Älterer Mann lehnt gedankenverloren an einem Baumstamm
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Gedanken
Orte des Denkens

Im Bus, im Wartezimmer, im Café oder im Park - es gibt unendlich viele Orte zum Nachdenken. Ist das Denken dann ortlos? Wie fängt man es ein?

Von Elmar Schenkel 26.05.2022

Auch die Orte des Denkens stehen in diesen Zeiten unter wirklichem oder virtuellem Beschuss. Die Nachrichten über den Krieg verfolgen uns in die geheimsten Kammern unseres Daseins. Um so wichtiger, diese zu beschützen, und wenn es nur die Erinnerung an sie wäre; auch diese hilft und beruhigt.

An mir selbst bemerke ich, dass ich eine lang gehegte, aber mit dem Eintritt ins Internet-Zeitalter fast abgelegte Gewohnheit wieder aufgreife. Es ist der Gang in Antiquariate, in jene stillen Hinterstuben und Gewölbe, in denen das Reden abgedämpft erscheint und man sich alten und gebrauchten Büchern widmen kann, Fenster in andere Zeiten. Es ist, als hätten diese Orte lange nicht existiert, mitsamt ihren Schätzen, und machten jetzt wieder ihre Türen auf, jetzt, wo das digitale Zeitalter seine Kriege entfesselt. Die alten Bücher öffnen die Augen für die größeren Bezüge, in denen die Menschheit lebte, zwischen Pest und Krieg, Hunger und Flucht. Fast eine Art Raumstation mit dem Blick auf eine verrückte Erde. Orte, die melancholisch machen und zum Nachdenken anregen.

Es gibt sicherlich keine klar definierten Denk-Orte, wo nicht anders als gedacht werden kann. Auch nicht Bibliotheken, diese gigantischen Ablagerungen von Wissen. Mich erdrückt diese Fossilienwelt und eines Tages werde ich ein Hausverbot bekommen, weil ich dort immer über den Büchern einschlafe. Letztlich ist es die Bewegungslosigkeit, die alles Denken eindämmt.

Kaum ein Philosoph hat sein Denken so sehr mit leiblicher Bewegung verknüpft wie Nietzsche.  Entscheidende Gedanken kamen ihm bei seinen Wanderungen im Engadin oder an der ligurischen Küste. Er stellte fest, dass ihm Gedanken im Freien kamen, die gehen, springen, ja tanzen können, dort "wo selbst die Wege nachdenklich werden". Das "geklemmte Eingeweide" der Stubengelehrten behindere das Denken. Die ersten Ideen zu "Menschliches, Allzumenschliches" sollen ihm unter einem Baum zugefallen sein.

Bäume sind gute Ratgeber

Bäume sind in der Tat gute Ratgeber für das Denken: Sie verwurzeln den Denkenden und halten gleichzeitig den Kontakt nach oben. Sie dehnen sich vertikal wie horizontal und geben damit eine Dimensionierung vor, die den Gedanken gut tut. Bäume stehen immer wieder an Wendepunkten der Geschichte, geradezu als Begleiter der Menschen durch die Jahrtausende: die Baumesfrucht,  die Adam und Eva in den Kosmos des Bewusstseins stürzen ließ; der Apfel, der Newton die Schwerkraft verkündete. Buddha erlangte Erleuchtung unter einem Baum und pflegte unter Bäumen zu predigen, vielleicht auch wegen der Kühle dort, denn auch der Schatten gehört zum Denken. Und wir verdanken den Bäumen die Buch-Staben, ja das Papier unserer Bücher. Die Bäume tragen unsere Gedanken. Voller Bäume sind auch die Friedhöfe, die sich dem Nach-Denken zuneigen. Hier kann der Gedanke den Tod nicht verdrängen, auch wenn die Grabmäler selbst eine gewisse Verdrängung darstellen, da sie ja für die Überlebenden gebaut sind. Viele Gedanken, die uns kommen, dienen dieser Verdrängung. Sie bilden eine Schutzhülle, die nur manchmal durchbrochen wird. Man kann dies auch beobachten, wenn man in den frühen Morgenstunden wach im Bett liegt. Das Immunsystem ruht, es muss sich erholen, doch ist dies auch das Einfallstor für belastende Gedanken. Da hilft es, geordnete Denkfiguren in Stellung zu bringen, Reime und Verse, Gedichte, Rhythmen.

Baum, Friedhof, Bett stehen eher für Stillstand. Doch Denken braucht bewegliche Orte. Wenn ein Denkdruck entsteht, ist es gut, sich auf ein Fahrrad zu setzen, spazieren zu gehen oder zu joggen. Der körperliche Rhythmus klopft Gedanken aus ihren Schalen heraus, wie es die Krähen mit den Nüssen tun. Doch das Denken will sichtbar werden, es sucht das Schriftbild. Und das entsteht an einem Ort, den wir, weil er banal scheint, vergessen haben: am Schreibtisch, auf dem Blatt, am Bildschirm. Hier muss in die Finger übersetzt werden, doch das Übersetzen selbst erzeugt neue Gedanken. Dieser Ort, mit seinen Schubladen und Dateien, seinen Türen in alle Welt, ermöglicht mir das Ordnen der Gedanken, aber auch das Verfertigen der Gedanken im Schreiben: "Ich habe sogar gelernt, nur mit der Schreibmaschine zu denken." (Bohumil Hrabal)