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Buchempfehlung
Staat und Staatlichkeit

Drei neue Werke bieten anregende Lektüre und Fallstudien zu Fragen von Staat und Staatlichkeit aus Geschichte und Gegenwart.

Von Christoph Lundgreen 25.08.2018

Die Frage, was eigentlich ein Staat ist, beschäftigt von Geschichtswissenschaft, Archäologie und Ethnologie bis Jurisprudenz und Politikwissenschaft viele Disziplinen. Im Zentrum stehen dabei aktuell sowohl Debatten um die Konzeption der EU, die Rolle der UN und den Einfluss internationaler Unternehmen als auch die Phänomene von "failing" und "failed states" weltweit.

Beide Aspekte führen zu einer Neubewertung des Konzepts der Souveränität sowie der klassischen Trias von Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt: An die Stelle einer teleologischen Entwicklungslinie hin zum Staat westlicher Prägung beziehungsweise der Kategorisierung aller abweichenden Varianten als defizitär treten die Suche nach Erbringern von Governance-Leistungen und flexiblere Konzepte vom "Staat als Prozess", "Graden von Staatlichkeit" und dem "Staat als Herrschaftsmanager".

Buchcover

Thomas Risse / Tanja A. Börzel / Anke Draude (Ed.): The Oxford Handbook of Governance and Limited Statehood. Oxford University Press, 95,00 Pfund Sterling.

Maßgeblich dafür waren und sind in Deutschland die vielen Arbeiten aus dem Kontext zweier (nunmehr abgeschlossener) Sonderforschungsbereiche, des Bremer SFB 597 "Staatlichkeit im Wandel" und des SFB 700 "Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit" der FU Berlin. Während ersterer seine Ergebnisse bereits 2015 in gebündelter Form eines Oxford Handbook zu "Transformation of the State" vorgelegt hat, ist nun das Pendant des letzteren zu "Governance and Limited Statehood" erschienen. An der politischen Gegenwart Interessierten wird der reiche Ertrag von zwölf Jahren Forschung in einem beeindruckenden Panorama ausgebreitet, das von theoretischen Grundlagen und definitorischen Problemen über konkrete Studien zu Akteuren, Modi und Feldern von Governance bis hin zu Konsequenzen sowohl für die Perspektive normativer politischer Theorie als auch für praktische Fragen internationaler Ordnung reicht.

Cover von Buch

John L. Brooke / Julia C. Strauss / Greg Anderson (Ed.): State Formations. Global Histories and Cultures of Statehood. Cambridge University Press 2018, 24,99 Pfund Sterling.

Wer die dort nur gestreifte historische Dimension von State Formations vertiefen will, dem sei dazu ein neuer Band der (vor allem in den USA florierenden) vergleichenden Erforschung von Staaten und Imperien in globaler Perspektive empfohlen. Dies ist reizvoll, da Beiträge zu Stadtstaaten in Mesopotamien und der italienischen Renaissance, zum Imperium Romanum und dem frühneuzeitlichen Indien unter moderner Perspektive behandelt werden, wozu unter anderem ein konzeptioneller Brückenschlag zwischen Max Weber (und dem Fokus auf Institutionen) einerseits und Foucaults Gouvernamentalité und Gramscis kultureller Einbettung (mit Fokus auf Praxen der Regierung) andererseits gehört. Zudem widmet sich der Band eben nicht nur historischen Studien, sondern auch aktuellen Fragen wie der parallelen Entstehung von Staat und Wissenschaft, dem Regimebuilding im China der 1950er Jahre und Aspekten von Patrilinearität im Nahen Osten.

Buchcover

Nick Middleton: An Atlas of Countries that Don’t Exist. A Compendium of Fifty Unrecognized and Largely Unnoticed States. Chronicle Books 2017, 23,99 Euro.

Denjenigen, die diese Thematik als solche interessant finden, die Bände gleichwohl als zu gewichtig erachten, sei für die vorlesungsfreie Zeit noch eine Alternative genannt – sowohl als Lektüre im Urlaub, als auch zur Planung von Reisezielen, die man besuchen oder eher meiden möchte.

Nick Middleton bietet in seinem "Atlas of countries that don’t exist" ein "compendium of fifty unrecognized and largely unnoticed states", die aus verschiedensten Gründen keinen Sitz in der UNO-Vollversammlung haben, aber dennoch ein "national consciousness" aufweisen, also Flaggen besitzen, Pässe aushändigen oder Regierungen wählen, teilweise sogar nicht nur Gebietsansprüche stellen, sondern auch effektive Kontrolle ausüben.

Die Einträge reichen von bekannten politischen Konfliktfällen wie Taiwan und Nordzypern, Katalonien und Grönland über das vergangene Himalaya-Königreich Sikkim bis hin zu so skurrilen und exotischen Fällen wie der Isle of Man, der Festung der Tempelritter in Potinha oder Sealand, einer ehemaligen Royal Navy Plattform außerhalb der 20 Meilen Zone vor der Ostküste Englands, deren zwei Einwohner dort wegen unerlaubten Schusswaffengebrauchs vor Gericht stehend erfolgreich geltend machen konnten, außerhalb britischer Jurisdiktion zu leben.

Nicht alle Beispiele sind solcherart humoristisch oder unverfänglich. In seiner lesenswerten Einleitung analysiert der in Oxford lehrende Geograph Überlappungen und Differenzen der Begriffe country, nation, state und unterstreicht im Ergebnis, wie kontingent eine anerkannte Souveränität letztlich ist. Dies ist hochaktuell, vor allem in der historischen Dimension. Alle drei Titel bieten gleichwohl nicht nur der Geschichtswissenschaft viele Anregungen, dieser aber mit den Konzepten von Staat als Prozess und Graden von Staatlichkeit einen guten Ansatz, alte Fragen neu zu überdenken.