Schimpanse, der in einen Handspiegel blickt
mauritius images / Manfred Rutz

Schönheit
"Über Schönheit muss gestritten werden"

Social Media fordern den Begriff Schönheit neu heraus. Ein Kulturwissenschaftler über antike Schönheitsikonen, kleine Makel und Karl Lagerfeld.

Von Thomas Macho 12.08.2019

Schönheit ist ein agonaler Begriff, ein Begriff im Wettstreit. Nicht umsonst streiten schon die olympischen Göttinnen Hera, Athene und Aphrodite um das Vorrecht, als Schönste zu gelten; und sie erwählen ausgerechnet den Hirten Paris zum Schiedsrichter, der den goldenen Zankapfel der Schönsten reichen soll. Die Geschichte ist ein wenig paradox: Denn Paris wird bekanntlich bestochen, und zwar durch eine Art von "Television", gleichsam ein Medienbild 'avant la lettre'; er verfällt der bezaubernden Helena, die offenbar als vierte Schönheitsikone auftritt, als Projektion in seltsamer Konkurrenz mit den anwesenden Göttinnen. Bedauerlicherweise ist Helena bereits verheiratet, was Aphrodite nicht weiter bekümmert; Paris erhält also einen buchstäblich vergifteten Lohn, dem der Trojanische Krieg entspringen wird: Um den Ehebruch zu rächen, ziehen die Helden in den Tod; und Odysseus wird zu jahrzehntelangen Irrfahrten verdonnert, auf denen er allen möglichen Nymphen und göttlichen Frauen – Kirke, Kalypso, Nausikaa – begegnen wird, um mit ihnen die Ehe zu brechen, während Penelope auf Ithaka von zahllosen Freiern belagert wird und ihrem abwesenden Krieger die Treue halten soll.

Schönheit ist ein agonaler, ein kriegerischer, ein komparativer Begriff. Einfach gesagt: Wer schön sein will, strebt vor allem danach, 'schöner' zu sein als die Konkurrenz. "Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?", fragt die böse Königin im Märchen von Schneewittchen; und in der älteren Fassung dieses Märchens, das Johann Karl August Musäus – fast dreißig Jahre vor den Brüdern Grimm – veröffentlicht hat, fragt sie sogar: "Spiegel blink, Spiegel blank, goldner Spiegel an der Wand, zeig mir an den schönsten Mann in Brabant!" Der Zauberspiegel gehorcht und zeigt ihr prompt einen Mann, der wiederum – wie Helena – bereits verheiratet ist: Daraus entstehen neuerlich Konflikte, Verwirrungen, Eifersucht, Anschläge (mit einem – zum Glück für Bianca, so heißt Schneewittchen bei Musäus – nur mit Opiumsaft versetzten Apfel) und grausame Strafen.

Zeitgenössische Techniker haben inzwischen freilich digitale Spiegel konstruiert, die noch konkretere und einfachere Fragen beantworten können: "Mirror, mirror, on the wall, does this clothing match at all?" Donald Arthur Norman, der kalifornische Kognitionswissenschaftler und Informatiker, hat bereits 2007 (in: The Design of Future Things) pro­phe­zeit, künftige Zauberspiegel würden nicht nur unser Aussehen und unsere Figur gestalten, sondern auch die passende Kleidung: "Brown and blue are not for you. Try this jacket. Use this shoe". Ein aktueller Zauberspiegel wirft also nicht nur ein Bild zurück, sondern ein Schnittmuster, nach dessen Maßgabe Anzüge oder Kostüme geschneidert werden können; er beschleunigt den Transfer vom modischen Image zur individuellen Erscheinung.

Gemeinsame Kriterien für Schönheit lassen sich nur selten finden

Schönheit ist ein agonaler Begriff, was sich – jenseits von Mythen und Medien – auch systematisch demonstrieren lässt. Ist Schönheit Natur oder Kunst? Regel oder Ausnahme? Ergebnis objektiver Messungen, etwa von Proportionen und Symmetrien, oder Ergebnis subjektiver Geschmacksurteile, die einem raschen kulturellen Wandel unterworfen sein können? Über Schönheit muss gestritten werden. Ist Schönheit zeitlos und ewig, wie Leonardos "Mona Lisa" oder eine perfekt geformte Muschel? Oder bleibt sie dem Augenblick unterworfen, von dem wir manchmal – wie Goethes Faust, der sein Seelenheil riskiert – wünschen, er möge verweilen? Ist Schönheit Ordnung oder Störung? Anpassung oder Abweichung? Diese Fragen lassen sich nicht endgültig entscheiden.

Schönheitsideale werden heute von Evolutionsbiologen und Neurowissenschaftlerinnen ebenso gewissenhaft verbreitet wie von Kunsthistorikern und Ausstellungskuratorinnen, Journalistinnen und Schönheitschirurgen, Modeproduzenten und Filmregisseuren; auf gemeinsame Kriterien der propagierten Schönheit werden sie sich wohl nur selten einigen.

Wer heute nach Schönheitsidealen im Internet fahndet, findet vor allem Ratschläge, die kommentiert und kritisiert werden. Nicht die klassischen Erzählungen vom Urteil des Paris, von Adonis, Pygmalion, dem Bad der Diana oder der Geburt Aphrodites werden diskutiert, sondern Streitfragen zu Hautpflege, Frisur, Bad und Makeup. Die "Stern"-Titelgeschichte vom 20. November 2014 trug zwar die Überschrift "Weltmacht Schönheit"; aber im Heft ging es – auf dreizehn Farbseiten – um Schönheitsoperationen, deren Risiken und Kosten. Die Fotografien wirkten zumeist wenig anziehend; auf Seite 60 resümierte das Foto eines liegenden, sittsam bekleideten Paars das aktuelle Preis- und Leistungsspektrum ästhetischer Chirurgie (wobei sich der Vergleich mit Schweine- oder Rinderdiagrammen in einer Metzgerei geradezu aufdrängt). Schönheitsideale werden gegenwärtig als technische Narrative verbreitet, begrüßt oder verworfen; paradox bleibt lediglich, dass die Adressatinnen und Akteurinnen dieser neuen Vorstellungen als Ziel ihrer Eingriffe angeben, möglichst "natürlich" zu erscheinen: "Man soll nicht sehen, dass ich etwas gemacht habe".

"Die technischen Schönheitsideale haben inzwischen ein Massenpublikum erreicht."

Die technischen Schönheitsideale haben inzwischen ein Massenpublikum erreicht, das längst nicht mehr vorrangig aus Reichen und Prominenten besteht. In Lateinamerika oder Asien ist es gerade die ärmere Bevölkerung, die jahrelang spart, um ihren Kindern eine Schönheitsoperation – etwa als Hochzeitsgeschenk – anbieten zu können. Der Körper, den die Eltern ihren Nachkommen auf natürlichem Weg "geschenkt" haben, muss verbessert und modifiziert werden, um den visuellen Anforderungen zeitgenössischer Arbeits- und Heiratsmärkte genügen zu können; Bildung ist zunehmend weniger wichtig als Erscheinung, Image und Aussehen.

"The demand is insatiable", bemerkt der Ethnologe Michael Taussig in seiner 2012 erschienenen Studie über 'Beauty and the Beast': "A young producer for 'Cambio Extremo', a Colombian TV show (based on the US show 'Extreme Makeover') that offers free cosmetic surgery so as to radically alter a person, tells me that some twenty thousand volunteers responded to a single advertisement for surgery in Bogotá. Everyone will tell you that 'beauty opens doors'. The women in Congress [...] are stunningly glamorous. And when the politically progressive mayor of Medellin replaced the city’s annual beauty contest with a contest for women of talent, they too seemed like beauty queens. One wonders what it takes to be a humble secretary".

Kleine Makel machen einzigartig 'schön'

Dabei ist es oft gerade das Unnatürliche, das Einzigartige, das wahre Schönheit auszuzeichnen scheint. In diesem Sinne gesteht etwa der Protagonist von Franz Werfels Novelle 'Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig' (1922): "Die Schönheit Sinaidas war eine wesenlose Entzückung, die ihrem Kleid die süße Form gab, selbst aber Zephyr, Geist, Schwingung zu sein schien. Und doch – es war fast klar – sie hatte ein Gebrechen. Wenn auch von zarter, unauffälliger Natur. Es schien, dass sich ihr Schritt nach der einen Seite etwas neigte, kaum merklich, aber in manchen Augenblicken unverkennbar. Dieses Unregelmäßige in dem Rhythmus ihrer Erscheinung (Hinken es zu nennen wäre zu viel und zu profan), dieses zarte Gebrechen riss mich hin, brachte mich um Verstand und Bewusstsein." Und etwas später: "O Gott, ich war, ich bin verliebt in ihr leichtes Hinken". Auch Elias Canetti bemerkte in einer Aufzeichnung aus dem Jahr 1955: "Sie hinkt so schön, dass die Gehenden neben ihr wie Krüppel erscheinen."

"Schön ist, was erscheint: Doch zum Erscheinen gehört die Überraschung, eine Art von Offenbarung, Verzauberung, die nicht einfach wiederholt werden kann."

Schön ist, was erscheint: Doch zum Erscheinen gehört die Überraschung, eine Art von Offenbarung, Verzauberung, die nicht einfach wiederholt werden kann. Was erscheinen will, bedarf eines lebenden Körpers, einer Geste, einer Bewegung. Selbst der sublimste Edelstein wirkt schöner, sobald er an Hals, Fingern, Ohren oder Armen getragen wird, ebenso wie die Robe, der bezaubernde Mantel oder ein Hut. Nicht umsonst müssen die aktuellsten Modelle der Haute Couture an lebenden Körpern über den Laufsteg schweben; es reicht nicht aus, sie am Kleiderbügel oder in einer Vitrine zu zeigen. Weder Gesicht noch Figur allein entscheiden darum über Erfolge und Karrierechancen eines Models, sondern seine Fähigkeit, sich schön und elegant zu bewegen. Auch ein liegender Teppich muss sich zumindest in der Phantasie in einen fliegenden Teppich verwandeln können; und eine Statue wird schön und überwältigend erst, wenn ihr angesehen und zugetraut wird, dass sie – wie Pygmalions Galatea – zum Leben erwachen will.

Aber zu dieser Schönheit als Offenbarung gehört auch die kleine Differenz, die Abweichung, der Makel – sei es ein Leberfleck oder ein leicht hinkender Gang. Zu Recht betonte Wolfgang Ullrich in seinem Essay über "Schönsein als Kulturtechnik" (erschienen in der "Neuen Zürcher Zeitung" vom 16. März 2015), gerade die Agonalität des Schönheitsbegriffs zwinge zur Distinktion: "Da ,Schönheit, seit mehr als zehn Jahren vor allem in Casting-Shows verhandelt wird, angehende Models also immer im Plural auftreten, genügt es allein deshalb nicht, schöne Beine und makellose Gesichter zu zeigen. Es bedarf zusätzlicher Kriterien der Unterscheidung; in der direkten Konkurrenz müssen die Kandidatinnen auch über etwas verfügen, das sie interessant und unverwechselbar macht."

Und er ergänzt: "Mehr noch als Casting-Shows begünstigen die Social Media Differenzen, fordern Abwechslung, Extremes, Einmaliges. Und auf einmal erscheint sogar verhandelbar, was als schön gilt" – beispielsweise "unterschiedliche Körpermaße, bizarre Frisurenstile oder ungewöhnliche Kombinationen ethnischer Merkmale". Inzwischen ist – nach einer Untersuchung der Universität Leipzig aus dem Jahr 2017 – jeder fünfte Deutsche, ja sogar jede zweite Frau zwischen 25 und 34 Jahren, tätowiert. Mit den Tattoo-Motiven wird nicht nur Zugehörigkeit signalisiert, sondern auch eine Form gelegentlich grotesker Einzigartigkeit.

Der Blick des Betrachters

Bizarr und unverwechselbar erschien auch das Outfit des am 19. Februar 2019 verstorbenen Managers und Gestalters zeitgenössischer Modeströmungen und Schönheitsideale: Karl Lagerfeld, mit Sonnenbrille, schwarzen Handschuhen, Ringen und dem weißen Stehkragen. In einem fiktionalen Interview mit Lagerfeld – einem 'Gespräch über die Unsterblichkeit' von 2015 – lässt John von Düffel den Meister erläutern: Die alten Griechen "hatten verschiedene Göttinnen und Götter: der Liebe, des Krieges, der Eifersucht et cetera. Und je nachdem, von welchem Gott man angeschaut wird, so – glaubten sie – verhält man sich auch. Nicht die Götter haben sich wie Menschen aufgeführt, sondern die Menschen wie die Götter, deren Blick auf sie fällt. Wenn jemand vor Eifersucht rast, ist es Hera, Zeus, neidische Gattin, die ihm gerade zusieht. Verstehen Sie? Der Blick des Betrachters bestimmt, wer Sie sind. Deswegen bin ich so ungern im Fernsehen. Wenn Sie von Massen angeschaut werden, werden Sie Masse."

Daraus ergibt sich freilich eine grandiose Rechtfertigung der eigenen Arbeit: "Wir wollen Wunder vollbringen! Wir wollen dem Gott, der uns anschaut, beweisen, dass er sich nicht in uns täuscht. Wir wollen ihm recht geben mit unseren Werken! Nichts anderes versucht ein Modezeichner, indem er ein Kleid, ein Kostüm entwirft, das den Körper einer schönen Frau, eines schönen Mannes feiert. Er will Gott recht geben, Seiner Schöpfung durch seine Schöpfung. Seinen Wundern durch die Wunder, in die er sie hüllt, er will das Wunder der Natur durch die Wunder der Kultur verherrlichen. Und er will, dass der Gott, der ihn anschaut, das sieht. Dass Er sieht, dass es gut war." Schönheit als Augenkontakt, als Blickwechsel unter Schöpfern: Künstler und Künstlerinnen müssen heute auf das Attribut des Schöpferischen häufig verzichten, das der "Modeschöpfer" alltäglich zu beanspruchen scheint. Ob Götter und Göttinnen auch zu einem Tattoo überredet werden könnten?