Mecklenburg-Vorpommern, Wöbbelin: Eine Steinreihe mit den Namen der Opfer in der Mahn- und Gedenkstätte am ehemaligen KZ-Außenlager Wöbbelin
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Kriegsende 1945
"Niemand will Nazi gewesen sein"

Am 8. Mai 1945 kapitulierte die Wehrmacht. Fragen an den Historiker Norbert Frei zum Ende des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren.

Von Friederike Invernizzi 07.05.2020

Forschung & Lehre: Das Ende des Zweiten Weltkriegs hinterließ Deutschland in Trümmern. Was haben wir Deutschen aus dem Zweiten Weltkrieg gelernt?

Norbert Frei: Der von Deutschland ausgelöste Zweite Weltkrieg hinterließ nicht nur Deutschland in Trümmern. Halb Europa war verwüstet, die Gesellschaften Ost- und Ostmitteleuropas zahlten den höchsten Preis, gar nicht zu reden von der Sowjetunion. Anders als nach dem Ersten Weltkrieg war die politische und moralische Katastrophe, die die Deutschen über Europa und die Welt gebracht hatten, nicht zu beschönigen. Dazu trug auch die Totalität der Niederlage gegen die Anti-Hitler-Koalition bei, die ja für etwa eine halbe Dekade ideologische Gegner kooperieren ließ – den kapitalistischen Westen unter Führung der USA und die kommunistische Sowjetunion unter Führung Stalins. Im Frühjahr 1945 mussten sich noch die verblendetsten Nationalsozialisten eingestehen, dass Hitler und das NS-Regime am Ende waren. Entsprechend hoch war  auch die Suizidrate beim Spitzenpersonal. Die Masse der Deutschen, auch wenn sie praktisch bis zum Schluss "durchgehalten" hatte, ging im selben Moment auf Distanz, in dem die Besatzer eintrafen.

"Niemand will Nazi gewesen sein" – das war ein Befund, den ganz unterschiedliche Beobachterinnen und Beobachter erhoben: amerikanische Kriegskorrespondentinnen (heute würde man sagen: "embedded journalists"), Geheimdienstleute, Schriftsteller, aber auch seit 1933 aus Deutschland verjagte Menschen wie Hannah Arendt, die über ihre ersten Nachkriegsbesuche in diesem Sinne berichtete. Dass die meisten Deutschen jede Mitschuld leugneten und jeden Gedanken einer Mitverantwortung beiseite wischten, empörte diese Beobachter natürlich. Heute wissen wir, dass in dieser verlogenen und opportunistischen Pauschaldistanzierung vom Nationalsozialismus auch ein Ansatzpunkt dafür lag, dass relativ bald eine neue politische Ordnung entstehen konnte: Im Westen eine parlamentarische Demokratie, im Osten eine "Volksdemokratie" nach sowjetischem Muster.

Prof. Norbert Frei
Professor Dr. Norbert Frei lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und leitet das Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts. FKH Bad Homburg

F&L: Welche Konsequenzen ziehen wir aus dieser Katastrophe? Müssen wir unsere Erinnerungskultur immer wieder kritisch überprüfen?

Norbert Frei: Ich kann mit dem Begriff Erinnerungskultur nicht allzu viel anfangen. Tatsächlich hat es lange gedauert, ehe die Vorstellung von der Notwendigkeit einer "Aufarbeitung" der Vergangenheit, von der Theodor Adorno in seinem berühmten Text 1959 sprach, gesellschaftlich mehrheitsfähig wurde. Diejenigen, die sich in den späten Fünfzigern und in den Sechzigern dafür stark machten, die also gegen das vorwaltende Bedürfnis nach einem Schlussstrich und gegen Vergessen eintraten, sprachen meist von "Vergangenheitsbewältigung". Das war ein Begriff, in dem noch mehr als in dem der "Aufarbeitung" mitzuschwingen scheint, dass man jede Vergangenheit irgendwann einmal abschließend erledigt hat. Angemessener erscheint mir deshalb der Begriff der "Auseinandersetzung" mit der Vergangenheit. Das impliziert auch fast schon, dass sich die generationelle Komposition der Gesellschaft, die sich dieser Aufgabe unterzieht, im Lauf der Zeit ändert. Bis vor kurzem passierte unsere Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Holocaust ja in der Gegenwart der Zeitgenossen der NS-Zeit. Jetzt sind es fast nur mehr die alt gewordenen Kinder des Krieges, die diese Zeitgenossenschaft verkörpern; sie sind die letzten, die sich in einem wortwörtlichen Sinne überhaupt erinnern können.

Die überwältigende Mehrheit der Menschen, die heute in Deutschland lebt, kann sich allenfalls an das erinnern, was sie über die NS-Zeit im Geschichtsunterricht, aus Büchern und Filmen gelernt hat oder aus der Familienerzählung zu wissen glaubt. Insofern sollte eigentlich klar sein, dass sich die Notwendigkeit der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der NS-Zeit immer wieder neu stellt: auch, weil sie sich verändert – zum Beispiel dadurch, dass viele der heute hier lebenden jungen Menschen aufgrund ihrer migrantischen Herkunft gar keine – oder eine sehr andere, zum Beispiel in die deutsche Besatzungspolitik in Europa zurückverweisende – Familienerzählung mitbringen. Deshalb spreche ich lieber von der prinzipiellen Unabschließbarkeit unserer Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte als von einer "Erinnerungskultur", die seit den 1980er und dann vor allem in den 1990er Jahren sukzessive entstanden sei und nur noch "gepflegt" oder gegen die Angriffe der AfD verteidigt werden müsse.

"Die Notwendigkeit der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der NS-Zeit stellt sich immer wieder neu."

F&L: Die Täter sollen bestraft werden, und den Opfern soll Gerechtigkeit und Genugtuung widerfahren. Wo ist dies gelungen? Welche Hürden standen und stehen dem bis heute im Weg?

Norbert Frei: Es sind in auf unterschiedliche Weise gemischte Bilanzen, sowohl hinsichtlich der strafrechtlichen Auseinandersetzung mit den Tätern als auch hinsichtlich dessen, was man mangels eines besseren Begriffs die "Wiedergutmachung" für die Opfer genannt hat. Was die Täter betrifft, so haben das Internationale Nürnberger Militärtribunal 1945/46 und die amerikanischen "Nachfolgeprozesse" in Nürnberg wichtige Normen gesetzt, die dann – mit einer langen Pause im Kalten Krieg – auch jenseits der NS-Verbrechen Wirkung zeigten, bin hin zum Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, der 2002 seine Arbeit aufnahm. Das Signal schon in Nürnberg war: Auch Staatsverbrecher müssen künftig mit Strafe rechnen. Aber angesichts des in der Bundesrepublik sich dann einstellenden Missverhältnisses von Ermittlungsverfahren gegen bis heute mehr als 170.000 Personen und nicht einmal 6.700 Verurteilten stellt sich natürlich die Frage nach dem strafrechtlichen Ahndungswillen. Das hat sich erst seit dem Demjanjuk-Urteil 2011 geändert, aber da waren die meisten Täter natürlich längst gestorben. Ein schwacher Trost, aber immerhin:Viele der NS-Verbrecher, die nach 1945 in ihre vermeintliche bürgerliche Unauffälligkeit abgetaucht sind, konnten sich zeitlebens nie ganz sicher sein, nicht doch noch zur Rechenschaft gezogen zu werden. Was die – ebenfalls von außen, nicht von den Deutschen selbst – nach dem Krieg angestoßene Entschädigung und Restituion angeht, also die Praxis der "Wiedergutmachung", so haben wir die in einem gleichnamigen deutsch-israelischen Forschungsprojekt einmal als "Lernprozess" charakterisiert. Trotz aller Versäumnisse und Mängel: Allein schon die Tatsache, dass sich die Deutschen jahrzehntelang vor der Notwendigkeit sahen, nachzubessern und bis dahin "vergessene" Opfer zu entschädigen, beförderte die kritische gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.

F&L: Haben wir heute eine besondere Verantwortung gegenüber einstigen Kriegsgegnern?

Norbert Frei: Das gilt ganz bestimmt, so lange bei unseren Nachbarn in Europa das Bewusstsein von den Verbrechen der Deutschen fortlebt. Und wir sehen das ja auch immer wieder: Während der Euro-Krise seit 2010 in Griechenland, in Italien eben erst, als auf dem Höhepunkt der Pandemie dort das Gefühl entstand, die Deutschen seien, obwohl sie "Europa" immer im Munde führen, nicht wirklich solidarisch.

F&L: Was sagt das Erstarken von Nationalismus und Rechtspopulismus darüber aus, wie tief das Erinnern an Faschismus und Krieg im gesellschaftlichen Bewusstsein verankert ist?

Norbert Frei: Ich glaube nicht, dass der Zusammenhang so unvermittelt ist, wie Ihre Frage es nahelegt. Jedenfalls denke ich, dass die Ursachen des neuen Nationalismus, den wir in vielen Ländern Europas beobachten und der ja meist mit rechtspopulistischen Bewegungen einher geht, ausgesprochen vielschichtig sind. Identitätspolitik spielt eine wichtige Rolle, aber auch die lässt sich in gewisser Weise zurückführen auf die negativen Auswirkungen, die die neoliberale Globalisierung der letzten etwa drei Jahrzehnte auf Teile unserer Gesellschaften gehabt hat und noch immer hat. Aber richtig ist natürlich auch: Die Erinnerung an die Schrecken des Krieges sind nicht mehr so unmittelbar präsent wie, sagen wir, noch 1985, als Richard von Weizsäcker seine große Rede hielt – als ein Angehöriger einer Generation, die vom ersten Tag des "Polenfeldzugs" dabei gewesen ist.