Olympia 2020/21: Das olympische Feuer bei der Eröffnungsfeier im Olympiastadion in Tokio.
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Olympia 2020/21
Warum die Olympischen Spiele in Tokio stattfinden mussten

Dass Olympia inmitten der Pandemie stattfindet, wird viel kritisiert. Warum eine Absage nicht infrage kam, erklärt ein Sporthistoriker.

Von Michael Krüger 29.07.2021

Zum ersten Mal in der Geschichte der Olympischen Spiele wurde dieses Weltfest des Sports und der Jugend wegen einer Pandemie um ein Jahr verschoben. Die Spiele fanden nicht 2020 statt, wie dies der olympische Rhythmus vorsah, sondern erst ein Jahr später unter außergewöhnlichen Rahmenbedingungen: ohne Zuschauer aus aller Welt, vor fast vollkommen leeren Rängen in den riesigen Sportstätten und im neu errichteten Olympiastadion von Tokio. Die einzelnen Mannschaften aus den 205 teilnehmenden Nationen bleiben gemäß dem vom Organisationskomitee und dem Internationalen Olympischen Komitee (IOC) beschlossenen Hygiene-Konzept ("Bubble"-Konzept) als geschlossene Gruppen unter sich, Kontakte werden auf das Nötigste reduziert, Begegnungen im Olympischen Dorf, wo sich sonst die Jugend der Welt vor und nach den Wettkämpfen begegnen sollte, können kaum stattfinden, Freude und Begeisterung wollen zumindest in der japanischen Öffentlichkeit und auch beim internationalen Publikum nicht auf kommen. Gleichwohl zeigen sich viele der teilnehmenden Athletinnen und Athleten trotz aller Einschränkungen glücklich, dass sie nun bei Olympischen Spielen dabei sein können.

"Japan setzte bis zuletzt Hoffnungen in die Spiele."

Wäre es angesichts dieser deprimierenden Umstände nicht besser gewesen, die Spiele abzusagen?

Die Entscheidung des Internationalen Olympischen Komitees, das die Rechte an den Spielen besitzt, und seines Präsidenten Thomas Bach, die Olympischen Sommerspiele in Tokio trotz aller Widrigkeiten durchzuführen, wurde verständlicherweise scharf kritisiert – überall in der Welt, vor allem aber in Japan selbst. Als die Spiele 2013 nach Tokio vergeben wurden, war ganz Japan begeistert. Freude und Erwartung waren groß, dass sie dazu beitragen könnten, Japan wieder an die Spitze des Fortschritts in der Welt zurückzuführen, nachdem 2011 die Katastrophe von Fukushima das Land nicht nur in eine schwere ökologische, sondern auch politische, gesellschaftliche und ökonomische Krise gestürzt hatte. In Deutschland sind in den letzten Jahren und Jahrzehnten alle Bewerbungen um die Austragung Olympischer Spiele – sommers wie winters – gescheitert, während Japan bis zuletzt Hoffnungen in die Spiele setzte.

"Die Spiele sind wichtiger als die Idee"

Die Gründe für das hartnäckige Festhalten des IOC, des Organisationskomitees für Spiele in Japan und nicht zuletzt der japanischen Regierung an der Durchführung der Spiele werden in der kritischen Presse meistens in der Geldgier und Ruhmsucht von Funktionären aus Sport, Medien, Wirtschaft und Politik gesucht. Darüber hinaus darf man jedoch die ideelle und historische Dimension dieser Entscheidung nicht außer Acht lassen.

"Die Spiele sind wichtiger als die Idee", sagte einst der Präsident des Organisationskomitees für die Olympischen Sommerspiele in München, Willi Daume. Als beim Attentat palästinensischer Terroristen in München 1972 alle israelischen Geiseln und ein deutscher Polizist ermordet worden waren, gehörte er zu denjenigen, die die Spiele abbrechen wollten. Er musste sich jedoch der Entscheidung des damaligen IOC-Präsidenten Avery Brundage beugen, der auf der Trauerfeier für die Opfer des Attentats den legendären Satz prägte: "The Games must go on". Beide Sätze besagen jedoch dasselbe: Die Spiele müssen stattfinden, wenn ihre Botschaft verstanden werden soll.

Die Spiele sind die Idee. Sie besagt nach den Worten ihres Erfinders Pierre de Coubertin, dass die Olympischen Spiele wie in der Antike "dem jugendlichen Erwachsenen zu Ehren" durchgeführt werden, wie Coubertin ein Jahr vor den Olympischen Sommerspielen von Berlin 1936 in einer weltweit ausgestrahlten Rundfunksendung erklärte. "Der menschliche Frühling drückt sich in dem jugendlichen Erwachsenen aus, vergleichbar einer kostbaren Maschine, deren Räderwerk gerade fertiggestellt ist und die im Begriff ist, in volle Bewegung zu treten. Diesem jugendlichen Erwachsenen zu Ehren müssen die Olympischen Spiele gefeiert und ihr Rhythmus aufrechterhalten werden, weil von ihm die nahe Zukunft und die harmonische Verkettung der Vergangenheit mit der Zukunft abhängt."

Und schließlich: "Wie könnte man ihn (den jugendlichen Erwachsenen) besser ehren, als dadurch, dass man seinetwegen in regelmäßig festgesetzten Abständen das vorübergehende Aufhören aller Streitigkeiten, Meinungsverschiedenheiten und Missverständnisse verkündet!"

Japan und Deutschland nehmen olympische Sonderrollen ein 

Wegen Deutschland und Japan ist mehrfach dieses Fest zu Ehren der Jugend ausgefallen: 1916 in Berlin wegen des Ersten Weltkriegs, an dem Deutschland erhebliche Schuld trug, und schließlich 1940 in Tokio, als die Spiele wegen des Zweiten Weltkriegs abgesagt werden mussten. Für 1944 wurden keine Spiele offiziell vom IOC vergeben. Die Hauptschuld für den Krieg als Ursache der Unterbrechung des olympischen Rhythmus trugen das NS-Regime und die japanische Regierung unter Kaiser Hirohito, die den pazifischen Krieg zu verantworten hatten. Unter den Millionen von Opfern waren nicht zuletzt die "jugendlichen Erwachsenen", denen zu Ehren Olympische Spiele hätten gefeiert werden sollen. Der Rhythmus der Spiele wurde fortgesetzt, die Feiern fielen jedoch aus.

Nach dem Zweiten Weltkrieg sollten die Spiele nicht noch einmal ausfallen, schon gar nicht wegen Japan und Deutschland. Beide Mächte, deren Athletinnen und Athleten erst wieder 1952 bei den Winterspielen in Oslo und den Sommerspielen in Helsinki zu Olympischen Spielen zugelassen wurden, entwickelten sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu Musterschülern der olympischen Bewegung. 2013 wurde mit Thomas Bach erstmals ein deutscher Funktionär und Olympiasieger zum IOC-Präsidenten gewählt – ein Amt, das in seiner Bedeutung für die olympische Bewegung durchaus mit dem des Papstes in der katholischen Kirche vergleichbar ist. Sowohl die Olympischen Spiele von Tokio 1964 als auch die von München 1972 setzten Maßstäbe in der sportlichen, ästhetischen und medialen Präsentation moderner Olympischer Spiele. Den Japanerinnen und Japanern ist es 1964 gelungen, Sportarten und Bewegungskulturen in den olympischen Sport zu implementieren, die an asiatische Traditionen der Körperkultur anknüpfen, angefangen vom Judo bis zum japanischen Kunstturnen, in dem sich in besonderer Weise japanische Bewegungsästhetik, Eleganz und Spiritualität ausdrücken.

"Die Pandemiespiele werden neben den Spielen von München wohl als die traurigsten und denkwürdigsten Spiele aller Zeiten in die Geschichte des Sports eingehen."

Die Öffnung der Spiele für neue Sportarten sowie technische und ästhetische Innovationen hätte 2020 ein Markenzeichen der Spiele von Tokio werden können, wenn es nicht ein Jahr später Pandemiespiele geworden wären. Sie werden neben den Spielen von München wohl als die traurigsten und denkwürdigsten Spiele aller Zeiten in die Geschichte des Sports eingehen. Deshalb stellt sich am Ende die Frage erneut, ob es denn richtig war, die Spiele durchzuführen: War es eine "Feier" zu Ehren der "jugendlichen Erwachsenen"? Das Wort "Feier" hat der Tenno beim Sprechen der vorgeschriebenen Formel zur Eröffnung der Spiele übrigens weggelassen. War es ein Fest, bei dem neben "citius, altius, fortius" (zu deutsch: "schneller, höher, stärker") auch Solidarität und Gemeinschaft sichtbar wurde, wie es sich Thomas Bach gewünscht hatte? Das IOC hatte auf seiner Sitzung in Tokio beschlossen, in der Olympischen Charta das klassische Motto der Spiele durch "communiter" (zu deutsch: "gemeinsam") zu ergänzen. Haben die Spiele mehr Frieden für die Welt gebracht? Haben sie die Menschen einander nähergebracht – trotz Mundmaske, Hygieneregeln und Kontaktbeschränkungen?

Olympia Tokio 2020

Die aktuellen Olympischen Sommerspiele finden vom 23. Juli bis zum 8. August 2021 in der japanischen Hauptstadt Tokio statt. Die ursprünglich vom 24. Juli bis 9. August 2020 geplanten Spiele wurden wegen der Corona-Pandemie um ein Jahr verschoben.