Sprechblase auf vielen Menschen
mauritius images / YAY Media AS / Alamy

John Rawls
Verfechter einer pluralistischen Gesellschaft

Am 21. Februar jährt sich der 100. Geburtstag von John Rawls. Er hat die politische Philosophie an den westlichen Universitäten entscheidend geprägt.

Von Stefan Gosepath 20.02.2021

John Rawls wird heute allgemein als der bedeutendste politische Philosoph des 20. Jahrhunderts angesehen. Die Geschichte der (anglo-europäischen) Politischen Philosophie trägt heute den Untertitel: Von Plato zu Rawls.  Am 21. Februar jährt sich sein 100. Geburtstag (er starb 2002). Zugleich feiern wir den 50. Jahrestag des Erscheinens seines bahnbrechenden Hauptwerkes "A Theory of Justice" (Eine Theorie der Gerechtigkeit).

Rawls war persönlich eine durch und durch akademische Figur, sein Stil sachlich, ohne glanzvolle Rhetorik, eher zurückhaltend, immer argumentierend, immer bescheiden. Rawls war kein öffentlicher Intellektueller, wie es Jürgen Habermas hierzulande ist. Dennoch hat er durch seine Persönlichkeit nachhaltig gewirkt als jemand, der die Sache der Gerechtigkeit zeitlebens äußerst ernst nahm, auch für sich selbst mit der von daher gebotenen Zurückhaltung. John Rawls wurde in seiner Kindheit durch den Tod zweier Brüder, die sich bei ihm angesteckt hatten, und durch den Kriegseinsatz als Soldat im pazifischen Raum stark moralisch geprägt. An der Universität Harvard, an der er nach mehreren Stationen zuvor bis zu seiner Emeritierung 29 Jahre lehrte, hat er Generationen von Studierenden und Kollegen als "University Professor", dem die Universität zutraute, fakultätsübergreifend, also uniweit zu lehren, geprägt. Viele seiner Schülerinnen und Schüler sind akademisch oder politisch sehr einflussreich geworden.

Rawls Werk leitete einen Paradigmenwechsel in der politischen Philosophie an westlichen Universitäten ein. Die wichtigste Leistung von heute aus beurteilt ist wohl, dass es Rawls gelang, den politischen Liberalismus für das 20. Jahrhundert neu zu reaktualisieren. Sein systematisches Hauptinteresse galt der Formulierung und Begründung eines realistischen Ideals der politischen Beziehungen zwischen freien und gleichen Bürgern in einer gerechten und stabilen Gesellschaft. Für eine moderne demokratische Gesellschaft müssen die unterschiedlichen Auffassungen des guten Lebens akzeptiert werden. Denn für die tiefgreifende Uneinigkeit über grundlegende Wertvorstellungen in unseren heutigen Gesellschaften gibt es gute Gründe. Dennoch müssen die Grundsätze des gesellschaftlichen Zusammenlebens unter freien und gleichen Bürgern zustimmungsfähig sein. Denn nur eine Gerechtigkeits­konzeption, die mit einem breiten Spektrum von Weltanschauungen und Konzeptionen des guten Lebens vereinbar ist, kann gerechtfertigt und stabil sein und hinreichende moralische Loyalität erzeugen. Eine solche aus Vernunftgründen anzustrebende politische Gerechtigkeitskonzeption kann daher nur auf der Schnitt­menge eine "übergreifenden Konsenses" aufbauen.

Normen ermöglichen faires System der Kooperation

Um die Prinzipien, die die Gesellschaft als ein faires System der Kooperation regeln, aufzufinden und zu klären, schlägt Rawls eine absichtlich anspruchslose Begründungsmethode vor. Danach sollen konkrete moralische Intuitionen bezüglich Einzelfällen und allgemeine moralische Prinzipien in ein "Überlegungsgleichgewicht" gebracht werden. Dies ist das heute in der anglo-europäischen Welt akzeptierteste Verfahren zur Begründung von moralischen oder politischen Normen geworden. Das allein schon ist eine enorme Wirkung. Es wird keine Letztbegründung gesucht, sondern allgemeine Akzeptanz im hier und jetzt.

Normen sind allerdings nur dann allgemein akzeptabel, wenn sie unparteilich begründet sind. Berühmt geworden ist Rawls Operationalisierung dieser Unpartei­lich­keit. Er schlägt dazu das Gedankenexperiment einer fiktiven einmütigen Prinzipienwahl im "Urzustand" hinter einem "Schleier des Nichtwissens" vor. Bei der Wahl der besten Grundordnung für ihre Gesellschaft dürfen die Individuen aus Fairnessgründen nicht wissen, welche Position sie später in der Gesellschaft einnehmen werden, welche Interessen, Anla­gen, Fähigkeiten sie haben werden und welche die näheren Umstände der betreffenden Gesell­schaft sein werden. Der Schleier, den wir von Statuen der Justitia meist vor Gerichtsgebäuden kennen, mit der dieser die Augen verbunden sind, verdeckt Informationen, die zu einer parteiischen Wahl führen könnten.

"Nach dem Differenzprinzip sind Ungleichheiten im Einkommen zulässig, wenn sie sich zum größtmöglichen Vorteil für die am wenigsten begünstig­ten Gesell­schaftsmitglieder auswirken."

Mit Hilfe dieser Argumentationsfigur begründet Rawls ausführlich, dass man sich im Urzustand auf zwei Grundsätze der Gerechtigkeit einigen wird. Da ist zum ersten ein "System von Grundfreiheiten" vorrangig zu gewährleisten. Hier schlägt sich der klassische Liberalismus nieder. Der modernere Egalitarismus zeigt sich zweitens in den beiden anderen Prinzipien, dem Prinzip der fairen Chancengleichheit und dem berühmten Differenzprinzip. Nach dem Differenzprinzip sind Ungleichheiten im Einkommen zwischen Bürgerinnen und Bürgern zulässig, wenn sie sich zum größtmöglichen Vorteil für die am wenigsten begünstig­ten Gesell­schaftsmitglieder auswirken.

Die Begründung dafür ist grob folgende: In einem Zustand, in dem sich Ungleichheiten zu jedermanns Vorteil auswirken, kann jeder nur dazu gewinnen und keiner verlieren. Man stelle sich vor, dass man im "Urzustand hinter dem Schleier des Nichtwissens" sich für ein Wirtschaftssystem und die daraus resultierende Verteilung von Einkommen und Wohlstand entscheiden sollte. Dann würde man, wenn man zu hohes Risiko meidet, einen Zustand der beschränkten finanziellen Ungleichheit wählen, in der jede Person an Wohlstand dazu gewinnt. Denn man würde diesen Zustand erstens einem vorziehen, in dem zwar Gleichheit an Wohlstand herrscht, in dem aber weniger Wohlstand für jeden Einzelnen erreicht wird, weil es keine Anreize für größeres wirtschaftliches Bemühen gibt. In einem solchen Zustand würde man sich also sicher schlechterstellen.

Zweitens würde man sich aber auch nicht für unbegrenzte Ungleichheit und damit eine enorme Spreizung des finanziellen Wohlstands zwischen den Bessergestellten und den am Schlechtgestelltesten aussprechen, auch wenn gemäß einer oft bemühten, aber sehr umstrittenen Annahme der Wohlstand der Bessergestellten nach unten durchsickern sollte und damit auch die den am Schlechtgestelltesten profitieren. Das Risiko einzugehen, in dieser Gesellschaft auf der Position des am Schlechtgestelltesten zu landen, ist unvernünftig.

Liberal-egalitäres Denken wird zum dominanten Paradigma

Gegen dieses neoliberale Prinzip will Rawls sein Differenzprinzip (liberal)sozialistischer verstanden wissen: Die schlechtgestelltesten Gruppe in einer Gesellschaft kann ihr Veto einlegen, wenn ihre Interessen übergangen zu werden drohen. Dadurch soll die Grundstruktur einer Gesellschaft, mittels derer sie ihre Grundgüter hervorbringt und verteilt, von vornherein so eingerichtet werden, dass möglichst wenig ungerechtfertigte Ungleichheiten entstehen. So favorisiert Rawls eine "Demokratie mit Privateigentum", in der Eigentum und Kontrolle weit gestreut sind. Ein soziales System der Kooperation muss in den Augen von Rawls die Zufälligkeiten, die das Leben der Bürger zum Guten oder Schlechten verändern – etwa die Klasse ihrer Herkunft oder ihre angeborenen Begabungen –, so weit wie möglich ausgleichen.

Damit hat Rawls in seiner Theorie den politischen Liberalismus mit dem sozialen Egalitarismus zusammengeführt. Mit Hegel könnte man sagen, Rawls hat damit seine Zeit in Gedanken gefasst. Durch Rawls Einfluss in der anglo-europäischen Welt kam es dazu, dass das liberal-egalitäre Denken in Sinne des Individualismus, der Gerechtigkeit, der Freiheit und Gleichheit gegen den Marxismus und den (Post-)Strukturalismus zum dominanten Paradigma in der politischen Philosophie wurde. Wer politische Philosophie – selbst in der nicht-westlichen Welt – heute betreibt, kann mit ihm oder gegen ihn, in der Regel aber nicht ohne ihn denken. Der politische Liberalismus schien nach dem Fall der Mauer als alleiniger Sieger dazustehen. Inzwischen wird er von vielen Seiten – wie etwa Populismus und Autoritarismus - angefochten. In dieser Zeit sollten und können wir Rawls Erbe nutzen, um den liberalen Rechtsstaat mit starker Demokratie und sozialer Umverteilung beziehungsweise Absicherung auch intellektuell zu verteidigen.