Blick in einen Hinterhof in Deutschland mit Mülltonnen.
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Archäologie
Spurensuche im Müll

Die Archäologie untersucht oft Spuren von Siedlungen aus früheren Zeiten. Aber auch aktuelle Hinterlassenschaften sind für Forschende interessant.

Von Jeanette Bederke 17.10.2021

Zigarettenkippen, Kronkorken, Bonbonpapier oder gebrauchte Corona-Schutzmasken – der von vielen unbeachtete Müll am Straßenrand ist für Dr. Eva Becker höchst interessant. Wenn sie durch die Straßen läuft, mustert die Archäologin aufmerksam ihre Umgebung. Mit einer Pinzette, die sie stets dabei hat, fischt Becker selbst aus kleinsten Ritzen, was andere dort hinterlassen haben.

"Was eine Gesellschaft wegwirft, verrät viel über sie. Daraus lassen sich Rückschlüsse ziehen über Esskultur, Freizeitverhalten und andere Lebensgewohnheiten", erklärt sie. Vor elf Jahren hatte Becker, die lange in Berlin lebte, ein Buch über die "Garbologie", also die Müllarchäologie gelesen, die bereits in den 1970er Jahren an der University of Arizona begründet worden sei, wie sie erzählt. "Ich fand das Thema höchst spannend – die herkömmliche Siedlungsarchäologie ist doch nichts anderes, um herauszufinden, wie Kulturen funktionieren und welche regionalen Eigenarten es gibt. Wichtig ist dabei immer der Fundort selbst."

Das kann auch die Archäologin Blandine Wittkopp bestätigen. Jahrelang hatte die Wissenschaftlerin Siedlungsspuren im Oderbruch untersucht, die beim Straßenbau in Eichwerder (Märkisch-Oderland) zum Vorschein kamen – allerdings Tausende Jahre alt, aus der Eisenzeit stammend. "In den vergangenen Jahrhunderten wurden – im Gegensatz zur heutigen Wegwerfgesellschaft – Gebrauchsgegenstände wie Gefäße aus Keramik oder Werkzeuge aus Knochen erst entsorgt, wenn sie kaputt und nicht mehr zu reparieren waren", erklärt Wittkopp. In Abfallgruben fänden sich daher vor allem Scherben und Knochenreste. Dinge aus Holz hingegen seien längst verwittert.

Moderner Müll als Stadtproblem

Der Müll der heutigen Zeit biete da ein weitaus größeres Forschungsfeld, das man nicht erst ausgraben müsse, sagt Becker. "In der Großstadt Berlin ist der achtlos weggeworfene Abfall ein besonders großes Problem. Die Leute entsorgen ihre Coffee-to-go-Becher und andere Lebensmittel-Verpackung in den Körben abgestellter Fahrräder, auf Fensterbrettern oder hinter Bauzäunen."

Seit einigen Jahren lebt Becker in der Uckermark und geht regelmäßig in der Kreisstadt Prenzlau auf Müll-Pirsch. Was sie hier findet, sei kein Vergleich zu den Unmengen Abfall in der Hauptstadt, sagt die Archäologin. Darauf ist Prenzlaus Bürgermeister Hendrik Sommer (parteilos) auch stolz. "Wer mich kennt, weiß, dass mir eine saubere Stadt sehr wichtig ist und ich mich selbst bücke und Müll aufhebe, wenn ich in Prenzlau unterwegs bin", sagt er.

Der regelmäßige Frühjahrsputz gemeinsam mit Soldaten der in der Stadt stationierten Bundeswehr sei Tradition. Ein "City-Cleaner" sei regelmäßig mit Fahrrad und Anhänger unterwegs, um Müll aufzusammeln. Die Prenzlauer "Plastikrebellen" seien ebenfalls aktiv, säuberten regelmäßig die Uferpromenade am Unteruckersee. "Wir haben noch Dreck-Ecken in der Stadt, aber wir haben kein wirkliches Müllproblem", resümiert Sommer.

Eine Müllarchäologin bei der Arbeit

Becker lässt sich bei ihren Forschungen gern über die Schulter schauen, hält Vorträge zur Müllarchäologie, macht Exkursionen mit Schulklassen, gibt Auskunft auf Müll-Stadtspaziergängen. Fotografiert werden möchte die Expertin dabei jedoch nicht. "Nicht ich stehe im Fokus, sondern mein Forschungsobjekt", sagt sie energisch.

Ihre Untersuchungen, die sie mit der Kamera dokumentiert, will sie weiterführen, auch andernorts in der Uckermark. Erkenntnisse veröffentlicht sie regelmäßig in einem Internet-Blog, außerdem arbeitet sie an einem Buch zur Müllarchäologie, in das auch ihre Erfahrungen aus Berlin einfließen sollen.

Der Umweltschutz spiele dabei stets eine Rolle. "Man entledigt sich der Sachen, die keinen Wert mehr haben, ohne einen Gedanken an die Konsequenzen zu verschwenden", so Becker. In Supermärkten zeige sich, wie die Vermüllung der Gesellschaft befördert werde. "Warum kostet verpacktes Obst oder Fleisch weniger als unverpacktes?"

Ein Phänomen sei der Drang, den Müll zu verstecken – in Ritzen von Parkbänken, unter Sträuchern, in Blumenbehältern oder hinter Stromkästen – und das, obwohl nur wenige Meter entfernt Abfalleimer stehen. "Dieser Ausdruck des Strebens nach Bequemlichkeit findet sich überall – ob in der Großstadt oder der Provinz. Man will mit dem Weggeworfenen nichts mehr zu tun haben und schon gar nicht darüber reden", sagt Becker.

Einige Funde geben ihr noch Rätsel auf, beispielsweise intakte, teils sehr hochwertige Fahrradschlösser, die herrenlos an den Pfählen von Straßenschildern oder Straßenlampen hängen. "Was ist da passiert? Dafür habe ich noch keine Antworten gefunden." An Autobahnkreuzen finde sich besonders viel Müll, sagt Becker. Warum das so ist, hat sie auch noch nicht herausgefunden.

dpa