Das Foto zeigt eine junge Frau, die ein Buch aus einem Regal in einer Unibibliothek nimmt.
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Johann Gottlieb Fichte
Publish or perish?

Die Publikationsflut in der Wissenschaft wird nicht erst seit heute beklagt. Ein fiktives Interview mit dem ersten Rektor der Berliner Universität.

Von Felix Grigat 25.11.2018

Forschung & Lehre: Herr Professor Fichte, ein Slogan des heutigen Wissenschaftsbetriebs ist "Publish or perish". Was halten Sie davon?

Johann Gottlieb Fichte: Wir alle, die wir uns auf irgend eine Weise mit der Wissenschaft, die man in diesem Zusammenhange Literatur nennen kann, beschäftigen, wachsen auf in dem Gedanken, dass die Betriebsamkeit mit derselben ein Glück sey, ein Vortheil, eine ehrenvolle Auszeichnung unseres gebildeten und philosophischen Zeitalters, und die wenigsten haben Kraft, das Vorurtheil zu durchdringen, und in sein Nichts aufzulösen. Es ist ein grosses Opfer, dass mehrere Generationen mit Nichts beschäftigt werden sollen, damit einst eine künftige sich mit Etwas beschäftigen könne. Das Publicum wird durch jene verkehrte Betriebsamkeit verkehrt, verbildet und für das Rechte verdorben.

F&L: Und doch sagen Sie, dass die Scientific Community durch das Publizieren konstituiert wird?

Johann Gottlieb Fichte: Ja, auf diese Weise kommt die Gelehrtenrepublik zusammen. Durch die Kraft der Druckerpresse sondern diese sich ab vom Haufen, der nicht drucken lässt, und der nun in dem Heerlager der formalen Wissenschaft dasteht als Leser. Es entstehen daraus neue Verhältnisse und neue Beziehungen dieser zwei Hauptstände des Heerlagers der formalen Wissenschaft auf einander.

F&L: Heute sollen Wissenschaftler vor allem Innovationen hervorbringen, es geht um das Neue, gerade auch in den Publikationen...

Johann Gottlieb Fichte: Die nächste Absicht beim Druckenlassen war freilich die, die Selbstständigkeit seines Geistes öffentlich zu documentiren: hieraus folgt im Wissenschaftlichen Haschen nach neuen, oder neuscheinenden Meinungen. Wer diesen Zweck erreicht hat, macht, ganz ohne Rücksicht, ob seine Meinung, wahr sey, sein Glück beim Leser. Nachdem aber einmal das Drucken recht in Gang gekommen, wird sogar diese Neuheit erlassen, und das Druckenlassen schon an und für sich selbst ist ein Verdienst: und nun entstehen im Wissenschaftlichen die Compilatoren, welche das schon hundertmal Geschriebene wiederum, nur ein wenig anders versetzt, drucken lassen.

"Jede neue Welle wird die vorhergehende verdrängen"

F&L: Und daraus folgt die Publikationsflut, die die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) unter dem Motto "Qualität statt Quantität" endlich eindämmen will?

Johann Gottlieb Fichte: Ja, dieser Strom der Literatur wird nun, immer sich erneuernd, fortquellen, und jede neue Welle wird die vorhergehende verdrängen; dass sonach der Zweck, um dessen willen zuerst gedruckt wurde, vereitelt, und die Verewigung durch die (Druck-)Presse aufgehoben wurde. Es hilft nichts, in offenem Drucke gemeint zu haben, wenn man nicht die Kunst besitzt, unaufhörlich fortzumeinen; denn alles Vergangene wird vergessen. Wer sollte es denn im Gedächtnisse behalten? Nicht die Schriftsteller, als solche; denn da jeder nur neu seyn will, so hört keiner auf den andern, sondern ein jeder geht seinen Weg und setzt seine Rede fort. Ebensowenig der Leser; dieser, froh mit dem Alten zu Ende zu seyn, eilt nach dem Neuangekommenen, – in dessen Wahl er überdies grossentheils durch das Ohngefähr geleitet wird. Es könnte bei dieser Lage der Sachen keiner, der etwas in den Druck ausgehen lassen, sicher seyn, dass ausser ihm und seinem Drucker noch irgend ein anderer davon wisse.

F&L: Die Regeln der DFG sehen im Kern vor, dass Wissenschaftler in ihren Anträgen und Berichten an die DFG künftig statt beliebig vieler Veröffentlichungen nur noch wenige, besonders aussagekräftige Publikationen als Referenz nennen dürfen. Ist die DFG damit auf dem richtigen Weg?

Johann Gottlieb Fichte: Wenige Schriftsteller ausgenommen, haben die übrigen durch ihre Schriftstellerei sich ein schlimmeres Zeugniss gegeben, als irgend ein anderer ihnen hätte geben können, und kein nur mittelmässig wohldenkender würde geneigt seyn, studirte Männer sich so seicht, verkehrt und geistlos zu denken, als die Mehrzahl in ihren eigenen Schriften sich zeigt. Das einzige Mittel, noch einige Achtung für sein Zeitalter, und einiges Bestreben, auf dassselbe zu wirken, beizubehalten, ist dieses: anzunehmen, dass diejenigen, welche ihre Meinung laut vernehmen lassen, die schlechteren sind, und dass es bloss unter denjenigen, die da schweigen, einige gebe, die der Belehrung über das Bessere und Vollkommenere fähig seyen.

Der "eigentliche Schaden des Zeitalters"

F&L: Dann halten Sie wohl wenig von numerischen Indikatoren für die Messung wissenschaftlicher Qualität?

Johann Gottlieb Fichte: Hier ist der eigentliche Schaden des Zeitalters, und der wahre Sitz aller seiner übrigen wissenschaftlichen Uebel. Hier ist das Unrühmliche rühmlich geworden, und wird aufgemuntert, geehrt und belohnt.

F&L: Aber es gibt doch auch Schriften, die über den Tag hinaus Bedeutung haben?

Johann Gottlieb Fichte: Entweder ist ein Buch – was die meisten Bücher sind – ein schlechtes Buch, gedruckt lediglich, damit ein Buch mehr in der Welt sey: so hätte es gar nicht geschrieben werden sollen; es ist ein Nullität, und deswegen ist auch die Beurtheilung desselben eine Nullität. Oder das Buch ist ein wahres schriftstellerisches Werk. Solche Schriften, die es wirklich verdienten, an das Licht zu kommen, – sey es in der Wissenschaft, oder in den Redekünsten, sind allemal der Ausdruck eines ganzen, auf eine völlig neue und originelle Weise der Idee gewidmeten Lebens: und ehe dergleichen Schriften nicht das Zeitalter ergriffen und durchdrungen, und nach sich umgebildet haben, ist ein Urtheil über sie nicht möglich; – es versteht sich daher von selber, dass keinesweges nach Verlauf eines halben oder auch ganzen Jahres von dem ersten besten eine gründliche Re-cension über sie geliefert werden könne. Nichts wahrhaft Gutes geht in dem Strome der Zeiten verloren, liege es noch so lange verschrien, verkannt, ungeachtet, – es kommt endlich doch der Zeitpunct, wo es sich Bahn bricht.

F&L: Warum findet heute kaum jemand Zeit für ein grundlegendes Werk, das viele Jahre braucht?

Johann Gottlieb Fichte: Gerade der gute Kopf ist mehr geneigt, ein zusammenhängendes Werk nach einem selbstgeschaffenen, ausgedehnteren Plane zu arbeiten, als durch jede neue Zeiterscheinung sich unterbrechen zu lassen, so lange bis eine abermalige neue Erscheinung diese Unterbrechung wieder unterbricht. Jene Geneigtheit, nur stets darauf zumerken, was andere denken, und an diese Gedanken, so Gott will, einen eigenen Versuch zum Denken anzuknüpfen, ist ein entschiedenes Zeichen der Unreife, und eines unselbstständigen und abhängigen Talentes.

F&L: Und diese Autoren finden die passenden Leser?

Johann Gottlieb Fichte: Wie die Autoren ohne Rast und Anhalt fortschreiben, so lesen die Leser fort ohne Anhalt; mit aller Kraft strebend, sich auf irgend eine Weise emporzuhalten über der Fluth der Literatur, und fortzugehen, wie sie dies nennen, mit dem Zeitalter. Froh, das alte nothdürftig durchlaufen zu haben, greifen sie nach dem neuen, indem das neueste schon ankommt, und es bleibt ihnen kein Augenblick übrig, jemals wieder an das alte zu gedenken. Nirgends können sie in diesem rastlosen Fluge anhalten, um mit sich selber zu überlegen, was sie denn eigentlich lesen, denn ihr Geschäft ist dringend, und die Zeit ist kurz: und so bleibt es gänzlich dem Ohngefähr überlassen, was und wie viel bei diesem Durchgange an ihnen hängen bleibe, wie es auf sie wirke, welche geistige Gestalt es an ihnen gewinne.

F&L: Geht es also nur um Neues, nicht um Wahrheit?

Johann Gottlieb Fichte: Ein Endurtheil fällen und durch dieses Endurtheil zur Wahrheit kommen, bei der es nun bleibe auf immer und ewig, will dieses Zeitalter nicht, denn dazu ist es zu verzagt. Nur einen Reichthum von Materialien der Meinung will es, unter denen es die Auswahl habe, falls es etwa dermaleinst zum Urtheilen kommen sollte. Da ist ihm denn jeder willkommen, der diesen Vorrath vermehrt.

F&L: Aber die Folge davon ist doch nur noch eine Anhäufung von Informationen, ein fortdauerndes Meinen!

Johann Gottlieb Fichte: Ja, dadurch geschieht es, dass der Einzelne nicht nur ohne Scham, sondern sogar mit einer gewissen Selbstgefälligkeit auftritt und verkündiget: sehet da meine Meinung, und wie ich für meine Person mir die Sache denke, der ich übrigens sehr wohl zugebe, dass jeder andere sie sich wiederum anders denken können, und dass dieser Einzelne dabei noch sehr bescheiden zu seyn glaubt. Vor der wahrhaft wissenschaftlichen Denkart ist es (allerdings) die grösste Arroganz, zu glauben, dass unsere persönliche Meinung irgend etwas bedeute und dass jemand interessirt seyn könne, zu wissen, wie wir, diese wichtigen Personen, etwas ansehen.

Textgestaltung auf der Basis von "Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters" (1806). Überarbeitete Fassung eines in Forschung & Lehre veröffentlichten Textes.

Johann Gottlieb Fichte

lebte von 1762 bis 1814

Er wurde als Sohn eines mittellosen Handwerkers in der Oberlausitz geboren und konnte nur durch die Gunst eines Mäzens eine höhere schulische Ausbildung absolvieren. Nach Stationen als Hauslehrer in Zürich und Leipzig lernte er 1791 in Königsberg Kant kennen, auf dessen Philosophie er im Jahr zuvor aufmerksam geworden war. Auf dessen Vermittlung hin veröffentlichte er zunächst anonym die religionsphilosophische Schrift "Versuch einer Kritik der Offenbarung" (1792). Als Kant den Verfasser des allseits beachteten Werks enthüllte, machte er Fichte damit auf einen Schlag berühmt, so dass dieser schon 1794 einen Ruf an die Universität Jena erhielt. Zu seinen Zuhörern zählten Hölderlin, Schelling und Frühromantiker wie Novalis und die Brüder Schlegel. In Jena entwarf Fichte seine (immer wieder überarbeitete) "Wissenschaftslehre", in der er seine Konzeption eines subjektiven Idealismus begründete. Im so genannten Atheismus-Streit kam es 1799 zum Bruch mit der Universität Jena, und Fichte gelangte nach Aufenthalten in Berlin, Erlangen, Kopenhagen, Königsberg letztlich wiederum nach Berlin, wo er im Winter des Jahres 1807/08 in der Akademie der Wissenschaften seine Reden an die deutsche Nation hielt, die zum Widerstand gegen Napoleon aufriefen.

1810 wurde Fichte auf einen Lehrstuhl für Philosophie an der neu gegründeten Berliner Universität berufen und 1811 zum ersten Rektor gewählt. Schon nach kurzer Zeit hatte er sich jedoch mit dem Senat und der Studentenschaft überworfen und legte sein Amt nieder. 1813 erkrankte Fichte am so genannten Lazarettfieber, von dem er sich nicht erholen konnte. Er starb im Januar 1814 und wurde auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof beerdigt. Als Nachfolger auf seinem Lehrstuhl wurde 1818 Hegel berufen, der später ebenfalls das Rektorenamt (1829/30) bekleiden sollte.

Quelle: Humboldt Universität zu Berlin