

Genügsamkeit
Plädoyer für eine zeitgemäße Utopie
Nahezu alles, was die Menschheit heutzutage produziert, wird durch Konsum in Müll verwandelt, der im Erdreich, im Grundwasser, im Weltmeer, in der Luft und neuerdings sogar im Weltraum unrückholbar endgelagert wird. Selbst langlebige Investitionsgüter haben meist nur eine Lebensdauer von weniger als fünfzig Jahren. Das war nicht immer so.
Aus den Hochkulturen von vier Jahrtausenden sind Werke von Menschenhand überliefert, die von Anfang an nicht für den Konsum bestimmt waren. Sie verschafften den Menschen geistige Befriedigung, ohne dabei verbraucht zu werden. Man bezeichnet sie in ihrer Gesamtheit als Kunst. Die Pyramiden in Ägypten und Mittelamerika, die Tempelanlagen von Griechenland bis Angkor Vat in Kambodscha, die europäischen Kathedralen und all das, was in Museen bewundert wird: In all diesen Dingen steckt Arbeit, deren Gegenwert nicht als Kaufkraft in den Konsum geflossen ist, sondern in Gestalt von kulturellen Fossilien erhalten blieb.
"Sie verschafften den Menschen geistige Befriedigung, ohne dabei verbraucht zu werden."
Diese wurden von Menschen hervorgebracht, die daraus offenbar tiefe Befriedigung zogen, sonst hätten sie dafür nicht solchen Aufwand betrieben. Leistungen, die großen Aufwand erfordern, werden heute auch im Sport erbracht und entsprechend bewundert, doch von Rekorden und Weltmeistertiteln bleibt außer dem ökologischen Fußabdruck nur eine bald verblassende Erinnerung.
Ästhetische Lust statt Konsum
Kunstwerke hingegen können noch nach Jahrtausenden in ihrer konkreten Gestalt Bewunderung auf sich ziehen. Sie bereiten ästhetische Lust, ohne dabei selbst etwas von ihrer Substanz zu verlieren. Aus heutiger Sicht folgt daraus, dass Kunstwerke erheblich nachhaltiger sind als alle Konsumgüter, denn die hinterlassen außer ihrem ökologischen Fußabdruck nichts weiter als Müll.
Nun wird niemand im Ernst fordern, dass wieder Pyramiden und Kathedralen gebaut werden sollten. Selbst Monumentalbauten, für die es eine praktische Nutzung gibt, werden heute nicht mehr für die Ewigkeit errichtet. Doch angesichts des Klimawandels wäre es an der Zeit darüber nachzudenken, ob nicht ein Teil des Lusthungers, der heute durch Konsum gestillt wird, wieder wie in früheren Zeiten durch unverbrauchbare Güter, also durch Kunst, befriedigt werden sollte. Wer auf einen Badeurlaub auf den Malediven verzichtet und stattdessen ein schönes Gemälde erwirbt, schont die Umwelt, verschafft sich selbst eine dauerhafte Lustquelle und kann seinen Kindern vielleicht etwas vererben, was im Wert weiter steigt.
Solche privaten Entscheidungen zur Nachhaltigkeit sind löblich, werden aber das gigantische Übergewicht der Konsumsphäre kaum verringern. Eine Wende im Konsumverhalten wird erst dann eintreten, wenn im allgemeinen Bewusstsein der Gesellschaft der immaterielle Genuss von etwas Unverbrauchbarem einen höheren Statuswert hat als die Umwandlung eines luxuriösen Wirtschaftsgutes in Müll. Dazu bedarf es eines grundlegenden Wandels hin zu einer Kultur der Genügsamkeit.
Vor zweieinhalbtausend Jahren entstand ein Buch, das zu den weisesten der Weltliteratur zählt: Laotses "Tao te king". Brecht beschrieb seine Entstehung in einem wunderbaren Gedicht. Doch leider hat das nicht dazu geführt, dass die darin enthaltene Utopie einer Kultur der Genügsamkeit größere Verbreitung fand. Laotses Kerngedanke ist die Einsicht, dass dauerhaft Positives am ehesten aus negativem Handeln entspringt. Es ist ein Plädoyer für einen schonenden Umgang mit der Welt in jeder Hinsicht.
Die nicht vermehrbare Erde schonen
Das Verb schonen wie auch das Adverb schon entstammen der gleichen Wurzel wie schön. Wenn etwas schon gemacht ist, ist es schön, weil es bereits fertig ist und nichts mehr fehlt; und wer eine Sache schont, sorgt dafür, dass sie erhalten und damit schön bleibt. Auch das Schonen trägt zur Verschönerung der Welt bei.
Alle bisherigen Kulturen orientierten sich bewusst oder unbewusst an verinnerlichten Ideologien, die einen utopischen Kern hatten. Für das Christentum war und ist es das ewige Leben, für den Kommunismus die klassenlose Gesellschaft, für den Faschismus der kraftstrotzende Volkskörper und für die liberale Utopie des Westens ist es das Recht auf pursuit of happiness, das Thomas Jefferson in die amerikanische Unabhängigkeitserklärung geschrieben hat.
"Sie ignorierten die Begrenztheit der Erde."
Die widerwärtigste dieser Utopien war die Faschistische, denn sie idealisierte die pure Kraft der "blonden Bestie". Das ist eine im Kern ästhetische Vorstellung, denn physische Vitalkraft ist – anders als Erlösung, Gerechtigkeit und Freiheit – etwas sinnlich Wahrnehmbares. Der Missbrauch des Ästhetischen durch die Naziherrschaft muss für jeden, der sich mehr Schönheit wünscht, deshalb eine Warnung sein. Auch die anderen Utopien versuchten ihren zentralen Wertvorstellungen durch Kunst Ausdruck zu verleihen. Da sie alle von einem Absolutheitsdenken geleitet waren, hatten sie für dessen künstlerischen Ausdruck unbegrenzten Raum. Ebendas war aber auch ihr Manko: Sie ignorierten die Begrenztheit der Erde. Eine Menschheit, die sich die nicht vermehrbare Erde teilen muss, ist zuallerst zur Genügsamkeit verpflichtet.
Der gärtnerische Umgang mit der Natur
Wie könnte die Utopie einer Kultur der Genügsamkeit konkret aussehen? Als Modell dafür bietet sich die Vorstellung eines Weltgartens an. Der Garten steht für regionale Produktion, saisonale Nutzung landwirtschaftlicher Produkte, kurze Verkehrswege, wenig Ausschuss, Wiederverwertung des Abfalls, geringe Marktschwankungen, Verzicht auf großflächige Vergiftung mit Pestiziden, längere Nutzung von Werkzeugen und insgesamt verlangsamten Konsum. Der Garten bestand zudem von jeher aus einem Nutz- und einem Zierbereich. Ein Weltgarten sollte darüber hinaus einen ebenso großen Bereich an naturbelassener Wildnis enthalten.
"Als Utopie ist die Idee eines Weltgartens realistischer als der Traum vom ewigen Leben."
Der gärtnerische Umgang mit der Natur wäre für eine egalitäre Gesellschaft, die nicht mehr bereit ist, zu Monumentalbauten bewundernd aufzuschauen, das Äquivalent für Pyramiden, Tempel und Kathedralen. Es wäre eine demokratische Form von Weltverschönerung. Zugleich wäre es die bestmögliche Annäherung an eine nachhaltige Kreislaufwirtschaft. Als Utopie ist die Idee eines Weltgartens realistischer als der Traum vom ewigen Leben, freiheitlicher als kommunistische Kollektivierung, humaner als das Ideal einer Herrenrasse und weniger verschwenderisch als die Konsumkultur des pursuit of happiness.
Der griechische Philosoph Epikur fand im Garten das Glück, das bis heute mit seinem Namen verbunden ist. Ein Vorschein des möglichen Weltgartens war und ist von jeher die Kunst. Sie war schon immer der Ziergarten der Menschheit, in dem Natur und Kultur versöhnt sind. Wenn das Anschauen der Früchte ebenso viel Genuss bereitet wie ihr Verzehr, hat Kultur ihr höchstes Ziel erreicht. Der Aufklärer Voltaire, der mit seinem Roman Candide eine Satire auf die von Leibniz vertretene optimistische Vorstellung von "der besten aller möglichen Welten" schrieb, lässt am Schluss seinen Titelhelden alle Argumente für und gegen solchen Optimismus mit dem Satz kontern: il faut cultiver notre jardin, "wir müssen unsern Garten kultivieren". Das sollten wir tun.