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Hauptfiguren in Fernsehproduktionen
Nützliche Psychopathen in Serie

Serien-Protagonisten leiden mit auffälliger Häufigkeit an psychischen Erkrankungen. Eine Chronik und ihre Gründe.

Von Vinzenz Hediger 16.02.2019

Das Kino, die Massenkunst par excellence, gilt als paradigmatische Kunstform der Moderne. Seit nunmehr genau zwanzig Jahren hat es eine Verwandte, die ihm an kultureller Relevanz in nichts nachsteht: Die sogenannte "quality"-Fernsehserie, die große Themen in romanartigen Erzählungen oft über mehrere Jahre hinweg entfaltet mit dem Aufwand und Anspruch von Kinofilmen produziert wird.

Das Zeitalter der "quality-TV"-Serie beginnt 1999 mit "The Sopranos", einer Produktion, mit welcher der Kabelkanal HBO, der Marktführer des amerikanischen Abo-Kabelfernsehens, sich von seiner Abhängigkeit von Kinofilmen aus Hollywood emanzipieren will. Das Konzept der "Sopranos" ist einfach: Es geht um die Mafia als dysfunktionale Familie, exemplifiziert an den psychischen Problemen des Familienoberhaupts.

Tony Soprano, ein für seine Ruchlosigkeit gefürchteter Mafiaboss aus New Jersey, leidet an Panikattacken, für eine Führungskraft in seinem Gewerbe eine schwerwiegende Einschränkung der Berufsfähigkeit. Er sucht schließlich eine Therapeutin auf, natürlich unter dem Siegel der größtmöglichen Verschwiegenheit, würde doch die Kunde seiner Behandlungsbedürftigkeit sogleich den Zerfall seiner Autorität nach sich ziehen.

Für die Therapeutin schafft der neue Patient ein anderes berufliches Problem, ein medizinethisches und letztlich auch ein rechtliches. Sie fühlt sich der Gesundheit ihres Patienten verpflichtet und weiß zugleich, dass sie mit ihren Therapieleistungen einen notorischen Gewaltverbrecher handlungsfähig erhält, ja sich im Grunde zur Komplizin seiner Taten macht. Gemeinsam kommen die Therapeutin und der Mafiaboss der Tatsache auf die Spur, dass Tony ein Mutter-Problem hat, ein buchstäbliches sogar, will die eigene Mutter den Sohn doch aus dem Weg räumen lassen.

Dass Gesprächstherapien Zeit brauchen, gereicht der Serie zum dramaturgischen Vorteil. Über 86 Episoden und sechs "seasons" von 1999 bis 2007 erstreckt sich die Erzählung von den psychischen Leiden des verunsicherten Mafioso. James Gandolfini, der Darsteller von Tony Soprano, gestaltet in diesen 86 einstündigen Filmen ein differenziertes Porträt einer komplexen Figur und hinterlässt eine der großen Charakterisierungen der amerikanischen Schauspielkunst des neuen Jahrhunderts.

Funktion der erzählenden Sozialgeschichte

Kritiker verglichen die Serie von David Chase schon in der ersten "season" mit Balzac und anderen Monumenten der Romanliteratur des 19. Jahrhunderts. Solche Vergleiche scheinen nicht überzogen. Balzac bezeichnete sich in der Einleitung zu seinem monumentalen Romanzyklus, der "Comédie humaine", als Historiker der Sitten, als Chronist der Feinstrukturen der Gesellschaft, die in der großen Ereignisgeschichte keine Berücksichtigung finden konnten.

Genau eine solche Funktion der erzählenden Sozialgeschichte – und in manchen Fällen der erzählenden qualitativen Soziologie – für ein breites Publikum erfüllen die Serien, die im Gefolge von "The Sopranos" in den letzten zwanzig Jahren entstanden sind. Mit auffälliger Häufigkeit bleiben diese Serien aber auch in einem anderen Aspekt dem Vorbild treu: Sie stellen Figuren mit psychischen Erkrankungen ins Zentrum.

2006, in dem Jahr, als "The Sopranos" sich dem Ende zuneigte, startete auf Showtime, einem weiteren Kabelkanal, "Dexter", eine Serie, die uns in die Arbeitswelt eines Forensikers aus Miami einführt, der auf Blutspurenanalyse spezialisiert ist.

Dexter ist ein Vigilant, der an dissoziativer Identitätsstörung (Persönlichkeitsspaltung) leidet. Mit seinen Analyseergebnissen führt er Gewaltverbrecher ihrer verdienten Strafe zu. Nachts übernimmt seine zweite Persönlichkeit; Dexter verwandelt sich in einen Serienmörder und bringt diejenigen Tatverdächtigen zur Strecke, bei denen es für eine Verurteilung nicht gereicht hat. Auch "Dexter" wurde zum Hit und brachte es sogar auf 96 Folgen, verteilt über acht "seasons".

Nach der Mafia und der Forensik führte "Mad Men", eine Serie, die vom Kabelkanal AMC produziert und erstmals 2007 ausgestrahlt wurde, das Publikum in die Welt der Werbung ein, genauer in die einer Werbeagentur an der New Yorker Madison Avenue in den 1950er Jahren.

Hauptfigur ist der genialische Werber und Frauenheld Don Draper (gespielt von Jon Hamm), der mehrere dunkle Geheimnisse zu verbergen hat. Seine Identität hat er einem gefallenen Kameraden im Korea-Krieg gestohlen, und er neigt zu selbstzerstörerischen Handlungen, eine Tendenz, die im Fortgang der Serie sukzessive auf Kindheitstraumata zurück geführt wird. "Mad Men" brachte es bis 2013 auf sieben Staffeln und 92 Folgen.

Manisch-depressiv und antisozial

Wiederum auf Showtime hatte 2011 "Homeland" Premiere, die Geschichte der manisch-depressiven CIA-Agentin Carrie Mathison (gespielt von Claire Danes, einer erfolgreichen Filmschauspielerin), die gerade aufgrund der luziden Einsichten in ihren manischen Phasen erfolgreich terroristische Netzwerke rund um die Konfliktherde im Nahen Osten freilegt. "Homeland" beginnt gerade mit der achten und letzten Staffel mit schließlich 91 Folgen.

Als Illustration einer psychiatrischen Diagnose eignet sich schließlich auch Frank Underwood, der korrupte Politiker, der sich in der Serie "House of Cards" mittels Ruchlosigkeiten bis hin zum Mord vom Mehrheitsführer im US-Kongress bis ins Weiße Haus hochmogelt.

Produziert von der Internet-Streaming-Plattform, die sich mit Eigenproduktionen ebenso vom kostspieligen Film-Rechtekatalog der Hollywood-Studios zu emanzipieren versucht wie Ende der 1990er Jahre schon der Kabelkanal HBO, markierte "House of Cards" bei der Premiere 2013 eine Epochenwende in der Serienproduktion, weil zum Premierentermin nicht einfach nur die erste in einer wöchentlichen Folge von einstündigen Episoden, sondern gleich die ganze Staffel online gestellt wurde.

Aus klinischer Sicht leidet Hauptfigur Frank Underwood an einer antisozialen Persönlichkeitsstörung, einer Krankheit, zu deren Symptomen unter anderem ausgeprägte Rücksichtslosigkeit gegenüber anderen, Reizbarkeit und Gewaltbereitschaft zählen. Verkörpert wurde Frank Underwood von Hollywood-Star Kevin Spacey, und wäre dieser nicht aufgrund einer Reihe von im Zuge der Me-Too-Bewegung bekannt gewordenen sexuellen Übergriffen im Herbst 2017 entlassen worden, wäre "House of Cards" wahrscheinlich auf mehr als sechs Staffeln und 73 Episoden gekommen.

In der letzten Staffel, die aus vertraglichen Gründen ungeachtet der Entlassung von Spacey produziert werden musste, fungiert Underwoods Frau und Komplizin Claire als Hauptfigur, passenderweise leidet auch sie an einer antisozialen Persönlichkeitsstörung.

"Es sind gerade die größten Erfolge, die Serien, die ein halbes Jahrzehnt oder länger die Debatte bestimmen, die so angelegt sind."

Nicht alle erfolgreichen Serien haben Menschen mit psychischen Erkrankungen als Hauptfiguren, aber es sind gerade die größten Erfolge, die Serien, die ein halbes Jahrzehnt oder länger die Debatte bestimmen, die so angelegt sind. Und selbst die bislang international erfolgreichste deutsche "quality"-Serie, "Berlin Babylon", die von einem Team um Regisseur Tom Tykwer produziert wird und bald in die dritte Staffel geht, stellt mit dem Polizeibeamten Gereon Rath, der mit Granatschock- oder Kriegszitterer-Syndrom aus dem ersten Weltkrieg zurückgekommen ist, eine Figur mit einer psychischen Krankheit ins Zentrum.

Die Filmwissenschaftlerin Melanie Mika hat vorgeschlagen, diese Figuren wie bei Arthur Conan Doyles Figur des  Sherlock Holmes als "nützliche Psychopathen" zu verstehen. Wofür aber sind die Symptome dieser Figuren ihrerseits ein Symptom?

Aktuelle weltpolitische Lage macht Serien zur Wirklichkeit

Zum einen ist die amerikanische Unterhaltungsindustrie aus strukturellen Gründen notorisch risikoscheu. In einem permanenten Überangebot erweisen sich 80 Prozent aller Filme als Flops, während die restlichen 20 Prozent den Großteil der Einnahmen machen. Das gilt so auch für die Fernsehproduktionen. Alle Serien, die über eine Staffel hinauskommen, sind überraschende Gewinner aus einer Auswahl von Produktionen, die jedes Jahr im US-Fernsehen an den Start geschickt werden und von denen viele noch nicht einmal die erste "season" zu Ende bringen können.

Künstlerische Innovation beschränkt sich unter diesen Bedingungen weitgehend auf die Variation des letzten großen Erfolgs in einem bestimmten Format oder Genre. So ist auch zu verstehen, dass die Formel von "The Sopranos" – detailreiche Milieuschilderungen nicht alltäglicher, aber faszinierender Berufswelten mit einem Protagonisten mit psychischen Problemen – in den folgenden Jahren vielfach variiert und weiter entwickelt wurde.

Die Arithmetik der Risikominimierung erklärt aber nicht hinreichend die Resonanz. Die psychischen Krankheiten der Serienhelden artikulieren auch einen kulturellen Konflikt. Der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze, ein Spezialist für die großen Finanzkrisen des 20. und 21. Jahrhunderts, hat jüngst Modernität als den Zustand definiert, in dem man ständig damit befasst ist, die Katastrophe abzuwenden.

Toozes Gedanken aufgreifend, könnte man die These aufstellen, dass die psychisch kranken Serienfiguren paradigmatische Helden einer solchen Moderne sind, Figuren, die stets am Rande des Zusammenbruchs ihrer Existenz stehen und doch irgendwie durchkommen und sogar zu Wohlstand, Ansehen und Macht kommen.

Wie lange die Konjunktur dieser Helden einer krisenhaften Moderne noch anhalten wird, bleibt abzuwarten. In gewisser Weise hat sich die narrative Simulation solcher Existenzen im Angesicht der Katastrophe aber mittlerweile erübrigt. Ein ehemaliger Reality-TV-Star ("The Apprentice", 14 Staffeln von 2004-2018, 192 Folgen), dessen Pathologien nicht weniger offenkundig sind als die der Serienhelden und der Psychiatern in den USA längst Anlass zu Debatten über die Zulässigkeit von Ferndiagnosen gibt, ist mittlerweile da gelandet, wo Frank Underwood auch schon war.

In einem beispiellosen Vorgang der Entgrenzung der Künste sind wir mit dem Amtsantritt von Donald Trump alle zu Statisten in einer Serie geworden, deren Ende keineswegs abzusehen ist und die, wie die fiktionalen Vorgänger, davon handelt, ob und wie die Katastrophe noch abgewendet werden kann. Die Weltgeschichte seit 2016 lässt sich in diesem Sinne auch lesen als Chronik des Angriffs des Fernsehens auf die übrige Wirklichkeit.