da zeigt sich zum Beispiel bei Vergleichen von amerikanischen Bundesstaaten, in denen es die Todesstrafe gibt oder nicht, dass Straferhöhungen bis hin zur Todesstrafe wenig bringen. Es ist ja nicht so, dass sich durch die Todesstrafe die Zahl der Morde reduzieren lässt.

"Der einzige Bereich, in dem ein härteres Strafmaß nachweislich abschreckend wirkt, ist der Straßenverkehr."

Dieser rationale Gedanke, höhere Strafen könnten Menschen von ihrem straffälligen Verhalten abhalten, gilt nur für Straftaten, die einer gewissen kognitiven Kontrolle unterliegen, bei denen also rationales Verhalten vorausgesetzt werden kann. Das mag beim Betrug gelten, bei Einbruch oder Diebstahl, aber schon nicht mehr bei vielen Körperverletzungsdelikten beziehungsweise Gewaltstraftaten. Hier setzt der Affekt, die emotionale Erregung, die meistens durch Streit und Konflikt angestoßen wird und auch eskaliert, dieses rationale Kalkül, welche Strafe mir droht, wenn ich das jetzt weitermache, außer Kraft. Der einzige Bereich, in dem ein härteres Strafmaß nachweislich abschreckend wirkt, ist der Straßenverkehr. Strafen funktionieren offensichtlich beim großen Teil der Bevölkerung. Für einen kleinen Teil der Bevölkerung gilt allerdings, dass er aus Strafen nichts lernt. Das konnte über ganz unterschiedliche methodische Herangehensweisen national wie international gezeigt werden. Möglicherweise sind diese Menschen in ihrer Erziehung nicht konsequent bestraft worden für Fehlverhalten oder waren grundsätzlich nicht in der Lage, aus schlechten Erfahrungen zu lernen. Was hilft ist, die Wahrscheinlichkeit des Entdeckt werdens zu erhöhen. Wichtig sind mehr Kontrollen, mehr soziale Aufsicht, um dadurch die Feststellung der Täterschaft zu erleichtern, aber nicht die Strafhärte.

F&L: Genau das wird in der digitalisierten Welt nicht leichter...

Thomas Bliesener: Die Schwierigkeit besteht darin, dass sich der Täter durch die Digitalisierung nicht mehr unmittelbar am Ort befinden muss. Das macht die Strafverfolgung natürlich ganz schwierig. Notwendig ist sicher eine Kooperation der Sicherheitsbehörden, vielleicht nicht in jedem Winkel dieser Welt, aber doch zumindest in den entwickelten Ländern, damit gemeinsam ermittelt und auch bei der Strafverfolgung an einem Strang gezogen werden kann. Notwendig ist aber sicher auch eine sich weiterentwickelnde Sensibilität des einzelnen Nutzers, dem klar gemacht werden muss, welche Gefahren drohen. Es braucht Aufklärung, Instruktion, um dann auch wirksame Gegenmaßnahmen gegenüber Angriffen entwickeln zu können. Um Angriffe von größeren Organisationen – durch organisierte Kriminalität oder bestimmte Staaten – abzuwehren, braucht es eine bestimmte Kapazität. Diese Kapazität sollte in einer staatlichen Behörde, die großen technischen Sachverstand und Expertise vereinigt, vorhanden sein.  

F&L: Wie gut sind wir da aufgestellt in Deutschland?

Thomas Bliesener: Wir haben die Bundesanstalt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI). Diese Behörde ist ganz gut aufgestellt, aber sie hat Schwierigkeiten, sehr gutes Fachpersonal zu gewinnen. Sie konkurriert mit der Industrie, die höhere Gehälter zahlen kann. Aber es wird sicher auch Experten geben, für die das Geld nicht das allein Entscheidende ist und die andere Lebensmotive haben – und denen es vielleicht wichtig ist, für die Gesellschaft etwas zu leisten.