Graffiti eines Trabis, der durch die Berliner Mauer bricht
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Weltgeschichte
Vor 30 Jahren fiel die Mauer

Deutschland blickt auf die Grenzöffnung der DDR. Damals wurde die Trennung von Ost und West überwunden. Doch wie geht es weiter?

Von Jutta Schütz 09.11.2019

Ungläubig gestammelt oder freudetrunken geschrien – "Wahnsinn" ist bei Tausenden das Wort dieser historischen Nacht vor 30 Jahren. Am 9. November 1989 fällt die Mauer, die Deutsche in Ost und West 28 Jahre, 2 Monate und 28 Tage voneinander trennte. Die Sensation, fast beiläufig in Ost-Berlin verkündet, macht schnell die Runde: Als die Schlagbäume hochgehen und die Massen in den Westen strömen, gibt es kein Halten mehr.

Wer in Berlin dabei ist, erlebt Weltgeschichte. Die Bilder, wie am Brandenburger Tor oben auf der Mauer getanzt wird und die DDR-Grenzschützer zusehen, gehen um die Welt. Doch am vielleicht glücklichsten Tag der jüngeren deutschen Geschichte liegen sich auch anderswo in der Bundesrepublik und DDR die Menschen ungläubig in den Armen, werden Wachposten geküsst, sind Freude und Jubel grenzenlos.

Heute ist vieles anders, es scheint, als würden Welten zwischen Damals und Jetzt liegen. Noch zum 25. Jahrestag des Mauerfalls 2014 war die Stimmung unbeschwerter, gelassener.

Doch dann kamen Flüchtlingskrise, AfD, verstärkte Angriffe auf die Demokratie, Hass und Pöbeleien, der Mord an einem Kommunalpolitiker. Es gibt Ostdeutsche, die sich abgehängt fühlen, und Westdeutsche mit Unverständnis. Laut einer Umfrage finden nur 38 Prozent der Ostdeutschen die Wiedervereinigung gelungen. Das Gefühl, Bürger zweiter Klasse zu sein, ist bei vielen noch da. Nach Gräben, die schmaler werden, sieht es nicht aus.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mahnt denn auch die Politik: "Lasst diese Leute mit ihren Sorgen und Nöten nicht allein. Nehmt ihre Probleme ernst und kümmert Euch", appelliert er in Leipzig bei einer Erinnerung an die große Montagsdemonstration vom 9. Oktober 1989.

Aufgeladene Stimmung im Sommer 89

Im Sommer und Herbst 1989 haben viele Ostdeutsche das Gefühl, dass es so nicht mehr weitergeht in der DDR: die Staatsführung erstarrt, Demonstrationen, Massenfluchten von DDR-Bürgern über die bundesdeutschen Botschaften in Prag, Warschau und Budapest, der Sturz des DDR-Staats- und Parteichefs Erich Honecker. Noch heute sagen viele, es sei ein Wunder gewesen, dass in dieser aufgeladenen Atmosphäre kein einziger Schuss fiel.

Die Grenzöffnung verkündet das SED-Politbüromitglied Günter Schabowski auf einer Pressekonferenz kurz vor 19.00 Uhr, offensichtlich nicht ganz so beabsichtigt. "Das tritt nach meiner Kenntnis... ist das sofort... unverzüglich", stammelt er in die laufenden Kameras. Die Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer.

Auch Egon Krenz, erst seit drei Wochen Generalsekretär der DDR-Einheitspartei SED, wird von den Ereignissen überrascht. Nach seiner Erinnerung bekommt er anderthalb Stunden nach Schabowskis Pressekonferenz von Staatssicherheits-Minister Erich Mielke die Information, dass sich viele Menschen in Richtung Grenze bewegen.

Nach Darstellung des Ex-Politfunktionärs gab es eigentlich einen anderen Plan. Am Morgen des 10. November wäre demnach eine neue DDR-Reiseverordnung in Kraft getreten, dann sollten auch die Grenzübergänge geöffnet werden. Doch Schabowski habe versehentlich alles vorverlegt. Dieser wiederum bestritt bis zu seinem Tod 2015 diese Version.

Die Nacht der Nächte in Berlin

An der Bornholmer Straße, zwischen Prenzlauer Berg und Wedding, ist in der Nacht der Nächte der Andrang am größten. Die Leute wollen "rüber". Die Grenzsoldaten sind ratlos. Befehle von oben gibt es nicht. Schließlich entscheidet Stasi-Oberstleutnant Harald Jäger selbst: Schlagbaum hoch.

Angela Merkel ist damals 35, Physikerin und wie jeden Donnerstag in der Sauna. Als sie herauskommt, ist der Zug gen Westen bereits in Gang. Mit vielen Tausend anderen marschiert die heutige Kanzlerin über die Bornholmer Brücke. In irgendeiner Wohnung bekommt sie ihr erstes West-Bier. "Ich weiß noch, so ein Büchsenbier – das war mir sonst nicht so vertraut."

In den kommenden Tagen ist der Westteil Berlins im Ausnahmezustand und Walter Momper als Regierender Bürgermeister mittendrin. Der Kurfürstendamm, das Sehnsuchtsziel vieler, wird von Ossis geflutet. "Eine Million Besucher waren am 10. November da", sagt der SPD-Mann.

Heute gilt Berlin als Stadt der Freiheit, von der Mauer gibt es nur noch wenig zu sehen. Ein Pflasterstreifen erinnert an den einstigen Verlauf des Grenzwalls – von Touristen oft gar nicht bemerkt. An der Bernauer Straße entstand auf dem früheren Todesstreifen eine Erinnerungslandschaft mit originalen Mauerteilen. Nur am einstigen Grenzkontrollpunkt Checkpoint Charlie an der Friedrichstraße wird nach wie vor um eine würdige Erinnerung gestritten. Noch nicht einmal begonnen hat der Bau eines Einheitsdenkmals in Berlin.

Inzwischen ist eine Generation erwachsen, die sich Teilung, Kalten Krieg und mindestens 140 Tote an der Berliner Mauer kaum mehr vorstellen kann. Manche jungen Besucher der East Side Gallery machen Selfies vor den bunten Bildern, ohne richtig zu wissen, dass die meterhohen Betonwände zu den DDR-Grenzanlagen gehörten, die erst nach dem Mauerfall aus Freude bemalt wurden.

dpa