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Serie: 25 Jahre Forschung & Lehre
Vom "Drang" verstehen zu wollen

Der Erfolg des Bildungssystems wird vor allem an Bildungsabschlüssen gemessen. Dabei geht etwas Entscheidendes verloren, sagt unsere Autorin.

Von Susanne Lin-Klitzing 14.03.2019

Bildung. Mein Lebensthema. Existenziell. In ständiger Weiterentwicklung begriffen. Als überflüssig und ärgerlich betrachte ich die Debatten um die angebliche Gegensätzlichkeit von Inhalten oder Lernzielen, Inhalts- oder Kompetenzvermittlung, Fachwissen oder Schlüsselproblemen. Das eine geht vernünftig nie ohne das andere, beide hängen voneinander ab.

Bildung mit (möglichst hohem) Bildungsabschluss gleichzusetzen, das kritisiere ich: Als wäre der Erfolg unseres Bildungssystems ausschließlich an Bildungsabschlussquoten zu messen.  Fundamental notwendig für den subjektiven Bildungsprozess erscheint mir der eigene "Drang", die Unerbittlichkeit, verstehen zu wollen. Dies bewirkt die Veränderung der eigenen Persönlichkeit.

So lernte ich ausgewählte Gegenstände in der Schule kennen, reifte an Inhalten, die persönlich bedeutsam wur­den. So geschah es im Deutschunterricht, beim Lesen und gemeinsamen Interpretieren der Antigone von Sophokles, einer selbstbewussten jungen Frau in der Antike, im Ver­gleich mit der eher pubertären Antigone in der Fassung von Jean Anouilh.

Klar, dass ich mich eher mit der sophokleischen Antigone identifizierte. Oder beim Lesen und gemeinsamen Interpretieren von Nathan dem Weisen, um aus der Ringparabel zu lernen, dass Religionen säkular daran gemessen werden sollten, was sie tatsächlich in dieser Welt bewirken.

Meine Deutschlehrerin forderte eine intensive persönliche Auseinandersetzung mit diesen Unterrichtsgegenständen ein. Später war es mir selbst als Deutschlehrerin wichtig, dass meine Schüler bei der "Erörterung" sachangemessene Pro- und Kontraargumente darlegen, diese einander gegenüberstellen und an Beispielen deutlich machen konnten.

Reifung und Persönlichkeitsentwicklung durch Bildung

Darüber hinaus sollten sie abschließend einerseits distanziert und reflektiert abwägen, andererseits aber auch begründete persönliche Wertenscheidungen treffen. Zum Verständnis von Bildung als Reifung und Persönlichkeitsentwicklung anhand ausgewählter Bildungsinhalte trat, auf der Basis von Einstellungen, erworbenem Wissen und Können, also der reflektierte und distanzierte Umgang mit sich selbst und der uns umgebenden Welt hinzu.

Mein Doktorvater, der große Wolfgang Klafki, erweiterte dieses Bildungsverständnis noch mit seiner Vorstellung kategorialer Bildung und kritisch-konstruktiver Didaktik: Er verstand Bildung als zunehmende Selbstbestimmungs-, Mitbestimmungs- und Solidaritätsfähigkeit, erworben in der Aus­ein­andersetzung mit epochaltypischen Schlüsselproblemen, auf der Basis von Fachwissen. Hier ging es zentral um die Übernahme von Verantwortung für sich selbst, die Nächsten und die Welt.

Dies veränderte mich und meinen Unterricht: über die begründete Auswahl von relevanten Bildungsinhalten für den Erwerb von Selbstbestimmungs-, Mitbestimmungs- und Solidaritätsfähigkeit hinaus wurde didaktisch-methodisch relevant, dass Schüler und Studierende zunehmend selbst Verantwortung für die Vermittlung von Unterrichtsinhalten übernehmen sollten.

Dieses Verständnis findet sich erfreulicherweise auch in einem Beschluss der Kultusministerkonferenz: "Der Auftrag der schulischen Bildung (...) zielt auf Persönlichkeitsentwicklung und Weltorientierung, die sich aus der Begegnung mit zentralen Gegenständen unserer Kultur ergeben. Schülerinnen und Schüler sollen zu mündigen Bürgerinnen und Bürgern erzogen werden, die verantwortungsvoll, selbstkritisch und konstruktiv ihr berufliches und pri­va­tes Leben gestalten und am politischen und gesellschaftlichen Leben teilnehmen können." Wenn Schule so agiert, dann ist mir um die Bildung unserer Schüler nicht bange.