abstrakte Stadtansicht von Berlin mit Häusern, Ubahnen und Menschen
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Urbane Geräuschkulisse
Lärm und Stille in der Stadt

Seit der Industrialisierung ist der Lärmpegel in den Städten gestiegen. Das führt zu Stress und Erschöpfung. Ein kulturhistorischer Blick.

Von Peter Payer 29.12.2021

Eine stille Stadt wirkt unheimlich. Das hat uns nicht zuletzt die Corona-Krise gelehrt. Insbesondere zu Beginn der Pandemie, als die Lockdowns allerorts noch voll griffen, verspürten viele Menschen eine tiefe Verunsicherung gegenüber ihrer Umgebung. So hatte man seine Heimatstadt noch nie gehört. Schlagartig wurde uns allen bewusst, welch zentrale Rolle Geräusche und Töne für die Herausbildung einer städtischen Atmosphäre spielen.

Eine stille Stadt ist ein Oxymoron, ein Widerspruch in sich. Urbane Agglomerationen, in der Menschen und Waren permanent zirkulieren, waren auch in der Vergangenheit nie leise. Wenngleich die Sehnsucht danach sich im Lauf der letzten Jahrhunderte sukzessive vergrößerte, wie ein Blick in die Geschichte zeigt.

"Kein Zeitalter seit Erschaffung der Welt hat soviel und so ungeheuerlichen Lärm gemacht wie das unsrige", empörte sich 1879 die weitgereiste Journalistin und Schriftstellerin Emmy von Dincklage. Immer mehr Menschen fühlten sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts gefangen im Netz des technisierten Zeitalters, schutzlos preisgegeben den elektrischen Signalen von Klingeln, Telefonen und Sirenen, dem Gestampfe und Gedröhne der Maschinen und Motoren.

"In London erhoben sich Klagen, dass der Verkehrslärm die Dinnerkonversation verunmögliche."

Dabei waren es vor allem die Städte, die "groß und laut" geworden waren. So beschwerten sich die Bewohner in Berlin, dass man im Getöse der Hauptverkehrsstraßen oft nicht einmal mehr sein eigenes Wort verstünde; in London erhoben sich Klagen, dass der Verkehrslärm die Dinnerkonversation verunmögliche; Ohrenärzte monierten, dass es in ihren Praxen mittlerweile viel zu laut sei, um ordentliche Untersuchungen durchführen zu können.

Der Kampf um mehr Stille

Als Gegenreaktion entstanden in den USA und Europa gesellschaftliche Bewegungen, die sich für das "Recht auf Stille" einsetzten. In New York gründete die Aktivistin Julia Barnett Rice 1906 die "Society for the Suppression of Unnecessary Noise", in Deutschland rief der renommierte Publizist und Kulturphilosoph Theodor Lessing zwei Jahre später einen "Antilärmverein" ins Leben, der sogleich breite mediale Unterstützung erfuhr.

Ärzte, Stadtplaner und Architekten stellten Überlegungen zur Lärmreduktion an. Sie setzten sich für die Verbreitung von "geräuschlosem Pflaster" (Asphalt, Holzstöckel) ein, mit dem das ohrenbetäubende Gerumpel auf dem kopfsteingepflasterten Straßen verringert werden sollte. In Berlin erfand der Apotheker Max Negwer 1907 das bis heute gebräuchliche Lärmschutzmittel "Ohropax". In Dresden ließ der Arzt Robert Sommer spezielle "Ruhehallen" errichten, in denen sich die geplagten Ohren des Großstädters erholen konnten. Wer es sich leisten konnte, entfloh in die Sommerfrische oder verlagerte seinen Wohnsitz an den noch ruhigen Stadtrand.

All diese Bemühungen waren jedoch meist defensiv ausgerichtet. Der Kampf um mehr Stille erwies sich nicht zuletzt deswegen als schwierig, da es in un­se­ren kulturellen Deutungsmustern mächtige positive Assoziationen mit lauten Geräuschen gibt. Ihnen wird, wie kulturwissenschaftliche Studien belegen, tendenziell Stärke und Aktivität, Fortschritt und Modernität zugeschrieben, während Stille eher als Ausdruck von Respekt und Passivität gilt. Das Recht, Lärm zu machen, galt denn auch lange Zeit als Privileg der Mächtigen, während Menschen von niederem Rang zur Ruhe angehalten wurden oder unter Verdacht standen, die soziale Ordnung absichtlich durch Lärm zu stören.

Ruhe als "oberste Bürgerpflicht"

So verbirgt sich hinter der akustischen nicht selten eine soziale Auseinandersetzung. Ruhe war im 19. Jahrhundert zur "obersten Bürgerpflicht" geworden, zum Ausdruck von Kultur und Zivilisiertheit. In Abgrenzung zum vermeintlich lautstarken Pöbel wurden Zurückhaltung und Disziplin als bürgerliche Tugenden internalisiert: Schweigend lernte man zur Kirche zu gehen, still und distanziert verhielt man sich nunmehr im Theater- und Konzertsaal und schließlich auch im Kino. Vom öffentlichen Raum abgedrängt, verlagerte sich die Stille in die Privatsphäre, wo sie das Verhalten neu strukturierte und regulierte – bis hin zum Mittagstisch ("Beim Essen spricht man nicht!").

Stille-Diskurs im 20. Jahr­hundert

Die Klangwelt "draußen" erfuhr indes im Lauf des 20. Jahrhunderts eine grundlegende Änderung. Die Straße wurde zur monofunktionalen Fahrbahn, die ausschließlich auf die Bedürfnisse des – zunehmend motorisierten – Verkehrs ausgerichtet war. Bereits in der Zwischenkriegszeit, vor allem aber nach 1945 entflammten erneut Diskussionen um die Lärmplage in den Städten und die akustische Beeinträchtigung der letzten Ruhezonen in der Natur.

Stets waren es also technische Umbrüche und Modernisierungswellen, die den Stille-Diskurs intensivierten. Abermals wurden Lärmschutzorganisationen gegründet und Informationsoffensiven gestartet. In den Medien fragte man besorgt: "Bleibt dem Menschen im Jahrhundert der Technik, und vor allem dem Großstädter, wirklich nichts anderes übrig, als das sehnsüchtig geöffnete Fenster resignierend zu schließen und sich mit einem ‚Da kann man halt nix machen’ Watte in die Ohren zu stopfen?"

Die Konsumära der Nachkriegszeit sorgte sodann für die Verbreitung eines weiteren Sounds: Kaufstimulierende Hintergrundmusik, nach der US-amerikanischen Erfinderfirma auch Muzak genannt, erklang immer häufiger in Warenhäusern, Geschäften und Lokalen bis hin zu (halb)öffentlichen Straßen und Plätzen. "Zwangsbeschallung!" empörten sich schon bald zahlreiche Gegner dieser Maßnahme, unter ihnen auch der deutsche Journalist Rüdiger Liedtke, der mit seinem 1985 veröffentlichten Buch "Die Vertreibung der Stille" den Zeitgeist traf (das Buch avancierte mittlerweile in mehreren Auflagen zum Klassiker).

"Allerorts vernehmbare Gespräche und Klingeltöne zwingen dazu, Aufmerksamkeiten neu zu kalibrieren."

Ab den 1990er Jahren kamen neue, bis heute wirkmächtige Veränderungen hinzu: Großformatige Events begannen das Stadtbild das ganze Jahr über zu prägen, von Marathons über Straßenparaden bis hin zu einem immer dichteren Netz an Weihnachtsmärkten. Vor allem aber gebar die Digitalisierung und die damit einhergehende Durchdringung der Gesellschaft mit Handys völlig neue Lautsphären nicht nur im privaten, sondern auch im öffentlichen Raum. Allerorts vernehmbare Gespräche und Klingeltöne zwingen dazu, Aufmerksamkeiten neu zu kalibrieren. Mehr denn je gilt seither die Empfehlung Theodor Lessings: "Man muss also die Kunst erlernen, alles zwar hören zu können, aber wo nicht nottut, doch faktisch nicht hinzuhören."

Wie dicht und stark die Reizüberflutung mittlerweile geworden ist, auch das hat die Corona-Krise gezeigt. Die abrupte Stille war für viele eine unfreiwillige, allzu rasche Entzugserscheinung. Sozialhistorisch gesehen, ein einmaliger "Feldversuch", der unsere Ohren geradezu wachrüttelte. Ob daraus ein neues Verhältnis zur Stille in der Stadt entstehen wird, bleibt abzuwarten.

Zum Weiterlesen

Von dem Autor ist zu dem Thema erschienen: "Der Klang der Großstadt. Eine Geschichte des Hörens, Wien 1850–1914" ( 2018).