Eine Frau liest einen Liebesbrief mit einem roten Herz.
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Liebe
Mein süßes Zuckertörtchen

Liebesbriefe bannen zärtliche Gefühle auf Papier. Ein digitales Liebesbriefarchiv sammelt und erforscht diese einzigartigen Dokumente.

Von Friederike Invernizzi 24.04.2021

Forschung & Lehre: Frau Professor Rapp, Sie beschäftigen sich in diesem Gemeinschafts- und Citizen Science-Projekt mit Liebesbriefen, die ganz "normale" Menschen wie Lieschen Müller oder Otto Schmidt geschrieben haben. Gesammelt wurden bisher über 20.000 Briefe aus Deutschland und Umgebung seit dem 19. Jahrhundert bis heute, die Sie bereits digital erfasst haben und nun näher untersuchen wollen. Wie sind Sie zu diesem Forschungsprojekt gekommen?

Andrea Rapp: Briefe haben mich schon immer interessiert, denn meine Mutter und mein Vater haben sich über Briefe kennengelernt. Das Spannende an Briefen ist, dass sie eine authentische Quelle sind, also Zeugnisse des Alltags, wie wir sie sonst nicht haben. Es sind keine artifiziellen Texte von Menschen, die das beruflich machen. Dadurch kommt man an eine Sprachwirklichkeit heran, die man sonst nicht zu fassen bekommt. Ich begegnete 2014 Frau Professor Wyss, die das Liebesbriefarchiv in Zürich gegründet und an der Universität Koblenz dann fortgesetzt hat und die Briefe gesammelt hat. Die gemeinsame Idee war, da ich aus der Computerphilologie komme, diesen Schatz digital zu erschließen und zu verwalten.

F&L: Was stellen wir uns eigentlich unter einem Liebesbrief vor? Gibt es den "klassischen" Liebesbrief überhaupt?

Andrea Rapp:
Streng genommen ist ein Liebesbrief eine Liebeserklärung, ein Geständnis der Liebe. In unserem Liebesbriefarchiv sind aber im weiteren Sinne Briefe an geliebte Personen gesammelt, in denen implizit oder explizit diese Gefühle der Liebe zum Ausdruck kommen. So gewinnen wir Einblick in die alltägliche Gestaltung der Beziehung der Paare. Wir können unmittelbar sehen, wie die Liebe Ausdruck findet. Man könnte auch sagen, dort wird die gesamte "Beziehungsarbeit" sichtbar.

Andrea Rapp ist Professorin für Germanistik – Computerphilologie und Mediävistik am Institut für Sprach- und Literaturwissenschaft der TU Darmstadt. Katrin Binner

F&L: Was findet sich in diesem riesigen Konvolut an typischen Briefen?

Andrea Rapp: Da finden sich verschiedene Genres von Briefen mit unterschiedlichen Themen: das Finden des oder der Liebsten, das Werben um die geliebte Person und die Beziehungspflege. Es gibt Plauderbriefe, wo man den "Kommunikationskanal" offen hält, wenn man getrennt ist, um über Alltägliches zu berichten. Das, was man heute vermutlich mit den Chat-Nachrichten und den SMS macht. Es gibt aber auch Trennungsbriefe. Natürlich haben wir eine große Anzahl von Briefen aus den Anfängen einer Beziehung, denn da schreibt man sich vermutlich mehr. Dort wird vieles ausgehandelt, man versucht, sich zu positionieren und zu schauen, wo man als Paar steht. Die zentrale Frage lautet da oft: Und was bedeutet unsere Liebe? Wir haben hier allerdings einen beschränkten Einblick – das ist wichtig zu beachten – durch Briefe, die aufgehoben wurden und die wir durch Spenden erhalten haben. Man muss sich klar machen, dass normalerweise diese Art Briefe als Teil des Alltags nicht aufgehoben werden. Goethe hat seine Briefe aufgehoben, ein Schicksal, das unsere privaten Briefe häufig nicht teilen. Verwahrt wird meist der Heiratsantrag, aber der Brief, wo über das Wetter gesprochen wird, eben nicht.

F&L: Ihr ältester Brief?

Andrea Rapp:
Wir haben einen Brief aus dem Jahre 1715, aber so alte Dokumente sind eher selten. Unser Schwerpunkt liegt auf dem 19. Jahrhundert und 20. Jahrhundert, in dem sehr viel geschrieben wurde. Wir bekommen viele Briefspenden, wo uns Menschen die Briefe von ihren Großeltern geben, die aus diesen Zeiten stammen.

F&L: Haben sich die Briefe über die Jahrhunderte sehr verändert?

Andrea Rapp: Die Liebesbriefe haben sich im Laufe der Zeit sehr stark verändert. Wir sehen, dass sehr vieles im 19. Jahrhundert viel formeller beziehungsweise formalisierter ist. Beispielsweise gestaltet der Bräutigam deutlich das Geschehen und hat die Aufgabe, der Braut die Liebe anzutragen und klar zu machen, was Beziehung bedeutet, wann und wie der Hausstand und die Familie gegründet werden. Der Mann übernimmt den aktiven Part. Das lockert sich natürlich im weiteren Verlauf des Jahrhunderts auf. Das Formelle beginnt in den Hintergrund zu treten und die Briefe werden knapper und kürzer. Der Ton wird mehr geradeheraus und informeller. Das "mein liebes Fräulein" verschwindet irgendwann komplett in den 60er und 70er Jahren. Dennoch gibt es auch bei den älteren Briefen durchaus sehr offene, emotionsgeladene und erotische Briefe.

F&L: Wie kommt die Erotik ins Spiel?

Andrea Rapp: Man hat die Vorstellung, dass die Menschen früher verklemmter waren und dies auch entsprechend in den Briefen zum Ausdruck kommt. Es gibt aber durchaus Briefe, wo sehr offen über intime Dinge gesprochen wird. Zum Beispiel spricht ein Mann in einem Brief seine Frau mit "kleines Teufelchen" oder "kleines Untier" an und sagt: "Mach mir nicht alle Männer verrückt". Es gibt zwar weniger explizite Briefe in der Tat, aber auch welche, wo man rote Ohren bekommt.

F&L: Wurde früher in den Briefen über Gefühle gesprochen?

Andrea Rapp: Das ist ein sehr komplexes Thema. Die Wörter, die in den Briefen verwendet werden, stehen in ihren jeweiligen kulturellen Kontexten. Eins kann man sicher sagen: Gefühle werden immer ausgedrückt, nur auf unterschiedliche Weisen. Heute schicken Männer drei Herz Emojis, vor hundert Jahren hätte man das nicht gemacht. Oder "liebe Grüße" hätte man vor hundert Jahren niemandem schreiben können.

F&L: Welche Rolle spielen Kosenamen in den Briefen?

Andrea Rapp: Der häufigste Kosename in den jüngeren Liebesbriefen ist ganz klassisch "Schatz" oder "Herz". Frauen werden häufig mit Süßigkeiten assoziiert, also "Zuckerschnecke" oder "Törtchen". Ich bin überrascht, wie sehr sich die Paare in den Briefen als "doing couple" definieren. Der Partner wird weniger geschlechtsspezifisch angeredet, also eben nicht "Püppchen" für die Frau oder "mein Kater" für den Mann, sondern auch zum Beispiel "Bär" für Frauen oder auch "Hase" für Männer.

Abbildung eines handschriftlichen Liebesbriefs aus dem Jahr 1944.
privat

F&L: Welche Schwerpunkte werden Sie bei der weiteren Erforschung der Liebesbriefe setzen?

Andrea Rapp: Wir werden zunächst schauen, welche Zeiträume mit den Briefen abgedeckt sind. Weiterhin wäre interessant zu sehen, wie die regionale Verteilung ist. Ich fände beispielsweise eine Untersuchung der Briefe in Hinblick auf Bundesrepublik und DDR spannend. Ich bin auch an Regionalismen und Dialekten interessiert. Da dies ein Citizen Science-Projekt ist, wollen wir Bürgerinnen und Bürger auch an Projekten beteiligen, so zum Beispiel zum Thema verbotener beziehungsweise geheimer Liebe oder auch zu Briefen aus dem mittleren Lebensalter.

Das Projekt "Gruß & Kuss"

Das Forschungsprojekt hat eine Laufzeit von April 2021 bis März 2024 und wird im Rahmen des Förderbereichs Bürgerforschung vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert.

Professorin Eva L. Wyss vom Institut für Germanistik der Universität Koblenz-Landau gründete vor 30 Jahren zunächst an der Universität Zürich die Sammlung, nachdem Privatleute aus der Schweiz und Deutschland ihr nach Aufrufen in den Medien über 6.000 Liebesbriefe für ihre Sprachforschung gespendet hatten. Gemeinsam mit TU-Professorin Andrea Rapp konnte dieser Bestand seit 2015 auf aktuell über 20.000 Briefe und Briefwechsel ausgebaut werden.

Das analoge Archiv, heute im Besitz der Universität Koblenz-Landau, bildet den Grundstock für das Verbundprojekt, das von der Technischen Universität Darmstadt koordiniert wird. Das Projekt "Gruß & Kuss" wird geleitet von Professor Stefan Schmunk von der Hochschule Darmstadt. Beteiligt ist außerdem Professor Thomas Stäcker von der Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt.

Ein weiteres Ziel des Projektes ist, die öffentliche Aufmerksamkeit mit Tagungen, Workshops und Ausstellungen auf diese Form der Alltagskultur zu lenken und die Bürgerforschung dafür zu gewinnen.

Informationen zu Citizen Science finden Sie bei Bürger schaffen Wissen.