Ökosozialer Wandel
Perspektiven, Transformations-Müdigkeit zu überwinden
Deutschland ist transformationsmüde. Der Appell zu einer großen ökosozialen Transformation mag zwar wissenschaftlich gut begründet, durch politische Beschlüsse gedeckt und ökonomisch langfristig vernünftig sein, erscheint aber zunehmend im gesellschaftlichen Abseits. Die Gründe dafür sind vielfältig.
Erstens: In Deutschland fühlen sich viele von den multiplen Krisen und dem beschleunigten Wandel der Gegenwart überfordert und reagieren mit einer oft rückwärtsgewandten und angstbesetzten Präferenz für das Bewährte. Mentalitätsgeschichtlich ist dies ein erwartbares Reaktionsmuster, gerade in Deutschland, wo Sicherheit traditionell ein Leitwert ist. Zweitens: Die politische Polarisierung, die durch postfaktische Problemverdrängung und digitale Manipulationen der öffentlichen Meinung verstärkt wird, schränkt die Handlungsspielräume für ehrgeizige Klimapolitik erheblich ein. In der fragil gewordenen Demokratie werden die nötigen Kooperationen instabil. Drittens: Die politischen Maßnahmen des ökosozialen Wandels werden von vielen in Deutschland als sozial ungerecht oder als illegitimer Eingriff in private Freiheitsrechte wahrgenommen. Der Verdacht von Verbotspolitik und grünem Paternalismus ist zum Feindbild avanciert. Viertens: Der internationale Mangel an Vertragstreue zu den Klimaabkommen führt zu Wettbewerbsnachteilen ökologischer Pioniere. Die Weltgesellschaft ist zunehmend von fragmentierten und kurzfristigen Interessen und geostrategischen Machtkonflikten bestimmt.
Man kann dies als typisches ethisches Dilemma zusammenfassen: Unter dem Druck aktueller Dringlichkeiten bleiben kaum Ressourcen für das existenziell Wichtige.
Was kann man gegen die Transformations-Müdigkeit tun? Zunächst braucht es Ermutigung gegen die Mentalität der Verzagtheit. Deutschland ist ein Land mit vielfältigen Potenzialen, gerade auch in der Wissenschaft. Ebenso wichtig ist die Überwindung der strukturellen Handlungsblockaden. Ethisch fehlt es nicht primär an Zielwissen, sondern an Transformationswissen, was man "transformationsethisch" als Akzentverlagerung von Begründungsdiskursen zur interdisziplinären Forschung über Hemmnisse und Erfolgsfaktoren von Wandlungsprozessen beschreiben kann.
"Die Analyse und Kommunikation gelingender Beispiele eines zukunftsorientierten Wandels können helfen, die Transformations-Müdigkeit zu überwinden."
Sozialpsychologisch ist insbesondere die Erfahrung der Selbstwirksamkeit in der Mitgestaltung der ökosozialen Transformation ein wichtiges Heilmittel gegen die sich ausbreitende Resignation. Die Analyse und Kommunikation gelingender Beispiele eines zukunftsorientierten Wandels können helfen, die Transformationsmüdigkeit zu überwinden. Sozialethisch lässt sich dies mit einem pragmatistischen oder experimentalistischen Zugang verbinden, der nicht deduktiv von Sollenspostulaten ausgeht, sondern anhand konkreter Praxis zu Transformationsprozessen ermutigen und Handlungsfreude vermitteln will. Es braucht eine Kultur der Fehlerfreundlichkeit, damit die nötige Risikobereitschaft sowie das rechtzeitige Zugeben von Fehlern und Unterstützungsbedarf zustande kommen.
Kann Demokratie Nachhaltigkeit?
Angesichts der Systemkonkurrenz mit zentralistisch-autokratischen Regimen wie China, das die Große Transformation gegenwärtig unter dem Stichwort "Ökologische Zivilisation" mächtig vorantreibt, stehen demokratisch-liberale Gesellschaften wie Deutschland unter Druck: Sie müssen nachweisen, dass sie fähig sind, die ökologische Transformation hinreichend rasch durchzusetzen. Demokratie könne keine Nachhaltigkeit, so wird oft behauptet, wegen ihrer kurzfristigen Orientierung in Wahlperioden, aufgrund des dominanten Schemas der Legitimation durch Wohlstand und weil sie durch zu viele Veto-Spieler gelähmt werde, die sie zu unerträglich langsamen Verfahren zwinge, sowie nicht zuletzt durch die Garantie individueller Freiheitsrechte, die klimaschädliche Formen der Selbstentfaltung schütze.
Nach Felix Heidenreichs Studie zu "Nachhaltigkeit und Demokratie" (2023) wird die Transformation durch ein falsch verstandenes Freiheitsverständnis blockiert. Staatliche Handlungsfähigkeit könne nur zurückgewonnen werden, wenn Freiheit nicht als Maximierung individueller Handlungsspielräume der Willkür, sondern republikanisch als "Koautorschaft" der Regeln des Zusammenlebens interpretiert werde. Man kann dies mit dem Freiheitsbegriff von Hannah Arendt verknüpfen: "Die Freiheit, frei zu sein" werde erworben durch persönliches Einstehen für das als richtig Erkannte, auch gegen Widerstände.
Republikanische Freiheit braucht eine aktive Zivilgesellschaft und demokratische Bildung. Die Befähigung zur mündigen Mitgestaltung der Gesellschaft ist nach dem Anspruch des Konzepts der Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) das zentrale Ziel der Bildung in Zeiten der Großen Transformation, auch und gerade an Hochschulen und Universitäten. Transformation braucht Bildung, die dazu befähigt, sich auf neue Herausforderungen einzulassen, sei es durch entsprechende berufliche Ausbildung und lebenslanges Lernen, sei es mental und kulturell, um sich wandelnde soziale Strukturen positiv mitzugestalten, ohne auf das, was verloren geht, fixiert zu sein – so Lambert T. Koch und Hans Frambach in ihrer Studie zur "Transformativen Wirtschaftspolitik" (2024). Sie fassen dies auch als "Humanistische Transformation" zusammen. Diese nehme die Menschen im Spannungsfeld zwischen Stabilität und Wandel mit, nehme Ängste ernst und adressiere das Bedürfnis nach Sicherheit und gesellschaftlichem Zusammenhalt.
"Es braucht Pioniere in Wirtschaft und Gesellschaft, die – trotz teilweise widriger Bedingungen und Anreize – innovative ökosoziale Praxis wagen."
Aus politik- und wirtschaftswissenschaftlicher Perspektive forscht Elinor Ostrom zur Frage, wie Wandel ermöglicht wird, insbesondere hinsichtlich des Umgangs mit Commons, also Kollektivgütern. Entscheidend sei, dass Veränderungen auf drei Ebenen sich wechselseitig verstärken: Es bedarf eines Wertewandels in der Gesellschaft, der oft latent und diffus ist; es braucht Pioniere in Wirtschaft und Gesellschaft, die – trotz teilweise widriger Bedingungen und Anreize – innovative ökosoziale Praxis wagen und sich dafür erfolgreich Nischen schaffen, also Anpassungen von unten durch Initiativen der Zivilgesellschaft und auf der Ebene von Unternehmen "als Transmissionsriemen politischer Impulse" (Koch/Frambach); schließlich sei eine Änderung der rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen erforderlich. Dabei ist eine Weiterentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft zur ökosozialen Marktwirtschaft, die ordoliberal und pluralismuskompatibel nicht primär auf Interventionen und Subventionen setzt, sondern auf eine Steuerung durch Rahmenbedingungen, von zentraler Bedeutung. Das spart Kosten und ermöglicht die gerade in Krisenzeiten nötigen Investitionen in Infrastrukturprojekte (was in Deutschland zum Beispiel in Bezug auf die Bundesbahn oder die ländlichen Räume in den neuen Bundesländern sträflich vernachlässigt wurde). Transformation braucht ein Klima des Vertrauens für das Gewinnen privater Investitionen.
Wissenschaft als Katalysator
Da Deutschland eine Wissensgesellschaft ist, muss die Wissenschaft eine Impulsfunktion übernehmen, wenn Transformation gelingen soll. Doch wo sind die Grenzen wissenschaftlicher Kompetenz? Kontrovers diskutiert wird dies anhand des Begriffs "transformative Wissenschaft". Das Modell kann keine wissenschaftspolitische Norm für alle sein, denn dies wäre ein einseitiges Plädoyer für angewandte Wissenschaft. Ihre Kreativität und Tiefe hat jedoch auch damit zu tun, dass sie sich dem Diktat des unmittelbar Nützlichen entzieht. Wissenschaftliche Vernunft unterscheidet sich von politischer Vernunft. Dem trägt das Modell der „katalytischen Wissenschaft“ (Ortwin Renn), die Impulse setzt, ohne Entscheidungen vorwegzunehmen, Rechnung.
Katalytische Wissenschaft befähigt zu kritischem und fachübergreifendem Denken durch methodische Grundlagenreflexion hinsichtlich der Reichweite und Grenzen der eigenen Modelle. Die immer größere Zersplitterung des Wissens in der wachsenden Zahl von Fachdisziplinen macht die interdisziplinäre Bündelung des Wissens oft zum notwendigen Zwischenschritt für seine gesellschaftliche und politische Verstehbarkeit. Wissenskommunikation wird in der postfaktischen Gesellschaft zur wichtigen Aufgabe. Universitäten werden nicht nur als Orte der Ausbildung gebraucht, sondern ebenso als Orte der gesellschaftlichen Selbstreflexion, als Katalysatoren für Transformationswissen und als Dienstleister für lebenslanges Lernen. Manche sprechen zusammenfassend auch von der "Third Mission" der Wissenschaft.
Meines Erachtens sind dies wichtige Impulse, um die Wissenschaft für einen konstruktiven und methodisch-reflektierten Beitrag zur Großen Transformation zu rüsten. Die beiden BMBF-Projekte Hoch-N (Nachhaltigkeit an Hochschulen) und LeNaShape (Forschen in gesellschaftlicher Verantwortung – Gestaltung, Wirkungsanalyse, Qualitätssicherung), an denen ich mitwirken durfte, haben hierzu vielfältige Anregungen formuliert. Meine Perspektive ist dabei diejenige der Ethik, die als normative Wissenschaft nicht nur Fakten feststellen, sondern auch bewerten und Handlungsorientierung geben will. Dies steht in Spannung zum positivistischen Verständnis von Wissenschaft, sodass die Frage nach dem Stellenwert von Normativität in der Wissenschaft zu grundlegenden wissenschaftstheoretischen Debatten führt.
Innovationen für Klimaneutralität
Klima- und Energiepolitik sind das zentrale Feld der Großen Transformation. Deutschland hat sich im Klimaschutzgesetz ehrgeizige Ziele gesetzt: Klimaneutralität soll bis 2045 und eine Reduktion des CO2-Ausstoßes um 65 Prozent (gegenüber 1990) bis 2030 erreicht werden. Umzusetzen ist das nur, wenn man „negative Emissionen“ einbezieht, also die Bindung von CO2 in technischen und natürlichen Senken (Wald, Moore, tiefwurzelnde Pflanzen, CCS / Carbon Capture and Storage). Ottmar Edenhofer bezeichnet die Schlüsselstellung der negativen Emissionen als „neue Epoche der Klimapolitik“.
Problematisch ist die Novellierung des Klimaschutzgesetzes im April 2024, die zur Auflösung der Sektorpflicht geführt hat. Dadurch ist die verbindliche Zurechnung von Verantwortung geschwächt und das Scheitern vorprogrammiert. 125 Theologinnen und Theologen haben in einem öffentlichen Brief darauf hingewiesen, dass das Klimaschutzgesetz damit möglicherweise nicht mehr verfassungskonform und aus ethischer Sicht substanziell geschwächt ist.
Erreichbar sind die Ziele der Klimaneutralität nur, wenn Institutionen der Gesellschaft mitziehen und teilweise vo-rangehen. So hat die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) beschlossen, bis 2035 Klimaneutralität anzustreben. Auch Universitäten, etwa das Zentrum Hochschule und Nachhaltigkeit Bayern (BayZeN), diskutieren die Anwendbarkeit der Zielbestimmung auf Universitäten. Nachhaltiges Campusmanagement zählt inzwischen deutschlandweit zu den Standards der praktischen Beteiligung von Forschungseinrichtungen an der Großen Transformation. Auch freiwillige Initiativen einzelner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind impulsgebend, beispielsweise die Kampagne „Unter 1.000 mach‘ ich’s nicht“ zum Verzicht auf Flüge unter 1.000 Kilometern und eine Reduktion des universitären "Konferenztourismus".
Die zentrale Kompetenz und Verantwortung von Wissenschaft für die gesellschaftliche Entwicklung liegt aus meiner Sicht vor allem in Innovationen. Diese haben eine grundlegende Bedeutung, um die spezifischen Potenziale der Wissenschaft zu würdigen und freizusetzen. Die EU hat unter dem Titel "Responsible Research and Innovation" (RRI, kurz auch RI) ein wertebasiertes Innovationsverständnis entwickelt. Dieses Konzept versteht Innovationen als Antwort auf die "Grand Challenges" wie Klimawandel oder Welternährung und postuliert eine wissensbasierte und reflexive Technikpolitik. Diese soll Innovationen nicht allein der Steuerungsdynamik von Märkten und vermeintlichen Sachzwängen überlassen, sondern in Bezug auf die großen Herausforderungen des Gemeinwohls reflektieren, korrelieren und fördern. RI zielt auf eine Antizipation komplexer Wirkungszusammenhänge sowie einen reflexiven Umgang mit Ungewissheiten, auf Vorsorge und Resilienz sowie auf Demokratisierung und frühzeitige Partizipation betroffener Akteure.
"Die zentrale Kompetenz und Verantwortung von Wissenschaft für die gesellschaftliche Entwicklung liegt aus meiner Sicht vor allem in Innovationen."
Der Technikhistoriker und ehemalige Forschungsdirektor des Deutschen Museums Helmuth Trischler fordert einen Wandel der bisher eher zentralistisch-großtechnischen Technik- und Innovationskultur hin zu dezentralen Lösungen, die auf die Vielfalt lokal variierender Kulturen abgestimmt sind. Dabei sollten technische Innovationen stärker mit sozialen Innovationen verknüpft, in systemische Zusammenhänge eingebettet und konsequent auf die Abkehr von der Nutzung fossiler Brennstoffe ausgerichtet werden. Auch Exnovationen, also der Ausstieg aus nichtnachhaltigen Strukturen und Pfadabhängigkeiten (zum Beispiel aus der Finanzierung fossiler Energien), sind maßgebliche Elemente nachhaltiger Transformation.
In einem Forschungsprojekt zum Thema "Bioökonomie als gesellschaftlicher Wandel" habe ich eine Ethik der Innovation entwickelt. Bioökonomie ist aus meiner Sicht der innovationspolitische Zwilling der Nachhaltigkeit. Die Bayerische Bioökonomiestrategie, an der ich im Rahmen des Sachverständigenrats Bioökonomie Bayern mitwirken durfte, ist ein Treiber für die Große Transformation. Die Ressourcenwende im Bereich nachwachsender Rohstoffe könnte eine mit der Energiewende vergleichbare Dynamik erlangen. Innovative Projekte sind etwa Dämmmaterialien im Bau, Bioplastik aus Kartoffelstärke oder Carbonproduktion mithilfe von Algen, die dafür CO2 aus der Luft binden.
Meine spezifische Perspektive ist eine christliche Innovationsethik, die Schöpfungsethik nicht nur als Tabuisierung von Natureingriffen konzipiert, sondern ebenso als Option für kreativ-schöpferische Gestaltung, für Aufbruch, Wandel, Erneuerung, Umkehr und Vertrauen in die Zukunft. Die gegenwärtige Wahrnehmung der Kirchen als primär konservative Institutionen trifft nur einen Teil der Wirklichkeit. Oft waren Theologie und christliche Praxis Impulsgeber für tiefgreifende Transformationsprozesse in der Geschichte. Dabei waren und sind das Festhalten an Bewährtem und die Offenheit für Neues auf paradoxe Weise miteinander verschränkt.