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Wissenschaftliche Fachgesellschaften
"Schutz des Markenkerns"

Seit Jahrhunderten schließen sich Wissenschaftler in Fachgesellschaften zusammen. Martin Nissen erklärt, wie sich die Netzwerke entwickelt haben.

Von Vera Müller 29.07.2019

Forschung & Lehre: Wann sind die ersten wissenschaftlichen Fachgesellschaften entstanden und worin bestand ihre Aufgabe?

Martin Nissen: Wenn man die wissenschaftlichen Fachgesellschaften mit ihren Charakteristika erfasst: Kommunikation untereinander und in die Öffentlichkeit hinein, die Abgrenzung zu anderen Fächern und die Identifikation mit dem eigenen Fach – man spricht hier auch vom "Schutz des Markenkerns des Fachs" – dann haben die wissenschaftlichen Fachgesellschaften modernen Typs als Verein und private Initiativen ihren Ursprung im 19. Jahrhundert. Die ersten Fachgesellschaften wurden gegründet mit dem Ziel, das jeweilige Fachgebiet übergreifend zu vertreten, aktuelle Themen der Forschung zu erörtern und Möglichkeiten für wissenschaftliche Publikationen zu bieten. Die modernen wissenschaftlichen Fachgesellschaften stehen, obwohl sie als Vereine mit der Rechtsform Körperschaft gegründet wurden, in der Tradition von Bruderschaften, Orden, Kollegien (insbesondere religiöser Art), Ritterorden und Adelsgesellschaften. Im Englischen gibt es dafür zwei Fachbegriffe, die auch die jeweiligen Aspekte von Fachgesellschaften kennzeichnen: Einmal die learned societies mit einem eher wissenschaftlichen Charakter und zum anderen die professional societies mit einem eher standespolitischen Charakter.

Dr. Martin Nissen ist Fachreferent für Geschichte und Leiter der Abteilung Informations­dienste und Lesesäle an der Universitätsbibliothek Heidelberg. privat

F&L: Welche Rolle spielten die wissenschaftlichen Fachgesellschaften für die Herausbildung neuzeitlicher Wissenschaft? Wie sahen die Aufnahme­kriterien aus?

Martin Nissen: Hier ist ein kursorischer Blick auf die Vorläufer erhellend und notwendig. Die wichtigsten sind die Akademien, darüber hinaus auch losere Organisationsformen wie Gesellschaften, Oratorien oder auch Kränzchen. Die Traditionslinien reichen deutlich zurück bis in die frühe Neuzeit. In Italien wurden die ersten Akademien, die teilweise bis heute bestehen, bereits im  späten 16. Jahrhundert gegründet. Es folgten im 17. Jahrhundert Frankreich (Académie française, 1635), Deutschland (Leopoldina, 1652) und England (Royal Society, 1660). Im 18. Jahrhundert erlebten diese Akademien ihre Blütephase. Das 18. Jahrhundert wird deshalb auch als das Jahrhundert der Akademien bezeichnet. Ein Charakteristikum des modernen Forschungscharakters der Akademien war die Gründung von Wissenschaftszeitschriften wie die Philososphical Transactions (seit 1665). Im Gegensatz zu den ersten Publikationen der Akademien, in denen noch versucht wurde, in mittelalterlicher Tradition das Wissen enzyklopädisch zusammenzufassen, waren die Zeitschriften nun als Periodika angelegt, die immer wieder auf etwas Neues abzielten.

Die Akademien, zunächst oft als private Initiative gegründet, institutionalisierten sich im Vergleich zu späteren Fachgesellschaften stärker  und wurden in der Regel in den staatlichen Schutz überführt. Sie sind eigene Forschungseinrichtungen, im Gegensatz zu den Fachgesellschaften mit ihrer Vereinsstruktur. In Deutschland entstanden darüber hinaus, etwas weniger bekannt als die Akademien, die sog. Kollegien. Dabei handelte es sich um Gesellschaften im universitären Umfeld mit bestimmten Aufnahme­ritualen und -kriterien, die nicht nur wissenschafts-, sondern auch standesbezogen waren. Die Vereine des 19. Jahrhunderts wiederum orientierten sich – bezogen auf die Aufnahmekriterien – am Ideal der reinen Wissenschaftlichkeit, wobei Amateure, Frauen, in den USA auch people of colour, bis weit ins 20. Jahrhundert hinein ausgeschlossen blieben. Die Boomphase zwischen 1870 und 1930 der Gründung wissenschaftlicher Fachgesellschaften in Deutschland endete dann in der Zeit des Nationalsozialismus. Das Gros der Vereine bestand nach Selbstgleichschaltung (zum Beispiel in der Medizin) weiter, Neugründungen unterblieben in der Regel jedoch. Im Vergleich mit Universitäten und Akademien waren die wissenschaftlichen Fachgesellschaften schwieriger zu kontrollierende Einheiten, weniger hierarchisch und institutionell gefasst als Universitäten oder Akademien. Viele wurden dann, um sich von der NS-Zeit abzugrenzen oder weil sie eingestellt wurden, wie die Deutsche Gesellschaft für Soziologie, nach 1945 neu gegründet.

F&L: Wie waren die wissenschaftlichen Fachgesellschaften organisiert?

Martin Nissen: Die Führungsstruktur  der Vereine war weniger hierarchisch als an Universitäten oder in den Akademien. Verglichen mit anderen wissenschaftlichen Einrichtungen war die Bedeutung der Persönlichkeiten hier stärker als die Struktur. Das galt für Deutschland und Großbritannien gleichermaßen. In Frankreich und Italien war die Rolle der Akademien und der streng hierarchisch und staatlich organisierten Einrichtungen wichtiger als die der Vereine.

F&L: Welche Bedeutung hatten die wissenschaftlichen Fachgesellschaften für die Wissensvermittlung in die Öffentlichkeit?

Martin Nissen: Für die Vereine lassen sich im 19. Jahrhundert zwei Richtungen festmachen, in denen sich auch die entstehenden Unterschiede zwischen Natur- und Geisteswissenschaften herausbilden, auch wenn diese begriffliche Unterscheidung eigentlich erst später gängig wird. Zum einen entstehen Vereine zur Vermittlung naturkundlicher Bildung wie zum Beispiel die Deutsche Gesellschaft der Naturforscher und Ärzte (1822) und die Deutsche Physikalische Gesellschaft (1845). In diesen Vereinen war die Wissensvermittlung wichtiger als die Forschung selbst. Sie betrieben Publikationsorgane, in denen aktuelle gesellschaftliche Themen aufgegriffen wurden, und waren von großer Bedeutung für den Austausch mit einer breiteren Öffentlichkeit, indem sie Gesprächsrunden oder Vortragsabende organisierten.

"Der wichtige Auftrag, Fachwissen in die Öffentlichkeit zu tragen, führte zu der Frage nach der Abgrenzung zur Amateurforschung."

Die zweite Richtung sind die historisch-philologischen Vereine wie die Geschichts- und Altertumsvereine, die eigenständige Forschung betrieben. Diese Vereine hatten den wichtigen Auftrag, Fachwissen in die Öffentlichkeit zu tragen. Und das führt zu der Frage nach der Abgrenzung zur Amateurforschung. Üblicherweise wird davon ausgegangen, dass die immer stärker ausdifferenzierte spezialisierte Wissenschaft einen immer größer werdenden Abstand zu den Laien bedingte. Die Laien wurden, weil sie nicht mehr mithalten konnten, in der Folge ausgegrenzt. Das Bild trifft aber nicht ganz zu, denn in den Naturwissenschaften existierte ein solcher Anspruch der Amateurforschung nicht. Die Abgrenzungen waren gar nicht so heftig, auch das Bedürfnis, sich abzugrenzen, war so nicht vorhanden. Bei den historisch-philologischen Vereinen trat eher eine andere Abgrenzung in den Vordergrund. Es ging nicht darum, dass die Laien etwas Falsches weitergeben könnten und sie deshalb zurückgedrängt werden müssten. Der Vorwurf lautete vielmehr, dass sie nicht wichtig von unwichtig unterscheiden könnten. Nur die wissenschaftliche Forschung sei in der Lage, die großen Linien zu überblicken. Für den Laienforscher sei es gar nicht möglich, die grundlegenden Fragen der Forschung zu erfassen.

F&L: Wie wichtig und selbstverständlich war es, Mitglied in "seiner" Fachgesellschaft zu sein?

Martin Nissen: Es war eine Art Bekenntnis zum eigenen Fach, man drückte damit sein Standesbewusstsein aus. Besonders wichtig war es für die eigene Karriere: Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts waren die Kontakte über die wissenschaftlichen Fachgesellschaften vielleicht noch von größerer Bedeutung als heute, denn die Berufungsverfahren und Begutachtungsverfahren für Anträge waren im Vergleich zu heute wesentlich weniger stark formalisiert. So bestanden die  Gutachten der DFG zum Beispiel bis in die 1960er Jahre oft nur aus einem einzigen Satz: "Ich befürworte das Projekt des Kollegen XY." Darüber hinaus bot die Mitgliedschaft gewisse Privilegien wie Informationsvorteile oder Vergünstigungen bei Fachtagungen.

F&L: Wenn sich wissenschaftliche Fachgesellschaften weiter ausdifferenzierten: Wie ging das vonstatten?

Martin Nissen: In diesem Prozess gab es zwei Modelle. In dem einen bildeten sich regionale bzw. fachliche Sektionen innerhalb der bestehenden wissenschaftlichen Fachgesellschaft. Diese großen Fachgesellschaften pflegen bis heute den interdisziplinären Dialog. Das andere Modell ist der Ausdifferenzierung der Fächer geschuldet. Dabei wurden von neuen wissenschaftlichen Richtungen neue Vereine gegründet, und dies ging nicht ohne Konflikte ab. In der Geschichtswissenschaft zum Beispiel gab es gerade in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts heftige fachliche Auseinandersetzungen zwischen den Konfessionen. Daraus folgte eine jeweils katholische und protestantische Geschichtsschreibung. Ferner bildeten sich um die Jahrhundertwende auch die unterschiedlichen methodischen Zugänge institutionell aus. Die herrschende Politische Geschichte gründete ihre eigenen Vereine mit ihren eigenen Fachzeitschriften. Aber auch für die marginalisierte Kulturgeschichtsschreibung war die Gründung von Vereinen, Instituten und Zeitschriften von eminenter Bedeutung. Die Auseinandersetzungen wurden übrigens wissenschaftlich wesentlich heftiger geführt als heute, weil die Weltbilder innerhalb der Wissenschaft wesentlich unterschiedlicher waren. Dieser Prozess der Ausdifferenzierung ist bis heute nicht abgeschlossen. Immer neue wissenschaftliche Fachrichtungen gründen neue Fachgesellschaften. Wieviele es heutzutage genau sind, gälte es einmal eingehend zu untersuchen.