Das Bild zeigt eine Menschenmenge auf der Kölner Domplatte.
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Zustand der Demokratie
Krise ohne Alternative?

Im globalen Superwahljahr 2024 muss sich die Demokratie bewähren. Eine Gemengelage aus Ängsten und Hoffnungen ist für Krisenstimmungen typisch.

Von Jens Hacke 07.08.2024

Die einen warnen vor dem Untergang, die anderen erhoffen sich die Kehrtwende und ein Zurück zu einer demokratischen Normalität. Wahrscheinlicher ist, dass auch nach den Wahlen in der EU, in Frankreich, im Vereinten Königreich, in den ostdeutschen Bundesländern und in den USA kein gordischer Knoten gelöst sein wird. Sogar Wahlsiege von antiliberalen Rechtspopulisten markieren noch nicht das Ende der Demokratie, denn das gewaltenteilige Institutionenarrangement parlamentarischer und föderaler Regierungsformen verhindert in seiner defensiven Anlage vorerst die eigene erdrutschartige Beseitigung. Es ist unwahrscheinlich, dass die Demokratie mit einem großen Knall verschwindet. Eher gerät sie in einen schleichenden Erosions- und Transformationsprozess – es entwickeln sich Regimeformen, für die es noch keine Namen gibt und die sich von herkömmlichen Autokratien unterscheiden. 

Der Althistoriker Christian Meier hat den Untergang der römischen Republik als "Krise ohne Alternative" erklärt, und zwar dahingehend, dass die Akteure und Zeitgenossen in ihren traditionellen Vorstellungen befangen blieben, ohne ein der Expansion Roms angemessenes neues Ordnungsmodell imaginieren zu können. Alternativen gibt es immer, aber die Sinne für historischen Wandel und künftige Entwicklungsmöglichkeiten müssen geschärft bleiben, um Veränderungen zu gestalten – und die Demokratie neuen Herausforderungen anzupassen. Man sollte meinen, dass der Erfahrungsschatz des 20. Jahrhunderts, im Bösen wie im Guten, genügend Reflexionsmaterial bietet, um sich für kommende Aufgaben zu rüsten.

Zunehmender Druck auf westliche Demokratien

Im vergangenen Jahrzehnt hat der Druck auf die Demokratien des Westens auf allen Ebenen zugenommen: Erstens ist sozioökonomisch die Schere zwischen Arm und Reich auseinandergegangen, wirtschaftliche Krisen engen Verteilungsspielräume und Aussichten auf Wachstum ein. Mit Blick auf zunehmend multiethnische Gesellschaften führen zweitens Migrationsbewegungen aus dem globalen Süden mindestens zur Verunsicherung angesichts weiterer Zuwanderung, wenn nicht zur brüsken Ablehnung – Fremdenfeindlichkeit und Propagierung nationaler Rückbesinnung sind die Folge. Drittens stellt der Klimawandel neue Anforderungen an eine Infrastruktur-, Energie- und Umweltpolitik, die nicht ohne die Umstellungen bisheriger Lebensgewohnheiten zu erreichen sind. Diese vermeintlichen Einschränkungen, die sich auf die Lebensstile aller Bevölkerungsschichten auswirken müssen, werden Gegenstand eines zunehmend erbitterten politischen Streits. 

Viertens kulminieren diese politischen Konflikte in der Bedrohung durch eine autoritäre Internationale, die angeführt von China und Russland jede offene Flanke westlicher Gesellschaften nutzt, um innere Streitigkeiten weiter anzufachen und gleichzeitig weltpolitisch hegemonial-imperiale Ziele zu verfolgen. Der Angriffskrieg gegen die Ukraine und die Bedrohung Taiwans sind die offensichtlichen Beispiele für eine Wendung gegen den Westen, die kriegerische Mittel nicht scheut. Ansonsten ergreifen antiwestliche Regime die sich bietenden Chancen, um durch kalkulierte Aggression, Sabotage und Einflussnahme auf die innere Politik die Residuen einer liberalen Weltordnung weiter zu destabilisieren. 

Wehrhafte Demokratie: Ein Konzept von gestern für die Gegenwart?

Tatsache ist, dass die innere und äußere Bedrohungslage der Demokratie ein Stadium erreicht hat, das in mancherlei Hinsicht Assoziationen zu den Dreißigerjahren weckt. Damals erfand der Jurist und Politikwissenschaftler Karl Loewen­stein im amerikanischen Exil das Konzept der "militant democracy", später etwas geschmeidiger "wehrhafte Demokratie" genannt. Loewenstein hatte vor dem Erfahrungshintergrund totalitär inspirierter Demokratiefeindschaft und einer als unzureichend empfundenen Appeasementpolitik im Jahr 1937 einen Maßnahmenkatalog erstellt, der den verbliebenen parlamentarischen Demokratien Mittel zur robusten Selbstverteidigung in die Hand gab (Parteienverbote, Verbote staatsfeindlicher Organisationen, Bestrafung von Hochverrat, Verbot von Waffenbesitz und Ahndung von Hass und Volksverhetzung). 

Seine wesentliche Einsicht bestand darin, dass die Demokratie dagegen gewappnet sein musste, wenn ihre Freiheiten von Demokratieverächtern zur Unterwanderung der Institutionen sowie zur Beseitigung von Gewaltenteilung und Parlamentarismus missbraucht werden. 

Loewenstein blieb hegelianisch im Großen und Ganzen vom Fortschritt zur Freiheit überzeugt, aber er musste registrieren, dass sich Freiheit und Demokratie keineswegs von allein durchsetzen. Um die Errungenschaften des Rechtsstaats und einer liberalen Gesellschaft zu retten, konnte es nötig werden, im Sinne der republikanischen Diktaturidee einen bürgerkriegsähnlichen Zustand mit äußerster Härte zu beenden, um sich im Ausnahmezustand notfalls über die Rechtsordnung hinwegzusetzen und die Demokratie zu retten. Genauso wichtig war es ihm, die noch verbliebenen freien westlichen Staaten dafür zu sensibilisieren, dass ihre Freiheit durch die Expansionsziele des NS-Staats, des italienischen Faschismus und des Stalinismus ernsthaft bedroht und von diesen Mächten Verhandlungsbereitschaft und Vertragstreue nicht zu erwarten war.

"Ohne den Willen zur Selbstbehauptung bleibt auch ein bestens gerüstetes Verfassungswerk zahnlos." 

Die Demokratietheorie hat Loewensteins Formel der "militanten Demokratie" mit spitzen Fingern angefasst und aufgrund ihrer Kreuzzugmentalität kritisiert. Zu den Auswüchsen eines McCarthyismus, der politische Gegner zu Vogelfreien machte, und zur missionarischen Vorstellung eines selbstgewissen "democracy building" sind leicht Verbindungen herstellbar. Allerdings war auch Loewenstein nicht entgangen, dass vor allem die Festigung demokratischer Kultur und Praxis das wirksamste Remedium gegen den Autoritarismus bereithalten. Erfolgreiche Wehrhaftigkeit bewies die Demokratie in der Zwischenkriegszeit nur dort, wo sie auf die Loyalität einer Mehrheit ihrer Bürgerinnen und Bürger zählen konnte, das heißt, den jüngeren und schließlich gescheiterten Republiken in Deutschland, Österreich oder Spanien mangelte es an langjährig gewachsener demokratischer Tradition. 

Anders gewendet: Ohne den Willen zur Selbstbehauptung bleibt auch ein bestens gerüstetes Verfassungswerk zahnlos. Insofern sollte man in der allenthalben vernehmbaren Beschwörung der wehrhaften Demokratie weniger eine anwendungssichere Zauberformel als vielmehr einen moralischen Selbstverständigungsdiskurs erblicken.

Reflexion von demokratischer Fragilität und Selbstgefährdung

Das Ergebnis der Europawahl und die absehbaren Erfolge der AfD bei den Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen treffen die Öffentlichkeit zwar alles andere als unvorbereitet. Aber die Debatten über die Ursachen und Beweggründe, sich von den etablierten Parteien abzuwenden und das politische System insgesamt infrage zu stellen, scheinen noch von Erstaunen und Ungläubigkeit geprägt. Zu lange hatte man in die Stabilität der Institutionen vertraut, auf die Fortsetzung der bundesrepublikanischen Erfolgsgeschichte gesetzt, als dass man sich dauerhaft Verwerfungen, ja, die Infragestellung der Demokratie hätte vorstellen können. 

Dabei sollte man sich davor hüten, das Problem allein in den (gar nicht mehr so) neuen Bundesländern zu lokalisieren. Auch der Zulauf der AfD im Westen der Republik ist beachtlich, und die etablierten Parteien haben an Unterstützung verloren. Einiges spricht dafür, dass auch im Vergleich mit Österreich, Frankreich, den Niederlanden oder Skandinavien der Rechtsruck in Deutschland allenfalls verzögert stattfindet und der "Sonderweg" an ein Ende gelangt ist.

"Der fragile Zustand der Demokratie, deren Vertrauensverlust sich auch in Umfragen abbildet, trifft auch die Politikwissenschaft seltsam unvorbereitet."

Der fragile Zustand der Demokratie, deren Vertrauensverlust sich auch in Umfragen abbildet, trifft auch die Politikwissenschaft seltsam unvorbereitet. In seiner luziden Studie "Demokratiedämmerung" hat Veith Selk dem Fach jüngst ein miserables Zeugnis ausgestellt. So propagierte die Demokratietheorie jahrzehntelang blauäugig eine unaufhaltsame Vertiefung und Erweiterung demokratischer Partizipation und zivilgesellschaftlichen Engagements, aber rechnete kaum mit Rückschlägen. Hinzu kam ein normativer Überschuss, der Erwartungen produzierte, an denen die prosaische Realität demokratischer Regierungspraxis notwendig scheitern musste. 

Wie es scheint, war die lange Jahre gewachsene Selbstgewissheit, dass nach dem Zeitalter der Ideologien die fortschreitende Demokratisierung alternativlos sei, auf brüchigem Fundament gebaut. Die überlieferte Skepsis der politischen Theorie, die von Platon bis Tocqueville stets die Selbstgefährdung und Fragilität der demokratischen Regierungsform reflektierte, hat in der modernen Demokratietheorie ebenso wenig Widerhall gefunden wie das demokratische Krisenbewusstsein der Zwischenkriegszeit oder der machtpolitische Realismus eines Cold War Liberalism, dessen Protagonisten Raymond Aron oder Isaiah Berlin stets die außenpolitischen Bestandsvoraussetzungen demokratischer Freiheit mitbedachten. 

Nicht nur staatliche Performanz, sondern bürgerliche Einsatzbereitschaft

Eine steuerungseuphorische Governance-Forschung legte es in den letzten Jahrzehnten darauf an, die Performanz und die Effizienz demokratischer Regierungen zu steigern, ohne sich größere Gedanken darüber zu machen, wie sich dies im Sinne klassisch republikanischer Tugendlehren auf die soziomoralische Verfassung der Bürgerinnen und Bürger auswirkt und welche unvorhersehbaren Wege Leidenschaften und Affekte einschlagen können. Vor allem begreift ein solcher zum Technokratischen neigender Denkansatz Bürgerinnen und Bürger in erster Linie als Leistungsempfänger und den Staat als Dienstleister. Dies widerstrebt allen normativen Leitlinien verantwortungsvoller Selbstregierung, die der Souveränitätsvorstellung in repräsentativen Demokratien zugrunde liegen. 

Umso sorgenvoller blickt man mittlerweile auf die Entkopplung einer politischen Elite, die anscheinend in einer Art vorbeugendem Paternalismus die Bevölkerung vor jeder Zumutung bewahren will, ohne die zweifellos vorhandene Einsatzbereitschaft der Bürgerinnen und Bürger in Anspruch zu nehmen oder überhaupt aktivieren zu wollen. Pandemiefolgen, steigende Energiepreise, Inflationsgefahr – allzu selbstverständlich wird mit "Bazookas" oder "Doppelwumms" hantiert und das Füllhorn staatlicher Gelder ausgegossen. Es scheint so, als ob das vom Soziologen Robert Michels 1911 formulierte "eherne Gesetz der Oligarchie" weiterhin die repräsentative Demokratie prägt. Je weniger sich Bürgerinnen und Bürger zur aktiven Mitarbeit in Parteien bereitfinden, desto wahrscheinlicher wird deren Verformung zu sich selbst erhaltenden Organisationen und ihre Entfernung von den Interessen möglicher Wählerinnen und Wähler.

Demokratie – Schwerpunkt in "Forschung & Lehre"

Die August-Ausgabe von "Forschung & Lehre" widmet sich mit einem Themen-Schwerpunkt der "Demokratie".

Die Beiträge:

  • Jens Hacke: Krise ohne Alternative? Überlegungen zur Lage der Demokratie
  • Hanno Kube: Fragile Herrschaftsform. Demokratie und ihre Vertrauensgrundlagen
  • Timm Beichelt: Politik mit der Angst. Ein Problem in der Demokratie? 
  • Thomas Weber: Zuversicht Mangelware. Ein Plädoyer für bessere Erzählungen
  • Im Gespräch mit Tonio Oeftering: Kritisch begleiten und mitgestalten. Über die Bedeutung von politischer Bildung in einer Demokratie
  • Im Gespräch mit Daniel Ziblatt: Wissenschaft als Bollwerk gegen autoritäre Kräfte. Wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Demokratie schützen können

Hier geht es zur aktuellen Ausgabe – Reinlesen lohnt sich!

Kein Automatismus hin zu "mehr Demokratie"

In Theorie und Praxis sollte es offensichtlich sein, dass es keinen Automatismus hin zu "mehr Demokratie" gibt. Im Gegenteil, die Demokratie ist anfälliger und zugleich sensibler für Stimmungen, für die Attacken ihrer Gegnerinnen und Gegner und für die Enttäuschung von Erwartungen, die in ihrem Gleichheits-, Gerechtigkeits- und Freiheitsversprechen liegen. Darin sollte eigentlich ein Vorteil liegen. Als einzige Staatsform inkorporiert sie Kritik und ständige Infragestellung der Regierung. Ihre Fähigkeit zur Selbstkorrektur und Reform macht sie so lange überlegen, wie die große Mehrheit ihrer Bürgerinnen und Bürger die Verfassungswerte und vor allem die geltenden Spielregeln des Wettbewerbs anerkennt. Anders gesagt: Die Existenz der Demokratie hängt vom Bekenntnis ihrer Bürgerinnen und Bürger zu den leitenden Prinzipien und zur demokratischen Lebensform ab, und der Wille zur Freiheit verlangt nach stetiger Aktualisierung. 

Demokratie erschöpft sich eben nicht darin, Prosperität und funktionale Problemlösung zu garantieren, sondern in ihr müssen die anstehenden Aufgaben unter mündigen und verantwortungsbereiten Bürgerinnen und Bürgern debattiert werden. Eine "lebende Verfassung" (Dolf Sternberger) fördert die demokratische Lebensform, indem sie in der Bildung, im öffentlichen Raum und in ihren Institutionen die Bedingungen schafft, in denen die gemeinsamen Anliegen der Bürgerschaft deutlich werden und Politik im Wettstreit der Alternativen gestaltet werden kann. Im Bewusstsein, dass sie ein Arrangement von Amtspflichten mit Verantwortung auf Zeit darstellt und auf der Bereitschaft beruht, politische Ziele transparent zu kommunizieren, über Prioritäten zu streiten und öffentliche Kritik zu akzeptieren. 

Wann immer es gelingt, diesen demokratischen Geist zu stärken, öffnen sich in der Krise wieder Alternativen. Dazu ist es bisweilen nötig, mit dem Schlimmsten zu rechnen, sich nicht nur am imaginierten Fortschritt zu orientieren, sondern auch aus der Abwendung von Gefahren Kraft zu schöpfen, um sich die Qualitäten als auch den friedlichen und freiheitlichen Sinn der Demokratie zu vergegenwärtigen. 

Vom Autor sind zum Thema erschienen:

 "Existenzkrise der Demokratie. Zur politischen Theorie des Liberalismus in der Zwischenkriegszeit", Berlin 2018, und "Liberale Demokratie in schwierigen Zeiten. Weimar und die Gegenwart", Hamburg 2021.