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Standpunkt
Wahrheitswert der Wissenschaft gefährdet

Die Zwänge des Wissenschaftssystems versperren den Blick auf die großen Fragen der Gesellschaft. Das schreibt eine Initiatorin des March for Science.

Von Tanja Gabriele Baudson 07.08.2018

Wissenschaft strebt nach möglichst objektiver Erkenntnis, geleitet von ihrem zentralen Wert: der Wahrheit. Davon abzugrenzen ist das Wissenschaftssystem. Seine Anreizstrukturen tragen nicht unbedingt dazu bei, diesem Wahrheitsanspruch gerecht zu werden. Replikationskrisen, Korrekturen von mit zu heißer Nadel gestrickten Artikeln, nun gar Befunde zu "Junk Science" in einem Ausmaß, das alle bisherigen Ahnungen übersteigt – die Hinweise verdichten sich, dass wir mit diesem Wert leichtfertig umgehen.

Wahrheitsfindung erfordert Freiheit und Kooperation. Gerade der wissenschaftliche Nachwuchs erfährt hier massive Einschränkungen. Das System misst wissenschaftlichen Erfolg und somit Chancen auf eine der wenigen Professuren, die einem die Freiheit endlich ermöglichen, einseitig an quantifizierbaren Indikatoren.

Drittmittel verleihen zwar durchaus Freiheit, um eigene Forschungsideen zu realisieren. Wenn diese Möglichkeit jedoch zum Muss wird (etwa, um bestimmte quantitative "Leistungsindikatoren" zu erfüllen), beschränkt das die Freiheit. Und ist die Fähigkeit zum Geldeinwerben tatsächlich ein Kriterium, an dem sich wissenschaftliche Qualität bemisst? Der Druck, Veröffentlichungen hervorzubringen, wird nicht nur von "Pseudo-Journals" lukrativ ausgenutzt; auch für den Blick auf das große Ganze ist das alleinige Ziel, die Publikationsliste zu verlängen, eher hinderlich. Wer zu sehr damit beschäftigt ist, die Rotationszahl des Hamsterrades zu steigern, kommt möglicherweise gar nicht mehr auf die Idee zu hinterfragen, wohin dies eigentlich führt.

Vorläufigkeit und Unsicherheit kein Grund zur Verzweiflung

Das große Ganze: das sind die komplexen Herausforderungen unserer Gesellschaft. Wie gehen wir mit der Zerstörung unserer Umwelt, Migration, Klimawandel um? Was setzen wir Populistinnen und Populisten entgegen, die schamlos Lügen verbreiten, um Forschung, Journalismus, Politik und Kunst zu diskreditieren, die Spaltung der Gesellschaft voranzutreiben und funktionierende Demokratien zu destabilisieren – die Staatsform, die eine freie Forschung möglich macht wie keine andere?

Ein integres, wertebasiertes Wissenschaftssystem kann Vertrauen schaffen: einerseits, weil die (stets vorläufigen) Produkte wissenschaftlichen Erkenntnisstrebens auf nachvollziehbaren Methoden basieren und somit aussagekräftiger sind als bloße Meinungen; andererseits, weil der Prozess des Erkenntnisstrebens selbst zeigt, dass Vorläufigkeit und Unsicherheit umso geläufiger sind, je größer die Herausforderungen sind – dass das aber kein Grund zur Verzweiflung ist, weil man dank anderer Menschen, die am selben Strang ziehen, mit der Lösungssuche nicht allein ist. Und dass man auch Fehler machen darf, eben weil das Selbstkorrektiv funktioniert.

Wenn es uns gelingt, diese Grundprinzipien wissenschaftlicher Arbeit im gesellschaftlichen und politischen Diskurs zu verankern, hätten wir nicht nur ein schlüssiges Handlungsmodell. Es gelänge so nebenbei auch, die einfachen Lösungen des Populismus als das zu entlarven, was sie sind: politisch motivierte Lügen. Es ist Zeit, dass wir uns als "scientific community" beweisen, indem wir mehr Verantwortung für die nachhaltige Lösung großer Herausforderungen übernehmen, statt Impact mehr oder weniger ausschließlich an systemimmanenten Kriterien zu bemessen, die in der Welt da draußen keine Relevanz haben.