Das Foto zeigt Berge und einen See aus der Höhe mit einem Gleitschirmflieger.
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Geistesgeschichte
Über die Liebe in Bildung und Wissenschaft

Um im Wissenschaftsbetrieb zu bestehen, braucht man Disziplin, etwas Genie und Durchhaltevermögen. Ist das alles? Nein, das Entscheidende fehlt.

Von Felix Grigat 12.01.2019

Es gab Zeiten, da hat man sich im Denken, der Wissenschaft und an den Universitäten mehr als heute zugetraut, viel mehr. Eigentlich so ziemlich alles. Trivialitäten standen nicht zur Debatte. Ein ganz Verwegener wollte gleich die "Wahrheit, wie sie ohne Hülle an und für sich selbst ist" erkennen. Und das heiße, "die Darstellung Gottes (...) wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist." (Hegel) Also die Gedanken Gottes vor der Schöpfung denken – dagegen kommt selbst das Großexperiment CERN nur mit Mühe an.

Wie aber konnte es zu solcher Maßlosigkeit im Denken kommen? Die Antwort ist vergleichsweise einfach: Man hatte sich verliebt, und zwar nicht in irgendwen oder irgendetwas, sondern ins Absolute. Und wer sich solchermaßen verliebt, neigt eben zu Übertreibungen. Man wollte nichts weniger als "das Ganze" verstehen (C.F. von Weizsäcker), wissen "What is it all about?" (A.N. Whitehead). Die antike und europäische Denk- und Wissenschaftsgeschichte begann also nicht mit einem Plan, einer Struktur oder Organisation. Man hat auch keine Exzellenzinitiative gestartet.

Es begann mit Menschen die zusammenkamen, um "aufs Ganze" zu gehen. So hat Platons  Akademie sich als eine Lehr- und Lerngemeinschaft von Menschen verstanden, die "überall das Ganze und Vollständige anstreben" sollen, "Göttliches und Menschliches". Es ging nicht um einen Ausschnitt, sondern um die Freiheit zur "Fundamentaluntersuchung".  

Ein Gedanke mit Folgen

Dieses Wissen- und Erkennenwollen als Kern von Wissenschaft und Universität war für Platon der Eros, die Liebe. Zweifellos einer der ungewöhnlichsten Gedanken der Geistesgeschichte. Platon hat ihn in seinem "Symposion" formuliert:
"Denn die Weisheit gehört zu dem Schönsten und Eros ist Liebe zu dem Schönen; so dass Eros notwendig weisheitliebend ist, und also als philosophisch, zwischen den Weisen und Unverständigen mitten inne steht."

Dabei gehe es darum, das Allgemeime, das "wahrhaft Seiende", in den Ideen zu finden, zu ihm "aufzusteigen", um es dann wieder, beim Abstieg anderen mitzuteilen ("paideia"). Platons Höhlengleichnis führt dies eindrücklich vor Augen. Das Erkennen und die Bildung hängen so untrennbar miteinander zusammen.

Dieser Gedanke hatte Folgen. Man konnte ihn ablehnen oder begeistert aufnehmen, aber man kam davon nicht mehr los – für die nächsten zwei Jahrtausende. Zum Beispiel Augustinus. Er war davon überzeugt, dass man überhaupt nur soviel erkennen könne, wie man liebe. Die Liebe, die Augustinus meint, ist allerdings etwas anders gedacht als bei Platon. Er denkt sie als Gabe, die von Gott, der die Liebe ist, geschenkt wird: "Wenn man aber liebt, was man zu einem Teil nur begreift, bewirkt die Liebe selbst, dass man es besser und voller erkennt".

In dieser Traditionslinie konnte man die Bildung des Menschen mit Liebe identifizieren. Dies "funktionierte", weil Bildung, um an den Ursprung des Wortes zu erinnern, bei Meister Eckhard "einbilden in das Bild Gottes" bedeutete. Bildung hatte so im Kern eine metaphysische Dimension, die ihr heute restlos abhanden gekommen ist.

"Keine Bildung ohne Liebe"

Eine solchermaßen transzendent fundierte Bildung ist in der Goethezeit zum Beispiel für Friedrich Schleiermacher Bedingung einer Zuwendung zu anderen Menschen und zur Welt. Sich bilden bedeutet ihm zufolge, sich im Zusammenhang der Welt in seiner unverwechselbaren Individualität eigentümlich darstellen, "selbst werdend Welt zugleich zu bilden". Wunderbar die klare Formulierung: "Die Bestimmung des Menschen ist, die Welt in sich aufzunehmen und sich in der Welt darzustellen." Der einzelne verschließt seine Eigentümlichkeit nicht in sich, sondern in der Liebe hält er sich offen für Fremdes, teilt er sich mit, kommuniziert und handelt er: "Keine Bildung ohne Liebe, und ohne eigne Bildung keine Vollendung in der Liebe; Eins das Andere ergänzend wächst beides unzertrennlich fort."

"Selbstbildung führt konsequent zu einer Offenheit allem gegenüber, was in Menschheit und Welt begegnet"

Selbstbildung führe konsequent zu einer Offenheit allem gegenüber, was in Menschheit und Welt begegnet: "Wer sich zu einem bestimmten Wesen bilden will, dem muß der Sinn geöfnet sein für Alles was er nicht ist [...] Nur wenn der Mensch im gegenwärtgen Handeln sich seiner Eigenheit bewußt ist, kann er sicher sein, sie auch im Nächsten nicht zu verlezen...".

Bildung hat hier also noch gar nichts mit "Bildungsanstalten" wie Schule und Universiät zu tun. Diese sind aus dieser Elementarerfahrung, dieser fundamental-anthropologischen Kategorie abgeleitet, sekundär.

"Tempi passati" wird man sogleich einwerfen. Damals war die Philosophie Leitwissenschaft und deshalb konnte man auf solche Gedanken kommen. Und in der Tat: Die Geschlossenheit, Einheit und Verbindlichkeit des Bildungsgedankens und Wissenschaftsverständnisses dieser "Achsenzeit" um 1800 verdankte sich einer alle Einzeldisziplinen in sich vereinigenden, selbst als höchstes Wissen anerkannten Philosophie als Grund dieser Einheit.

Bildung hieß "eigentliches Menschsein"

Mit dieser herausragenden Positionierung der Philosophie war eben auch eine anspruchsvolle Anthropologie verbunden. Man hatte sich eben etwas zugetraut. Diese war auch leitend in der Konzeption der Berliner Universität von 1810: Der Mensch wurde als Subjekt in Freiheit gedacht. Bildung, das hieß "eigentliches Menschsein" und war Zweck an sich selbst, niemals bloßes Mittel. Deshalb war es folgerichtig, Bildung und Ausbildung strikt zu unterscheiden.

Die Teilsysteme des Erziehungsdenkens (wie auch der Gesellschaft) waren eng gebunden an das Individuum als "anthropologischem Primärsystem". Sie vermochten sich gegenüber dem Individuum als dem "Kreuzungspunkt einer Mehrheit von Systemen" aus der ideellen Einheit eines übergreifenden Bildungshorizontes zu legitimieren.

Und heute? Die einst dominierende Metaphysik liegt in Trümmern. Leitwissenschaften werden in immer kürzeren Abständen ausgerufen und wieder abgemeldet. Zum Bildungsbegriff meinte Niklas Luhmann ironisch: "Das Wort Bildung stellt der Kontingenzformel des Erziehungssystems einen unbestreitbar schönen Wortkörper zur Verfügung. Es fließt leicht von der Zunge". Unterm Strich helfe es aber nicht dazu, die Gegenwart adäquat zu verstehen.

Ironie als letztes Wort zum Bildungsbegriff?

Ist Ironie das letzte Wort zum Bildungsbegriff? Wo bleibt das Individuum? Heute ist es vor allem Kategorie und Teilnehmer sozioökonomischer Praxis. Der Mensch ist gezwungen, sich selbst auf aggressive Weise zu erzeugen, zu verwirklichen und im Wettbewerb zu behaupten. Der vergleichsweise wenig aggressive Bildungsbegriff Humboldts und seiner Zeitgenossen ist das präzise Gegenteil der gegenwärtigen Strategie, die "Bildung als zentralen Standortfaktor im Zeichen der Globalisierung" zu begreifen. Die Bildung der Neuhumanisten sollte in eine Geselligkeit als zwangfreie Weise menschlichen Umgangs in einer von speziellen Zwecken geprägten Welt auslaufen.

Verhältnisse, die den Menschen zwingen, sie nur hinzunehmen, können nach Ansicht Humboldts nicht dauern. Geltung könne nur fordern, was der Mensch in Freiheit annehme. Der wirklich freie Mensch habe es, so Schiller, nicht nötig, "fremde Freiheit zu kränken, um die seinige zu behaupten, noch seine Würde wegzuwerfen, um Anmut zu zeigen". Das Reich der Freiheit sollte zugleich das Reich der Bildung sein, da Bildung ohne Freiheit unmöglich, Freiheit ohne Bildung sinnlos sei. Aus diesen grundlegenden anthropologischen Entscheidungen folgt, dass sich der Staat aus der Wissenschaft heraushalten solle.

Das Bedürfnis nach Ganzheit heute auch nur zu äußern, an den Eros und das Individuum im Zentrum von Wissenschaft und Bildung zu erinnern, mutet im Wissenschaftsdiskurs seltsam an. Vielleicht  bedauert mancher den Verlust, erklärt sich aber auch nicht für zuständig. Etwas fehlt, man lässt es "aussen vor". So bleibt eine Leerstelle.