modernes Gebäude der Universität Leipzig
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30 Jahre Deutsche Einheit
Ostdeutsche Hochschulen im Vereinigungs-Prozess

Die Hochschulen in Ostdeutschland haben sich seit der Wiedervereinigung umfassend erneuert. Der Neuanfang ist auch vielen Professoren zu verdanken.

Von Hans Joachim Meyer 03.10.2020

Vor dreißig Jahren begann für die ostdeutschen Universitäten und Hochschulen ein neues Kapitel ihrer Geschichte. Voraussetzung dafür war die friedliche Revolution im Herbst 1989. Zwar hatten in der DDR die Stätten von Forschung und Lehre in den Prozessen der Selbstbefreiung keine wichtige Rolle gespielt. Doch waren sie seit dem Herbst 89 in Bewegung. So zwangen Ende Oktober/Anfang November 1989 an der Humboldt-Universität zu Berlin protestierende Studenten die FDJ-Kreisleitung zum Rückzug, so dass der Weg frei wurde für die Wahl eines Studentenrates.

Freilich waren noch die alten Hochschulleitungen im Amt, doch schwand deren Entscheidungsmacht von Tag zu Tag. Im Februar 1990 wählte die Technische Universität Dresden auf einem demokratisch legitimierten Konzil den Physiker Günther Landgraf zum neuen Rektor. Im April folgte an der Humboldt-Universität die Wahl des Theologen Heiner Fink, bald darauf in Halle die Wahl des Agrarchemikers Günther Schilling und in Greifswald die Wahl des Theologen Hans-Jürgen Zobel. Kurz danach wurde in Rostock der Mathematiker Gerhard Maeß zum Rektor gewählt. Im Juni 1990 wählte das Konzil der Leipziger Universität die Mediziner Gottfried Geiler und Gerald Leutert sowie den Theologen Günther Wartenberg in die Leitung der Universität und dann im Januar 1991 den Chemiker Cornelius Weis zum neuen Rektor. Von den neuen Rektoren scheiterte m.W. nur Heiner Fink. Alle anderen 1990/1991 gewählten Rektoren blieben bis zum Ende ihrer Amtsperiode, woran sich oft eine zweite Amtsperiode anschloss. Sie waren also die Repräsentanten ihrer Universitäten während der Hochschulerneuerung im Osten Deutschlands.

Am 18. März 1990 fanden – erstmalig in der Geschichte der DDR – freie Wahlen zur Volkskammer statt. Im Ergebnis erhielten jene Parteien eine eindeutige Mehrheit, welche sich vorher für die Einheit Deutschlands durch Beitritt zur Ordnung des Grundgesetzes ausgesprochen hatten. Damit würden künftig auch im Osten Deutschlands die Universitäten und Hochschulen wie das gesamte Schulwesen in die Kompetenz der wieder zu errichtenden Länder fallen.  Dennoch entsprach es der allgemeinen Erwartung, dass die neue Regierung unter Lothar de Maizière die in Schulen und Hochschulen beginnenden Reformprozesse vorantrieb, ohne dadurch den künftigen Ländern in ihrer Gestaltungskompetenz vorzugreifen.

Für das Ministerium für Bildung und Wissenschaft konnte das nur bedeuten, erstens, die Erneuerungsprozesse in Schulen und Hochschulen zu befördern und, so noch nicht geschehen, die Wahl neuer Leitungsstrukturen zu ermöglichen und einzufordern. Zweitens war es überfällig, die Einrichtungen für Marxismus-Leninismus zu schließen und deren Hochschullehrer abzuberufen. Drittens schien es angemessen, in akademisch begründeten und öffentlich einsichtigen Verfahren Berufungen vorzunehmen, insbesondere, wenn damit Unrecht korrigiert werden konnte. Schließlich schien es, viertens, sinnvoll, eine vorläufige Hochschulordnung auszuarbeiten und in Kraft zu setzen, damit diese bis zum Beitritt und für eine begrenzte Übergangszeit in den künftigen Ländern als rechtliche Orientierung dienen konnte.

"Die ostdeutschen Länder sind unterschiedliche Wege bei der Erneuerung der Hochschulen gegangen."

Für die wieder entstandenen ostdeutschen Länder blieb die Erneuerung der Hochschulen eine wichtige Aufgabe. Sie sind dabei unterschiedliche Wege gegangen. Der Einigungsvertrag räumte ihnen dafür eine Frist bis zum 3. Oktober 1993 ein. Spätestens bis dahin war ein Landeshochschulgesetz zu beschließen, das mit dem damals geltenden Hochschulrahmengesetz des Bundes kompatibel war. Das erste ostdeutsche Land, das sich gleich zu Anfang der Hochschulerneuerung annahm, war Mecklenburg-Vorpommern. Da die dortige Regierung beschloss, die Pädagogischen Hochschulen zu schließen, konzentrierte sich die Hochschulerneuerung im Wesentlichen auf die Universitäten Rostock und Greifswald.

Das Beispiel Sachsen

Das Land mit den meisten Universitäten und Hochschulen wie auch mit dem nach Ostberlin größten außeruniversitären Forschungspotential war der wiedererstandene Freistaat Sachsen, in dem dann auch die heftigsten Auseinandersetzungen über die Wege zur Hochschulerneuerung geführt wurden. Differenziert vorzugehen schien nicht nur realitätsgemäßer, sondern auch erfolgversprechender. Die im Einigungsvertrag bis zum 31. Dezember 1990 eigentlich nur für nicht mehr benötigte Verwaltungsstellen vorgesehene Möglichkeit der Abwicklung kam nur für solche Hochschuleinrichtungen  zur Anwendung, deren Aufgabe unbestreitbar mit dem Scheitern des DDR-Sozialismus entfallen war oder deren Forschung und Lehre, seit 1968 oft ausdrücklich als "marxistisch-leninistisch" bezeichnet, dem SED-Herrschaftssystem zugeordnet war wie die Rechtswissenschaft und die Wirtschaftswissenschaft. Dass auch dies sich als ein zu grobes Raster erweisen konnte, sei nicht bestritten.

Für die meisten Hochschulfächer kam ein solches Vorgehen nicht in Frage. Stattdessen galt es zu prüfen, erstens, ob Hochschulangehörige in der Zeit der DDR die Rechte anderer, insbesondere von Kollegen und Studenten, verletzt hatten. Und zweitens war festzustellen, ob sie für ihre akademische Aufgabe hinreichend wissenschaftlich qualifiziert waren. Für das erste Kriterium wurden Personalkommissionen gebildet, die aus Vertretern des jeweiligen Hochschulpersonals sowie aus Vertretern der sächsischen Öffentlichkeit bestanden. Kontrolliert wurde dies von der vom Landtag gewählten Personalkommission für das Hochschulwesen. Für das zweite Prüfkriterium wurden Fachkommissionen gebildet, die aus sächsischen und nichtsächsischen Wissenschaftlern bestanden. Hier fungierte als obere Instanz die von der Regierung berufene Sächsische Hochschulkommission, die aus prominenten Wissenschaftlern aus der alten Bundesrepublik wie auch aus sächsischen Wissenschaftlern bestand. In jedem Fall war durch eine Auskunft der „Gauck-Behörde“ zu ermitteln, ob und unter welchen Umständen eine Zuarbeit zum MfS erfolgt war, weil dies generell eine Zugehörigkeit zum öffentlichen Dienst ausschloss. Doch auch eine solche Entscheidung war kein Automatismus, sondern bedurfte eines klärenden Gesprächs in der zuständigen Personalkommission. Als rechtliche Grundlage diente das 1991 vom Sächsischen Landtag beschlossene Hochschulerneuerungsgesetz. Ferner wurde durch das Hochschulstrukturgesetz von 1992 die künftige sächsische Hochschullandschaft kompatibel mit der Situation in der alten Bundesrepublik als ein Ensemble von Universitäten, Kunsthochschulen und Fachhochschulen definiert und später noch durch Berufsakademien ergänzt.

Trotz der Arbeit der Personal- und der Fachkommissionen wünschte der Landtag, dass alle Professoren neu berufen wurden. Dafür wurde in allen Hochschulen ein Kern von Professoren berufen, der stets die gewählten Rektoren, Prorektoren und Dekane einschloss. Dieser Hochschulkern war dann für die Berufungen in der jeweiligen Einrichtung verantwortlich. Mit einem großen Kraftakt aller Beteiligten konnte die personelle und strukturelle Erneuerung des sächsischen Hochschulwesens so weit gebracht werden, dass der Sächsische Landtag im Jahre 1993 noch vor der Parlamentspause den Entwurf des künftigen Sächsischen Hochschulgesetzes beraten und beschließen konnte. Nicht unerwähnt soll bleiben, dass in diesen Jahren die ostdeutschen Länder zunehmend in den Genuss der Hochschulbauförderung kamen, wodurch deren Universitäten und Hochschulen schrittweise an die in der alten Bundesrepublik übliche bauliche und apparative Ausstattung herangeführt wurden. Unbestreitbar war das ein großer Fortschritt für die Wissenschaft im Osten Deutschlands, doch erforderte dieser auch eine erhebliche Zuarbeit aus den Hochschulen.

Ich schildere am Beispiel Sachsens die enorme Leistung der Hochschulerneuerung so eindringlich, weil ich zunehmend den Eindruck habe, dass der große Einsatz ostdeutscher Hochschullehrer für den Neuanfang im vereinigten Deutschland vergessen ist. Stattdessen wird der Wandel an der Berliner Humboldtuniversität als Elitenaustausch präsentiert, während die Mühen an den anderen ostdeutschen Universitäten dahinter verschwinden.

"Westliche Urteile über den Osten haben schon 1990 den Blick auf die Realität verstellt."

Westliche Urteile über den Osten haben schon 1990 den Blick auf die Realität verstellt. Bis heute kann man die Behauptung hören und lesen, in der DDR sei nach sowjetischem Vorbild die Lehre von der Forschung getrennt worden. Tatsächlich hatte die DDR die außeruniversitäre Forschung in der Akademie der Wissenschaften konzentriert, während in der Bundesrepublik dafür die Max-Planck-Gesellschaft und die anderen, teils neu geschaffenen Forschungsorganisationen dienten. Doch 1990 hieß es plötzlich, die Grundlagenforschung müsse in die Universitäten zurückgeholt werden und damit müsse man in der früheren DDR beginnen. Was, da dort die länderfinanzierten Universitäten gerade in ihren Stellenplänen zusammengestrichen wurden, dazu führte, dass das sogenannte Wissenschaftlerintegrationsprogramm hochqualifizierten Forschern kaum Chancen bieten konnte. Doch spätestens 1992 lagen der DFG Daten vor, die zeigen, dass die Proportionen zwischen universitärer und außeruniversitärer Forschung in der DDR und in der Bundesrepublik in etwa übereinstimmten. Zum Glück machten die fairen Bewertungen des Potentials in den bisherigen Akademieinstituten durch den Wissenschaftsrat die Gründung der Leibnizgemeinschaft unausweichlich. Mehr als einmal hat man dann versucht, dieser den Garaus zu machen.

Anfang 2019 erklang aus der Bertelsmann-Stiftung die Klage, noch immer leite kein Ostdeutscher eine deutsche Universität. Wusste man nicht, dass Mitte der neunziger Jahre Wolfgang Frühwald, damals Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, in einer Rede hervorhob, die Hochschulerneuerung im Osten sei ganz überwiegend unter dem Rektorat ostdeutscher Wissenschaftler erfolgt? Doch gab es nach der Hochschulerneuerung noch ostdeutsche Hochschullehrer? Ende 1963 stammten knapp 70 Prozent der sächsischen Hochschullehrer aus dem Osten Deutschlands. Naturgemäß blieb dies nicht so, denn zur wiederhergestellten akademischen Freiheit gehört, dass die Berufungen maßgeblich von den Hochschulen bestimmt werden. Und diese wollten die gesamtdeutschen und internationalen Zusammenhänge von Wissenschaft in ihrer Professorenschaft abbilden.

Altersversorgung ostdeutscher Wissenschaftler

Für gravierend halte ich, dass eine Gruppe ostdeutscher Wissenschaftler heute keine angemessene Altersversorgung erhält. Denn während Mecklenburg-Vorpommern die Hochschulerneuerung mit der Verbeamtung seiner Professoren abschloss, wurden in Sachsen nur diejenigen verbeamtet, die nach Bundesrecht die Altersgrenze noch nicht überschritten hatten. Fairerweise sei hinzugefügt, dass den Finanzminister bei seiner rigiden Haltung die Sorge umtrieb, Sachsen könne sich unrettbar verschulden. Auch aus anderen ostdeutschen Ländern kenne ich Professoren, die sich um den Neuanfang verdient gemacht haben und dennoch im Alter nicht angemessen versorgt sind. Natürlich hofften die Betroffenen auf die Gerichte, insbesondere auf das Bundesverfassungsgericht. Doch letzteres bündelte die Anliegen von achtzehn Fallgruppen zu einem einzigen Verfahren und wies in seinem Urteil vom 28. April 1999 mit Ausnahme eines Punktes die Verfassungsbeschwerden zurück. Damit wurden zugleich Bemühungen, die Probleme der unterschiedlichen Fallgruppen politisch zu lösen, erschwert. Und solche Bemühungen gab es durchaus. Auch die regelmäßige Zusammenkunft der ostdeutschen Regierungschefs mit der Bundeskanzlerin hat das Problem wiederholt erörtert und die Ostbeauftragten der Bundesregierung beauftragt, eine Lösung herbeizuführen. Allerdings wurde dabei der meines Erachtens untaugliche Versuch unternommen, die juristische Verantwortung für das Problem beim Bund oder bei den Ländern festzumachen. Vom sächsischen Wissenschaftsminister Sebastian Gemkow erfuhr ich, dass sich der derzeitige Ostbeauftragte der Bundesregierung, Staatssekretär Marko Wanderwitz, weiter um eine Lösung bemüht.

Eine realistische Lösung für eine verbesserte Altersversorgung dieser ostdeutschen Professoren ist vom Deutschen Hochschulverband erarbeitet worden. Neben dessen Präsidenten Professor Bernhard Kempen müssen hier insbesondere Professor Wolfgang Löwer und Professor Gunnar Berg genannt werden. Diese drei Persönlichkeiten haben sich seit Jahren unermüdlich und bei vielen Gelegenheiten für die um die Hochschulerneuerung hochverdienten und dennoch im Alter nicht angemessen versorgten ostdeutschen Professoren eingesetzt. Der Vorschlag des DHV geht dahin, dass deren Hochschulen eine Stiftung errichten, die von der jeweiligen Landesregierung finanziell so ausgestattet wird, dass der hier beschriebene Personenkreis einen Betrag zusätzlich zur Altersversorgung erhalten kann.

Seit der aufregenden ostdeutschen Hochschulerneuerung sind dreißig Jahre vergangen. Guten Gewissens können wir diese Leistung nur feiern, wenn wir jenen, die damals eine schwere Last trugen, gerecht werden.