Mauer der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel
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Schuld und Strafe
Schuld und Buße von Strafgefangenen

Viele Straftäter verbüßen ihre Schuld hinter Gittern. Was bewirkt der Freiheitsentzug bei den Gefangenen? Einblicke eines Gefängnis­psychologen.

Von Claudia Krapp 08.11.2019

Forschung & Lehre: Herr Kazenmaier, was machen Haftstrafen mit den Gefangenen?

Uwe Kazenmaier: Auf eine Inhaftierung reagiert jeder anders, aber es gibt gewisse Abläufe. Wenn jemand in Untersuchungshaft kommt, wird er komplett von seinem Umfeld abgeschnitten und erlebt dadurch einen Schock. Das ist eine furchtbare psychische Belastungssituation, weil die Person bis zu 23 Stunden lang eingeschlossen ist und nichts alleine regeln kann – weder die Wohnung auflösen noch sich um Arbeitsplatz oder Familie kümmern. In dieser Situation tun sich Personen oft etwas an, weil sie komplett überfordert sind. Die Menschen erhalten natürlich Unterstützung. Die Verurteilung ist dann nochmal ein Schock. In der Strafhaft sind die meisten sehr beeindruckt und deprimiert durch den Freiheitsentzug und durch die Entmündigung. Manche Leute revoltieren bis zum Schluss gegen die Fremdbestimmung im Gefängnisalltag, andere fügen sich. Inhaftierte sagen mir manchmal, es dauert so ungefähr vier Jahre, um sich an die Haftsituation zu gewöhnen.

Portraitfoto von Uwe Kazenmaier
Uwe Kazenmaier ist Psychologe, Psychotherapeut und Gruppenleiter im Therapievollzug der JVA Berlin-Tegel. In der Sozialtherapeutischen Anstalt arbeitet er in einer Wohngruppe mit aktuell 18 Inhaftierten. Die Therapie ist Pflicht für Sexual- und Gewaltstraftäter und zudem offen für Freiwillige. privat

F&L: Ab welchem Punkt des Vollzugs beschäftigen sich die Täter mit ihrer Schuld?

Uwe Kazenmaier: Die Haft, die Reue und die Schuld haben nichts miteinander zu tun. Juristische und moralische Schuld sind nicht dasselbe. Einen klassischen mentalen oder ethischen Verlauf während einer Haft gibt es daher nicht. Manche Menschen setzen sich bis zum letzten Tag überhaupt nicht mit ihrer Tat und ihrer Schuld auseinander. Andere geben ihre Tat zu, empfinden aber keine moralische Schuld. Und wieder andere leiden furchtbar. Da muss man aber genauer hinschauen, ob sie unter ihrer Tat, wegen des Opfers, der Haft oder unter der Konsequenz ihrer Tat für ihre Angehörigen leiden. Manche Menschen rechtfertigen ihre Tat auch mit religiösen Gründen.

F&L: Gibt es also Menschen, die unbeeindruckt aus der Haft gehen?

Uwe Kazenmaier: Nein, eingesperrt zu sein, ist für jeden Menschen ein unangenehmer Zustand. Ich halte es aber für eine ursprünglich christliche Moralvorstellung, dass Menschen, die eine Straftat begangen haben, auch damit einverstanden sind, dafür zu büßen. Dieses Einverständnis zur Buße gibt es per se nicht. In Wahrheit finden Menschen das Eingesperrtsein in der Regel ungerecht, egal, ob sie etwas Schlimmes getan haben, ihre Tat zugeben oder nicht. Dieses Gefühl, von seiner Familie oder seinen Kindern getrennt zu sein, ist in jedem Fall quälend.

F&L: Ist das Bild des "geläuterten Menschen" dann ein Klischee? Oder erleben Sie, dass Menschen durch die Haft ihren Charakter verändern?

Uwe Kazenmaier: Menschen einzusperren verändert sie nicht zum Guten. Sie gehen oft frustrierter und wütender raus als sie rein kamen. Beim reinen Einsperren, wie man es früher im Zuchthaus gemacht hat und was es Gott sei Dank so nicht mehr gibt, kommen keine besseren Menschen raus. Das führt nur dazu, dass Personen außerhalb des Gefängnisses erstmal sicher sind und deren Rachebedürfnis gestillt ist. Für den Inhaftierten verändern sich die Dinge aber per se nicht. Daher beschäftigt man sich mittlerweile im Gefängnis mehr mit den Menschen, versucht, sie zu stärken und ihnen zu helfen. Das ist noch keine Garantie, dass nach der Haft alles gut wird, aber wir verbessern durch unsere Arbeit die Chancen auf ein sozial integriertes Leben deutlich. Oft sehen Menschen nicht ein, warum wir Inhaftierte "so gut behandeln". Aber uns geht es nicht darum, was jemand verdient hat, sondern wie sich die Person in Zukunft verhalten wird. Wir müssen jemanden entlassen, der möglichst gut mit seinen Frustrationen und Aggressionen umgehen kann.

F&L: Wie erleben Sie Schuld und Scham der Inhaftierten?

Uwe Kazenmaier: Bei einigen Gefangenen gibt es diese schwere moralische Last der Schuld, unter der sie depressiv leiden. Viele fürchten sich auch vor der Entlassung, weil sie nicht wissen, wie sie anderen Menschen in die Augen schauen sollen. Manche können mit dem Gefühl ihrer Tat nicht leben. Aber die meisten sagen sich nach der Haft: "Ich habe nach dem Katalog des Strafgesetzes meine Schuld bezahlt, mein Konto ist ausgeglichen". Dieser Inhaftierte will einfach nur aus dem Knast raus und sieht seine Tat und seine Schuld mit der verbüßten Haftstrafe als erledigt an.

F&L: Kann das ein Schönreden nach außen sein, das unser wahres, inneres Schuldempfinden überdeckt?

Uwe Kazenmaier: Wir rechtfertigen uns nicht nur vor unserem Gegenüber, sondern auch vor uns selbst. Vor unserem inneren Richter wollen wir gut dastehen. Daher füttern wir ihn mit Rechtfertigungsstrategien. Es ist als Mensch kaum auszuhalten objektiv gegen ein Wertesystem verstoßen zu haben, dass man selbst eigentlich gut findet. Die Frage ist dann: wie soll ich damit leben? Wenn wir etwas Negatives getan haben, fällt jedem von uns schnell eine Erklärung ein, die nichts mit uns zu tun hat – eine Kette von Zufällen, "dumm gelaufen" oder Provokation. Die Rechtfertigungen sind oft kindisch und albern, aber das Ego schützt sich reflexartig. Jeder von uns will in den Spiegel gucken und das Gefühl haben, eigentlich ganz okay zu sein.

"Jeder von uns will in den Spiegel schauen und das Gefühl haben, eigentlich ganz okay zu sein."

F&L: Bewirkt unser innerer Richter mehr als die Haft selbst?

Uwe Kazenmaier: Die Haft reißt Menschen aus ihrem Leben heraus und zwingt sie dazu, inne zu halten, weil sie sich nicht mehr ihren gewohnten Beschäftigungen widmen können. Die innere Abwehrarbeit wird dann intensiver, weil sich die Frage aufdrängt, warum man da gelandet ist. Für eine Erklärung, die den Inhaftierten in Schutz nimmt, werden dann die inneren Prozesse verstärkt. Das passiert oft zu Beginn der Haft.

F&L: Gibt es darüber hinaus mentale Entwicklungen während der Haftstrafe?

Uwe Kazenmaier: Es gibt die moralischen Stufen nach Kohlberg. Das fängt bei Kindern an, die etwas solange tun bis sie dafür bestraft werden. Aber wenn die Strafe verschwindet, kehrt die Handlung zurück. Mit der Zeit entwickelt sich daraus Einsicht, eine eigene moralische Haltung, eine innere Überzeugung. Aber die meisten Menschen erreichen diese Stufe nie. Meiner Erfahrung nach verbleiben sehr viele Menschen auf der Stufe "wenn’s keiner sieht, kann ich’s machen." Denken sie an die Autofahrer, die nur wegen der Blitzer bremsen und nicht wegen der Gefahr durch die hohe Geschwindigkeit. Das ist nach Kohlberg eine relativ niedrige moralische Entwicklungsstufe. Mit unseren Inhaftierten sprechen wir natürlich darüber, gewisse Dinge in Zukunft nicht mehr zu tun, auch wenn sie nicht dabei erwischt werden. Wir arbeiten mit den Gefangenen an einem eigenen Wertesystem. Manche sind da von Zuhause aus gut ausgestattet und manche finden nur das Erwischtwerden unangenehm. Wir erreichen viel, wenn wir die Menschen dazu bringen, langfristig über die Konsequenzen ihrer Taten zu denken – was etwa passiert, wenn sie immer wieder im Knast landen. Die moralische Überzeugung hält deutlich länger vor als kurzfristige Strafen. Das ist aber ein Entwicklungsziel, das auch draußen bei weitem nicht alle Menschen erreichen.

F&L: Wie bereitwillig setzen sich die Gefangenen mit ihrer Schuld auseinander?

Uwe Kazenmaier: Manchmal begehen Personen eine Straftat und vertuschen diese so gut, dass sie zunächst nicht gefasst werden. Einige leiden dann so sehr unter ihrer Schuld, dass sie sich freiwillig ihrer Strafe stellen. Vom Freiheitsentzug sind sie dennoch geschockt und wollen wieder raus. Dann gibt es noch das Phänomen, dass Menschen ihre Schuld einsehen, aber nach verbüßter Strafe mit der Tat nichts mehr zu tun haben wollen. Inhaftierte werden während der Haft über Jahre immer wieder mit ihrer Tat konfrontiert. Oft ist die Haft aber länger als es der Gefangene angemessen findet. Mit der Zeit fühlen sich die Gefangenen oft nicht mehr schuldig und empfinden die fortwährende Konfrontation mit ihren Taten als ungerecht, weil sie sich nach eigener Ansicht verändert haben.

F&L: Besteht da eine Diskrepanz, dass Außenstehende die Tat eher spät entschuldigen und der Täter sich selbst gegenüber eher früh?

Uwe Kazenmaier: Ja, weil da der innere Schutzmechanismus greift, nach vorne zu schauen und lebensfähig zu bleiben. Auch weil sich mit der Zeit das eigene Bewertungssystem ändert. Wir als Gesellschaft erwarten, dass die Täter diese Schuld spüren und auch zeigen. Auch viele Jahre nach der Tat verlangen wir von den Inhaftierten eine Auseinandersetzung mit ihrer Schuld und ihrer Tat. Ich glaube, das entspricht aber nicht dem menschlichen Bedürfnis, sich von Lasten zu entledigen. Oder wollen Sie sich mit einer Dummheit aus Teenager-Tagen beschäftigen? Als Katholik können sie in die Kirche gehen, beichten und sind mit der Absolution aus dem Schneider. Wann eine Tat "vergessen" werden kann, kommt natürlich auch immer darauf an, ob bei der Tat materieller oder menschlicher Schaden angerichtet wurde. Teil meiner Arbeit ist es, auch auf die scheinbar weniger sichtbaren Folgen und menschlichen Schäden einer Tat hinzuweisen. Mir geht es um Verantwortungsübernahme und kausale Zusammenhänge. Dabei arbeite ich entgegen der inneren Beschönigung der Tat. Das Sich-Schuldig-Fühlen, nicht nur im juristischen sondern auch im moralischen Sinne, folgt auch oft erst auf die Verantwortungsübernahme für die Tat mit Blick auf das Gesamtbild.

"Die Tat zu bewerten ist etwas anderes, als den Menschen als Ganzes zu bewerten."

F&L: Was ändert ihr therapeutisches Verständnis an der Schuld?

Uwe Kazenmaier: Zu erklären, warum jemand eine Straftat begangen hat, ist keine Entschuldigung des Verhaltens, sondern der Versuch des Verständnisses. Die Schuld bleibt. Verstehen bedeutet nicht entschuldigen oder gutheißen. An vielen Stellen seiner Entwicklung hat ein Straftäter eine Wahl gehabt, wie er handeln möchte, lange vor der eigentlichen Tat. Dennoch kann man verstehen. Ich habe beispielsweise in einem Fall Mitgefühl mit einem Mörder entwickelt. Meine Aufgabe als Therapeut besteht darin, eine Beziehung zu dem Menschen herzustellen, aber nicht zu seiner Tat. Die Tat zu bewerten ist etwas anderes, als den Menschen als Ganzes zu bewerten. Wir vermischen das in unserer Gesellschaft viel zu häufig.

F&L: Wie unterscheiden Sie ernst gemeinte gute Absichten von Dingen, die Gefangene nur erzählen, um früher aus der Haft entlassen zu werden?

Uwe Kazenmaier: Ich lebe mit den Leuten über Jahre sehr intensiv zusammen und sehe sie fast jeden Tag. Man kennt sich dann sehr gut. Ich sage dann oft, ich glaube ihnen, dass sie das wirklich wollen, aber ich denke, es ist nicht so belastbar. Es ist wie mit den Neujahrsvorsätzen: In dem Moment, in dem wir die Vorsätze fassen, glauben wir wirklich dran. Die Kraft der Selbstsuggestion ist sehr stark, aber andere Dinge, wie Verführungen und Belastungen, sind noch viel stärker. Ein Gefangener hat mir ein arabisches Sprichwort genannt: "Ich vertraue dir, aber nicht dem Teufel in dir." Das finde ich ein schönes Bild.

F&L: Wie versuchen Sie wieder Hoffnung auf die Zukunft zu erzeugen?

Uwe Kazenmaier: Ich lüge meine Klienten nie an. Wenn jemand eine furchtbare Zukunft vor sich hat, dann sprechen wir darüber, wie er mit diesen Bedingungen leben kann. Eine unattraktive Person in einem gewissen Alter ohne Geld wird nach der Entlassung wahrscheinlich keine Familie mehr finden, kein Geld haben und kein schönes Leben mehr haben. Dann eine Fantasie zu entwickeln, dass es doch gut werden könnte, ist ziemlich schwierig. Es ist zu überlegen, was man mit den Ausgangsbedingungen machen kann. Realismus wird dem Menschen eher gerecht als falsche Hoffnung zu initiieren.

F&L: Kann Hoffnung während der Haft nicht auch Halt geben?

Uwe Kazenmaier: Die Hoffnung während einer Haft beschränkt sich meist erstmal darauf, dass diese nicht so lange dauern möge. Jeder hat schon davon gehört, dass in Deutschland unter Umständen eine Haftverkürzung möglich ist. Auch Ausgänge und Urlaube sind möglich. Darauf spekulieren alle Gefangenen. Viele hoffen auch, nach der Haft nicht mehr ins Gefängnis zu kommen – wobei manche sich vornehmen, keine Straftat mehr zu begehen, und andere, sich nicht mehr erwischen zu lassen. Während der Haft halten viele an ihren Familien fest, an ihren Eltern, ihrer Frau, ihren Kindern, die sie nicht enttäuschen wollen. Das sind oft Gründe, für die es sich zu warten lohnt. Manchmal lernen männliche Inhaftierte auch draußen eine Frau kennen, wodurch sie ein Ziel bekommen. Auch die Religion ist oft ein Anker. Viele werden in der Haft religiös oder religiöser, vor allem Muslime. Vor der Haft haben diese einiges über den Islam gehört, verwechseln aber oft Tradition und Religion. Denn der Islam schließt eigentlich jede Straftat aus, also können theoretisch echte Muslime gar nie im Gefängnis landen. In der Haft entdecken diese Gefangenen ihre Religion dann oft als Regelwerk, mit dem ihnen nichts mehr passieren kann. Die meisten schließen sich auch einer muslimischen Community im Gefängnis an und fühlen sich aufgehoben. Religion ist auch Trost. Bei Christen beobachten wir das seltener, denn die praktizieren ihre Religion vorher schon kaum. Bei Muslimen ist die Religion eng mit Kultur verbunden und schon vorher fester Teil des Lebens. Erfahrungsgemäß lockert sich das religiöse Verständnis aber nach der Haft schnell wieder.

F&L: Was passiert, wenn Inhaftierte keine Perspektive für ein Leben nach der Haft haben?

Uwe Kazenmaier: Das passiert oft im Bereich der Sicherungsverwahrung und bei sehr langen Haftstrafen. Manche richten sich dann im Gefängnis ein kleines Leben ein. Ich habe selbst einen Menschen nach 23 Jahren entlassen, der gar nicht mehr raus wollte. Der hat sich hier etabliert, hatte seine Versorgung und sozialen Kontakte. Gerade im Alter sind langjährige Inhaftierte oft hospitalisiert. Die Welt draußen verstehen sie nicht mehr. Manche arrangieren sich also innerlich mit der Situation, andere nicht. Diese Menschen kämpfen immer wieder gegen ihre Haft, auch mit juristischen Methoden. Dabei wenden sie viel Energie auf und verausgaben sich sehr. Das ist ein sehr anstrengendes Leben, weil sie gegen eine Situation ankämpfen, die sich nicht ändern wird. Oft haben diese Menschen ein ganz tiefes Bewusstsein dafür, dass ihre Strafe ungerecht ist und das Leben sie schlecht behandelt.

F&L: Ist der Schock der Entlassung nach einer langen Haft genauso groß wie der Schock der Inhaftierung? Kehrt die Strafe sich irgendwann um?

Uwe Kazenmaier: Ja, für viele ist die Freilassung ein Realitätsschock. Die Welt draußen ist anders, als sie sich ausgemalt haben, weil sie diese nur aus dem Fernsehen kennen. Teil unserer Arbeit ist daher auch, die Personen darauf vorzubereiten. Darum gehen Gefangene auch vorher auf Probe raus, um mit der Realität in Kontakt zu kommen. Es gibt Menschen, die einige Zeit nach der Entlassung Suizid begehen, weil sie sich draußen nicht zurechtgefunden haben. Das ist sehr traurig, wenn Menschen eine lange Haft überstehen und dann an der Realität scheitern. Das liegt dann an einem Auseinanderklaffen der Fantasie und der Realität.