Hochschulbildung
Urteilskraft als Ausbildungsziel
Akademische Bildung, wie Universitäten sie vermitteln, wird nicht allein über Inhalte, sondern über wissenschaftliche Denkhaltungen, Methoden und Reflexionspraktiken bestimmt. Sie leitet sich direkt aus der wissenschaftlichen Einstellung und dem forschenden Habitus ab. Wissenschaft als Basis der akademischen Bildung bedeutet mehr als Faktenerzeugung durch Beobachtung, Experiment, Hypothese und Regeldefinition. Die Wissenschaft zielt aufs Ganze der objektiven Erkenntnis, doch ihrer Form nach konstituiert sie einen Raum dynamischer Denkbewegungen, in dem nichts Festes und Permanentes existiert.
Die wissenschaftliche ist jene Haltung, die davon ausgeht, dass alles, was ist, auch anders sein könnte. Im Vordergrund steht dabei die Fähigkeit, die Welt in Versionen zu entwerfen, in immer wieder neuen Varianten und Alternativen. Wissenschaftliche Erkenntnis gelingt nur dort, wo das Bestehende in Experimenten und Deutungsmustern, in Proberechnungen und Hypothesen simuliert, hinterfragt und als anders vorstellbar gefasst wird.
"Die Freiheit der Wissenschaft dient dem Zweck, uns die Welt durch Erweiterung ihrer Versionen offenzuhalten."
Niklas Luhmann definierte vor mehr als 50 Jahren, die Wissenschaft habe "die spezifische Funktion, die Welt für die Gesellschaft offen zu halten. Für diese Funktion wird sie freigestellt". Die Freiheit der Wissenschaft dient also einem einzigen Zweck, der selbst wieder zweckfrei ist: ihrer Aufgabe, uns die Welt durch Erweiterung ihrer Versionen offenzuhalten. Damit verbindet sich weder eine Programmierung des Wissens auf Transfer und Anwendungsbezüge, noch die Lizenz zum Verharren im Elfenbeinturm. Vielmehr geht es um die Vermittlung von Denkoptionen, Varianten und Möglichkeiten, um eine Diversifizierung der Welt durch Forschung und Lehre. Besser als Luhmann es tat, kann man die Autonomie der Wissenschaft nicht beschreiben. Zugleich liefert seine Definition die ideale Bestimmung wissenschaftlich erzeugter Bildung, deren Grundlage die intellektuelle Freiheit und die Offenheit der von ihr initiierten Weltsichten ist.
Hochschulische Bildung repräsentiert vor allem eine Kombination aus wissenschaftlichen Inhalten und wissenschaftlichen Einstellungen. Die stoffliche Wissensebene bleibt noch im 21. Jahrhundert wichtig, denn sie markiert bekanntlich in den meisten Fächern die Basis für den Studienerfolg. Wer nur weiß, wo er etwas findet, ohne es selbst verarbeitet zu haben, weiß zu wenig. Aber auch das bloße Stoffwissen reicht nicht aus, wenn es um ein Studium geht. Die reine Topik – Wissen über Fundorte – und die reine Materialität – Wissen als pure Quantität – führen gleichermaßen in eine Sackgasse, zumindest nicht zur Studierfähigkeit.
Beschleunigte Zunahme der Wissensbestände und ihre Folgen
Es ist offenkundig, dass die Beschäftigung mit disziplinären Inhalten eine urteilende und selektierende Leistung verlangt, die über die Erfordernisse eines reinen Rezeptionsprozesses hinausgeht. Bis zur Epoche der Renaissance war das akademische Studium auf die Lektüre einer sehr überschaubaren Zahl kanonischer Texte konzentriert, die wieder und wieder gelesen wurden. Weder die empirische Sammlung von Daten noch die Simulation von Naturvorgängen im Experiment spielten für die gelehrte Erkenntnis eine Rolle.
Mit der beschleunigten Zunahme der Wissensbestände, wie sie sich zu Beginn der Neuzeit vollzog, ging die Notwendigkeit einher, eine wachsende Vielzahl von Quellen und Informationen zu bewältigen. Die großen abendländischen Systementwürfe der europäischen Aufklärung von Descartes bis Kant lassen sich nicht zuletzt als Versuche definieren, diese Vielzahl durch eine kohärente Methode zu bändigen und Wissen über Urteils- beziehungsweise Reflexionsformen zu organisieren.
"In unserer postmodernen Gesellschaft geht es darum, wie man unüberschaubarer Informationsmassen Herr wird."
In unserer postmodernen Gesellschaft, deren Wissensbestände sich alle zehn Jahre annähernd verdoppeln, geht es verstärkt auch darum, wie man unüberschaubarer Informationsmassen Herr wird. Die Scientific Community bringt heute 180.000 Zeitschriften hervor, in denen jährlich 2,8 Millionen Beiträge erscheinen. Wikipedia versammelte 2022 in seiner englischsprachigen Version 6,4 Millionen Artikel, das Vielfache eines traditionellen vierzigbändigen Lexikons in der Printversion.
Die Geschichte des Wissens ist durch die permanente Vermehrung von frei zugänglichen Wissensbeständen geprägt. In Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit waren überschaubare Wissenssektoren vorhanden, die zusätzlich durch Kanonisierung der Bestände – oftmals im Rahmen theologischer Gebote – hierarchisiert und gezielt verknappt wurden; erst seit der Aufklärung wächst die Menge des Wissens stetig und unzensiert an. Weil Wissensverfügbarkeit heute durch kaum überschaubare Informationsflüsse hergestellt wird, ist der Begriff der Bildung anders als früher zu definieren. Nicht mehr die Sicherung des Zugangs zum Wissen, sondern die selbstständige Hierarchisierung seiner Elemente stellt die vordringliche Aufgabe dar. In diesem Sinne geht es primär um die Fertigkeit zur Auswahl und zur begründeten Entscheidung.
Es versteht sich, dass in einer Zeit, die Quellen nicht mehr normativ – zum Beispiel religiös – verifiziert oder falsifiziert, Autorisierung auf veränderten Methoden beruht. Autorisierung bedeutet nicht Rekurs auf die durch die antiken Philosophen, die Kirchenväter oder die scholastische Philosophie gesicherten Wahrheitsannahmen, sondern muss durch Vergleich erarbeitet werden. Das bleibt schwierig, denn die Vielzahl von Informationen, die medial bereitstehen, erschwert Orientierung, zumal sie gerade durch den Verzicht auf qualitative Differenzierung gekennzeichnet ist; man könnte hier förmlich von einem Hierarchieverbot des Internetwissens sprechen, zu dem analog die Abkehr vom Copyright, dem seit 300 Jahren geltenden Urheberrecht, stattfindet. Wo Originalität und Wahrheit, auch unter dem Einfluss der Artificial Intelligence, als Leitkategorien ausfallen, weil allein Algorithmen nach Nutzungsquantitäten über Ordnungsstrukturen entscheiden, muss jedoch nicht folgerichtig Beliebigkeit zum Prinzip von Forschung und Lehre werden.
Digitale Wissensorganisation
Im Zeitalter digitaler Wissensorganisation steht jeder individuelle Bildungsanspruch vor anderen Aufgaben als früher. Nicht mehr der Zugriff auf Wissensressourcen, die durch virtuelle Netze in unüberschaubarer Vielfalt bereitgestellt werden, ist die wesentliche Herausforderung, sondern die Möglichkeit der Gliederung. Es geht um Instrumente der Ordnungsstiftung, die es erlauben, in der Flut des weltweit digital zugänglich gemachten Wissens Orientierung zu bieten, Abgrenzungen vorzunehmen und Hierarchien zu schaffen.
Wer diese Flut bewältigen will, benötigt Auswahlfähigkeit und Urteilsvermögen. Genau das müssen schon die Gymnasien vermitteln, wenn sie neben dem Kompetenzerwerb einen vorhersehbaren Studienerfolg durch die Ausbildung autonomer intellektueller Haltungen ermöglichen sollen.
Nicht nur die Fülle des Wissens und seine digitale Allverfügbarkeit fordert Urteilskraft, sondern auch die künstliche Intelligenz (KI), die heute dazu in der Lage ist, Texte unterschiedlicher Genres zu verfassen. Es wurde in den letzten Monaten viel darüber diskutiert, welche Konsequenz die fortschreitende Vervollkommnung von Programmen der KI für das Schreiben von Texten in hochschulischem Kontext hat. Mithilfe künstlicher Intelligenz lassen sich Texte so umformulieren, dass ihre Quelle nicht mehr erkennbar ist. Es besteht also die Gefahr, dass ein Programm wie ChatGPT dazu benutzt wird, ein Wissen zu simulieren, das die Verfasserin oder der Verfasser nicht besitzt. Wie man hier Täuschungsversuche entlarvt, ist eine Sache von selbst wieder durch Algorithmen gespeisten Erkennungsprogrammen. Das bleibt ein wichtiges Thema für schulische und hochschulische Prüfungen, lässt sich aber technisch bewältigen.
Weitaus zentraler für Lernprozesse aller Art ist allerdings die Frage, wie KI-produzierte Texte auf ihre sachliche Evidenz geprüft werden können. Wer die erfundenen Quellen eines KI-Textes von den authentischen Quellen eines korrekten Fachtextes unterscheiden möchte, benötigt erneut Urteilskompetenz. Er oder sie muss in der Lage sein, eine richtige von einer fingierten Quelle, einen falschen Nachweis von einem zutreffenden zu unterscheiden.
"Die Überzeugung, dass sie ihr Profil verlieren, sobald sie sich von fremden Interessen abhängig machen, bestimmt die Selbstdefinition vieler Forschender bis in unsere Tage."
Bildung bedeutete zu Zeiten der humboldtschen Reform vor 210 Jahren nicht Praxisbezug, sondern Grundlagenwissen. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an eine Definition des Philosophen Schelling, der im Rahmen seiner erstmals 1803 in Jena gehaltenen Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums erklärte: "Die gewöhnliche Ansicht von Universitäten ist: 'sie sollen dem Staat seine Diener bilden zu vollkommenen Werkzeugen seiner Absichten.' Diese Werkzeuge sollen doch aber ohne Zweifel durch Wissenschaft gebildet werden. Will man also jenen Zweck der Bildung, so muß man auch die Wissenschaft wollen. Die Wissenschaft aber hört als Wissenschaft auf, sobald sie zum bloßen Mittel herabgesetzt und nicht zugleich um ihrer selbst willen gefördert wird. Um ihrer selbst willen wird sie aber sicher nicht gefördert, wenn Ideen zum Beispiel aus dem Grund zurückgewiesen werden, weil sie keinen Nutzen für das gemeine Leben haben, von keiner praktischen Anwendung, keines Gebrauchs in der Erfahrung fähig sind."
Gewiss würde das heute niemand mehr so strikt formulieren; der Anspruch einer funktionsfreien Selbstbegründung wissenschaftlicher Tätigkeit mutet in dieser Form allzu dogmatisch und in seiner Kompromisslosigkeit idealistisch an. Aber für eine nicht ganz kleine Gruppe der universitären Wissenschaften gilt auch im Jahr 2025, dass sie ihre Forschung als zweckfrei und anwendungsfern begreift. Die Überzeugung, dass sie ihr Profil verlieren, sobald sie sich von fremden Interessen abhängig machen, bestimmt die Selbstdefinition vieler Forschender bis in unsere Tage.
Keine öffentliche Rede zu Fragen der Hochschulpolitik kommt ganz ohne ein Zugeständnis an dieses Rollenbild aus; wer darauf verzichtet, verdirbt es sich offenbar mit den Universitäten. Der Konstanzer Wissenschaftshistoriker Jürgen Mittelstrass formulierte dazu, Forschen ohne Anwendungsauftrag sei das Ideal einer Wissenschaft als Lebensform.
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Forschungsbasierte Lehre
Dieses vielfach noch sakrosankte Ideal der Anwendungsfreiheit wird im traditionellen Diskurs durch das erstmals von Wilhelm von Humboldt vor 210 Jahren entwickelte Modell der Einheit von Forschung und Lehre gestützt. Sein Ziel ist bekanntlich die wissenschaftliche Qualifizierung der Studierenden und damit eine Lehre, die ihre Inhalte durch forschungsnahe Fragestellungen und Methoden vermittelt. Am Ideal der Einheit von Forschung und Lehre wird auch heute, zumindest der Form nach, festgehalten, in programmatischen Reden ebenso wie in zahllosen Publikationen, die sich mit Zustand und Perspektiven der Wissenschaften befassen.
Selbst die radikalsten Praktiker, die unsere Universitäten zu Wirtschaftsunternehmen mit Selbstvermarktungstechniken umbauen möchten, kommen nicht ganz ohne den obligaten Kotau gegenüber Humboldt aus. Sein idealtypischer Bildungsbegriff besitzt, sofern er die Heranführung an Fragen der Forschung berührt, für die deutsche Universität weiterhin leitenden Charakter. Zugleich ist jedoch die universitäre Lehre unter den derzeitigen Rahmenvoraussetzungen nicht mehr geeignet, diesen Begriff unverändert auf den akademischen Unterricht zu übertragen. Das zu konstatieren, muss nicht zur Folge haben, ihn selbst zu verabschieden; aber es nötigt zu neuen, zumindest ergänzenden Lösungen, die wiederum eine eigene Problemlast bergen, weil sie sich zum Ideal Humboldts nicht widerspruchsfrei verhalten.
"Bildung soll kein Selbstzweck mehr sein, sondern ein Mittel zum Zweck."
Es gibt im Bildungskonzept der Universitäten seit einiger Zeit eine Tendenz zum Pragmatismus. Er ist in der Regel nicht das Resultat freier Entscheidung, sondern die Folge äußerer Restriktionen, die ein Ideal zur Illusion zu verwandeln drohen. Pragmatismus bedeutet die Flucht ins Unvermeidliche – eine Strategie, die im Zeichen von sich verschlechternden Betreuungsrelationen und Mittelverknappung geboren wurde. Die Flagge, unter der der neue Pragmatismus segelt, ist der Begriff der "Professionalisierung". Dieses Konzept wird zunehmend dem Ziel einer direkt auf den externen Evidenznachweis zugeschnittenen Praxis untergeordnet. Bildung soll kein Selbstzweck mehr sein, sondern ein Mittel zum Zweck – im Interesse der verbesserten Berufsmarktqualifizierung durch ein Studium oder auch im Dienste der gesellschaftlichen Mission.
So wichtig diese Ziele sind, so unbestreitbar bleibt, dass universitäre Bildung auch in nachhumboldtscher Zeit keine Ausbildung – analog zur Berufsqualifizierung – sein darf; sie schließt die Vermittlung von Kenntnissen ein, die nicht prinzipiell anwendungsfähig und marktkonform sind. "Nicht prinzipiell": das impliziert eben – und hier liegt die fortdauernde Gültigkeit des vorhin zitierten Schellingschen Satzes –, dass akademisches Wissen ebenso wie universitäre Forschung niemals auf Zwecksetzungen beschränkt werden kann; umgekehrt muss die Kooperation von Wissenschaft und Berufsmarkt nicht notwendig die Freiheiten der Universität begrenzen.
Was bleibt, sind Elemente der humboldtschen Konzeption akademischer Bildung, die mit modernen Ansprüchen verbunden werden sollten. Neben dem Grundlagenwissen, das nicht über Anwendungsperspektiven definierbar ist, sondern diese im gelingenden Fall erschließt, spielt die Urteilskraft in Zeiten von umfassender Wissensverfügbarkeit durch Digitalisierung und künstliche Intelligenz die entscheidende Rolle. Auf sie als Zielkategorie wird es im Kontext moderner akademischer Bildungskonzepte verstärkt ankommen, wenn Universitäten nicht nur Stoff und methodisch-technische Wissensorganisation, sondern auch freies Denken und intellektuelle Weltoffenheit im Sinne Luhmanns vermitteln wollen.