Symbolbild: aufgeschlagenes Buch
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Rezension
"Vernunft hält Abstand"

In seinem Buch "Nichtrechthabenwollen" regt Martin Seel zu Gedankenspielen an. Der Philosoph hält Distanz zur eigenen Disziplin und denkt ohne System.

Von Eva-Maria Engelen 12.05.2019

An Martin Seels neuem Buch gäbe es sicherlich einiges zu kritisieren. Dennoch handelt es sich bei dem schmalen Bändchen um eine wichtige Neuerscheinung. In dem Skizzenbuch legt Seel dar, warum er zu dem Genre des rechtfertigenden Denkens Distanz halten möchte und sich dem vagabundierenden widmet. Das ist für den professionellen Philosophen nicht ohne Risiko, halten doch die meisten Kollegen und Kolleginnen "unsystematisches" Philosophieren, das weder ein geschlossenes Lehrgebäude anstrebt noch theoretische Positionen hervorbringt, gar nicht erst für einen Beitrag zu ihrer Disziplin.

Dennoch kreist der Band um die Beantwortung der Frage, warum mäanderndes Denken für Philosophen von Bedeutung ist und warum es zumindest ebenso wichtig sein kann, sich Gedankenspielen hinzugeben wie in den Besitz der Wahrheit zu gelangen, obgleich oder weil man diese Art Spiel nicht gewinnen kann.

Distanz zur eigenen Disziplin einnehmen

Seel begnügt sich nicht damit, berühmte Gegenbeispiele zu der angesprochenen Ansicht seiner Fachkollegen zu benennen, sondern regt zur Reflexion über das Denken an. Diejenige seiner Überlegungen, die besonders zu überzeugen vermag, lautet: "Vernunft hält Abstand". Ein solcher Gedanke geht in einer zunehmend szientistisch betriebenen Philosophie nicht zuletzt deshalb verloren, weil deren Ausdrucksformen durch Vorgaben von Fachzeitschriften und Peer-Reviews uniformiert und standardisiert werden.

Formate, welche es erlauben, in anderen Zusammenhängen als denen zu reflektieren, die für eine akademische Laufbahn erforderlich sind, verschwinden auf diese Weise und damit die Chance, Distanz zur eigenen Disziplin einzunehmen. Mithin wird die Möglichkeit beschnitten, zu seinem Tun schreibend Abstand zu nehmen und nicht nur das einzelne fachspezifische Argument, sondern das Ganze überblicken zu können. Letzteres ist jedoch immer wieder einmal erforderlich, um das Denken vital zu halten. Das droht in Vergessenheit zu geraten, doch das Buch von Seel erinnert daran.

Cover des Buches "Nichtrechthabenwollen" von Martin Seel

Martin Seel: Nichtrechthabenwollen. Gedankenspiele. Verlag S. Fischer Wissenschaft, 2018, 18 Euro.