Professor Dr. Thomas Naumann
privat

Standpunkt
Wahrheit und Schönheit

Naturwissenschaftler wollen die Natur begreifen. Dabei sind Wahrheit und Schönheit wichtige Antriebe.

Von Thomas Naumann 15.09.2018

Ein Gespenst geht um – nicht nur in Europa: fake news. Es verdunkelt das Licht der Aufklärung, des Enlightenments, dieser großen Errungenschaft der Moderne. Sie hob die Vernunft auf den Altar und erklärte sie zum Maßstab der Wahrheit. "Was ist Wahrheit?" fragten wir deshalb hier vor einem Jahr und fragen heute: "Ist Wahrheit schön – und Schönheit wahr?"

In der Kunst sind Wahrheit und Schönheit subjektiv und liegen im Auge des Betrachters. In der Wissenschaft jedoch ist die Natur das Kriterium der Wahrheit. Trotzdem war und ist für viele Forscher Schönheit ein wichtiges Motiv bei ihrer Suche nach Wahrheit.

So pries Kepler in seinem "Mysterium Cosmographicum" und den "Harmonices Mundi" seine Gesetze als Ausdruck der Schönheit von Gottes Schöpfung. Ludwig Boltzmann leitete 1893 sein Lehrbuch über Maxwells Theorie des Elektromagnetismus mit Fausts Frage ein: "War es ein Gott, der diese Zeichen schrieb?" Und Heisenberg antwortete auf Einsteins Frage, warum er glaube, die Quantenmechanik sei richtig: "Wenn man durch die Natur auf mathematische Formen von großer Einfachheit und Schönheit geführt wird…, so kann man eben nicht umhin zu glauben, dass sie ,wahr‘ sind."

Auch Paul Dirac, Mitbegründer der Quantenphysik, schrieb: "Fundamental physical laws are described in terms of a mathematical theory of great beauty and power."

Schönheit hat uns also oft zur Wahrheit geführt. Wir sollten uns aber nicht von ihr verführen lassen. Zu schön, um nicht wahr zu sein – so verteidigte Einstein einmal seine Allgemeine Relativitätstheorie gegen eine am Ende falsche Messung. Als Hermann Weyl und er allerdings versuchten, sie mit dem Elektromagnetismus zu vereinigen, scheiterten sie. Das letzte Wort hat die Natur selbst.

Wahrheit kann kompliziert sein und die Natur komplex. Schönheit, Harmonie, Einfachheit, Symmetrie und Ordnung sind nur unsere Abbilder der Realität, nicht die Realität selbst.
Der amerikanische Nobelpreisträger Murray Gell-Mann sagte 2007: "Beauty is a very successful criterion for selecting the right theory." Auch sein Nobelpreis-Kollege Frank Wilczek äußerte sich oft zum Verhältnis von Wahrheit und Schönheit: "The beauty of physical law is too impressive to be accidental" und "We have an ‚anthropic‘ explanation of the laws’ beauty: If they were not beautiful, we would not have found them."

Am Large Hadron Collider LHC des CERN suchen wir nach Theorien von großer Schönheit wie Supersymmetrie, Superstrings oder Extra Dimensionen. Aber wir müssen dabei offen bleiben für Wahrheiten, die nicht auf den ersten Blick schön sind. Expect the unexpected!

Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer. Dieser Alptraum quälte schon Goya. Nutzen wir deshalb die Kraft von Wahrheit und Schönheit, um mit dem Licht der Aufklärung die Natur zu erkennen – und um die Gespenster von Lüge und Dummheit zu vertreiben!