Georg Wilhelm Friedrich Hegel
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250. Geburtstag
Warum Hegel uns noch heute viel zu sagen hat

Georg Wilhelm Friedrich Hegel gehört zu den Größen der Philosophiegeschichte. Ein Interview über Schriften und Gedanken zum 250. Geburtstag.

Von Friederike Invernizzi 26.08.2020

Forschung & Lehre: Herr Professor Vieweg, Sie beschreiben Hegel in Ihrer jüngst erschienenen Biographie als einen "schwäbischen Teufelsdenker"….

Klaus Vieweg: Teuflisch meint hier erstens die intellektuelle Faszination des Hegelschen Denkens. Zweitens wird auf die besondere Relevanz des Gedanken der Negativität in Hegels Philosophie angespielt. Mit den Worten von Goethes Mephisto: 'Was ihr das Negative nennt, ist mein eigentlich Element'.

F&L: Hegel gilt für Sie als "Philosoph der Freiheit", so der Untertitel Ihres Buches. Was verbinden Sie damit?

Klaus Vieweg: Das Credo von Hegels kann knapp gefasst lauten: "Freiheit denken". Sein Anliegen bestand in der Entwicklung einer Wissenschaft der Vernunft als Wissenschaft der Freiheit, die Begriffe Vernunft und Freiheit stehen im Zentrum seiner Systemarchitektur. Kurz und knapp darf von einer innovativen philosophischen Theorie freien Denkens und freien Handelns gesprochen werden. Es geht um die Begründung der Freiheit aller Menschen in einer modernen Gesellschaft.

F&L: Welche Bedeutung hat Hegels Begriff von Freiheit heute?

Klaus Vieweg: Hegel verknüpfte Vernunft und Freiheit. Er betonte die notwendige Unterscheidung des bloßen Wählens von Alternativen des Handelns und Freiheit als durchdachter Wahl. Heute wird oft nicht präzise zwischen Freiheit und Auswählen von Varianten unseres Tuns unterschieden. Es herrscht die unhaltbare Meinung, die Freiheit überhaupt sei dies, dass man tun könne, was man wolle – "wie es euch gefällt". Nur dann wären Terror oder Mord auch freies Handeln, da handelt auch jemand, weil er so will. Schwierig zu erklären ist Hegels Definition von Freiheit als Bei-sich-selbst-sein-können im Anderen seiner selbst, etwa in der Form von Freundschaft, Liebe oder anderen größeren Gemeinschaften, in denen der Einzelne Anerkennung findet und somit bei sich selbst sein, frei sein kann.

Professor Klaus Vieweg
Klaus Vieweg ist Professor für Philosophie an der Friedrich Schiller-Universität Jena und Autor der kürzlich erschienenen Biografie "Hegel. Der Philosoph der Freiheit". privat

F&L: Hegel hat stets eine Anstrengung des Denkens gefordert. Was können wir aus seiner Kritik am oberflächlichen Denken und leichtfertigen Absinken in fundamentale Positionen für uns mitnehmen?

Klaus Vieweg: Eine Art von Oberflächlichkeit und unzulässiger Vereinfachung liegt im (leider) dominierenden Relativismus in der Philosophie, einem 'Weichspülen' der Philosophie als Wissenschaft. Man solle auf Wahrheit verzichten, es wird behauptet, dass heute dies wahr sein kann, morgen etwas anderes und übermorgen wieder anderes, bis hin zum St. Nimmerleinstag. Das Dogma 'Alles Wissen ist relativ' avancierte teilweise zum Evangelium, beispielweise im sogenannten Kulturrelativismus, der die prinzipielle Verschiedenheit der Kulturen unterstellt, es gebe nichts wesentlich Gemeinsames von Kulturen. In dieser Kultur gelte dies, in einer anderen etwas davon Verschiedenes. Nur die Relativität betrifft (leider Gottes) auch das Dogma der Relativisten, auch ihren 'heiligen' Satz. So ist doch die Behauptung "Alles Wissen ist relativ", die das Wort "alles" enthält, auch ein Wissensanspruch. Damit muss er, wie alle anderen Sätze, auch selbst relativiert werden. Verschiedenheit oder Differenz ist nicht ohne Einheit zu denken. Bloßes Meinen, subjektives Fürwahrhalten oder Überzeugung sind kein ausreichendes Fundament für Wissen.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel

Georg Wilhelm Friedrich Hegel wurde am 27. August 1770 geboren und starb am 14. November 1831 in Berlin. Nach Kindheit und Jugend in Stuttgart studierte er Theologie und Philosophie gemeinsam mit Hölderlin und Schelling in Tübingen. Dann ging der junge Philosoph zunächst als Hofmeister nach Bern und nach Frankfurt am Main. Die akademische Laufbahn begann mit einer Privatdozentur in Jena. Nach zwei Stationen in Franken erhielt er einen Ruf nach Heidelberg. 1818 wurde Hegel Nachfolger auf dem Lehrstuhl von Johann Gottlieb Fichte in Berlin, wo er zum bedeutendsten Philosophen des 19. Jahrhunderts aufstieg.

Hegel gilt als Vollender des deutschen Idealismus. Die Französische Revolution war das sein Leben und Denken prägende Ereignis. Das Motiv der Freiheit durchzieht seinen gesamten Denk- und Lebensweg. Zu seinen bedeutendsten Werken gehören die "Phänomenologie des Geistes" oder die "Grundlinien der Philosophie des Rechts". Sie zählen zu den wirkmächtigsten Werken der neueren Philosophiegeschichte.

F&L: Hegel hat sich auch mit dem Begriff des "Marktes" auseinandergesetzt. Sehen Sie in ihm einen erstem Kritiker des "Marktoptimismus"?

Klaus Vieweg: Ein wichtiges Moment unserer Zeit ist das offenkundige Scheitern der marktfundamentalistischen, neoliberalen Variante des Kapitalismus, nicht des Kapitalismus überhaupt. Der Markt – obschon er eine der unverzichtbaren Grundlagen für eine freie Gemeinschaft bildet – kann von seiner Bestimmtheit her eben nicht allein eine vernünftige Struktur generieren, sondern muss reguliert und vernünftig gestaltet werden. Der Markt muss vor sich selbst geschützt werden, sonst vernichtet er sich selbst.
Laut Joseph Stiglitz, Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaft, hat sich die hoch gelobte, deregulierte globale Wirtschaft- und Finanzordnung als ein von innen heraus verfaultes "Schrottsystem" erwiesen, das dringend der Reform bedarf. Hegel kann als ein vorgängiger Kritiker des Marktfundamentalismus gelten, politisch als Neoliberalismus bezeichnet. Erforderlich ist eine neue Konzeption für eine sowohl ökologisch als auch sozial nachhaltige und gerechte Gesellschaft und einer entsprechenden Weltordnung. Hegel ist als Begründer einer solchen anderen Version einer modernen Gesellschaft, in deren Zentrum Bildung und Gerechtigkeit stehen, hoch aktuell.

F&L: Die Trennung von Staat und Gesellschaft – heute für uns selbstverständlich. Inwieweit trägt sie Hegels Unterschrift?

Klaus Vieweg: Hegel entwirft Grundbausteine für eine Gesellschafts- und Staatstheorie der Moderne, für eine Theorie der Gerechtigkeit. Mit der epochemachenden Unterscheidung von bürgerlicher Gesellschaft und Staat – deren Urheber Hegel klar ist – revolutioniert er das philosophische Denken des Gesellschaftlichen und Politischen und wird zu einem der Gründerväter der Soziologie. Er konzipiert die erste und bis heute tiefgründigste philosophische Theorie eines sozialen Staates, die neben der innovativen philosophischen Logik wohl sein bedeutendster Beitrag zum Denken in der modernen Zeit ist. Die besondere Kraft dieser Philosophie des freien Handelns liegt in ihrer logischen Fundierung.

"Es ist unmöglich, den Geist, den eigentlichen Lebensnerv der Moderne zu erfassen – ohne Hegel." Alexander Jung, Hegel-Hörer in Berlin

F&L: In Ihrem Buch erklären Sie auch, inwiefern ein die Philosophiegeschichte prägender Doppelsatz von Hegel so häufig missverstandenen wurde: "Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig."

Klaus Vieweg: Hegel hatte unmissverständlich erklärt, dass in seiner Terminologie "wirklich" nicht das gerade Bestehende, Gegebene ist, sondern wirklich nur das ist, was vernünftig gestaltet, vernünftig eingerichtet ist. Sein scharfsinniger Schüler Heinrich Heine verlangte in diesem Sinne, das Bestehende vernünftig und somit wirklich zu machen, das heißt, zu verändern. Obwohl Hegel die Ideologen der Restauration des Feudalen wie von Haller und Savigny direkt und scharf attackierte, wurde Hegel wegen dieses Satzes völlig zu Unrecht als preußischer Staatsphilosoph und Apologet der Restauration diffamiert. Friedrich Nietzsche bezeichnete dies treffend als die "unintelligente Wut" auf Hegel, die noch heute von Kleingeistern gepflegt wird.

F&L: Sie kennzeichnen Hegels Denken als die höchste Form der innersten Tiefe. Wenn man nach Hegel mit dem Philosophieren beginnen wolle, müsse man sich entschließen, "frei denken zu wollen". Welche Bedeutung kann Hegel heute für das Selbstverständnis der Wissenschaften haben?

Klaus Vieweg: Eine Grundbedingung für Philosophie liegt im freien Denken, im Anti-Dogmatismus – darin liegt für Hegel ein Leitgedanke für Wissenschaft überhaupt. Unvoreingenommen, ohne starr gewordene Vorurteile muss verfahren werden, ohne leere Versicherungen – die Philosophie ist kein 'Versicherungsunternehmen', sondern strenge Wissenschaft.

Hegels Philosophie ist "das reichste, listenreichste, gewaltigste philosophische Kunstwerk, das je erbaut wurde". Golo Mann

F&L: Welche neuralgischen Punkte in der Entwicklung unserer Universitätslandschaft hat schon Hegel berührt und benannt?

Klaus Vieweg: Der Schweizer Ignaz Troxler, einer der ersten Studierenden bei Hegel, schrieb mit Begeisterung über das Jenaische Universitätsleben um 1800: Im Grunde gab es "nur eine Fakultät, deren gemeinsame Basis Philosophie" war – wie sich die Zeiten doch geändert haben. Oft herrscht jetzt ein unsäglicher platter Empirismus. Beispielsweise geht es keineswegs mehr um einen philosophisch fundierten Begriff von Bildung, sondern das Zauberwort lautet 'empirische Bildungsforschung', meist ein begriffsloses Jagen und Sammeln. Aber auch heute gibt es ohne Philosophie keine zureichende Begründung von Zentralbegriffen der einzelnen Wissenschaften, etwa wenn von "Person", "Leben" oder "Staat" gehandelt wird oder von den logischen Grundbegriffen Einzelheit, Besonderheit und Allgemeinheit.

F&L: Sie beschreiben die Begeisterung Hegels für eine bestimmte Art des (wissenschaftlichen) Denkens: das Skeptische beziehungsweise das Oszillieren. Welche Bedeutung kann ein solches Denken für Wissenschaft heute haben? Wie passt das zum heutigen Wissenschaftsverständnis?

Klaus Vieweg: Skepsis bedeutet im Altgriechischen ursprünglich Spähen und Suchen, ohne Voreingenommenheit. Hier muss auf Hegels Gebrauch des Wortes "Zweifel" hingewiesen werden. Ein Prüfen erfordert die Annahme der Möglichkeit von mindestens einem zweiten Fall, es ist zwei-fällig, im Zwei-fel. Das Prüfen im Sinne dieses Zweifels muss durchgängig vorgenommen werden. Sonst erwächst die Gefahr des Verbleibens im dogmatischen Für-Wahr-Halten. Erforderlich ist bedachtsames Überprüfen, bevor etwas als Wissen anerkannt wird, statt der heutigen Jagd nach 'steilen' Thesen, die schneller als Sternschnuppen verglühen, ähnlich den kurzlebigen philosophischen Modeströmungen.

Buchcover Hegel-Biografie
Klaus Vieweg: Hegel. Der Philosoph der Freiheit.

F&L: Hegel hat sich in Nürnberg als Rektor des ersten humanistischen Gymnasiums dafür eingesetzt, alte und starre Bildungsformen aufzubrechen. Was ist davon geblieben?

Klaus Vieweg: Leider sind nicht viele Prinzipien des humanistischen Gymnasiums geblieben – etwa sind Philosophie und die alten Sprachen keine Fundamentalfächer mehr. Statt allseitiger Bildung liegt oft der Schwerpunkt in der Vorbereitung auf das Arbeitsleben. Für Hegel war das Gymnasium ein wichtiger Ort, um freies Denken zu üben. Johann Georg August Wirth, Hegels Schüler im Gymnasium und später Abgeordneter im ersten deutschen Parlament 1848, schrieb das wohl höchstmögliche Lob auf seinen Lehrer: Hegel habe den 'unsterblichen Funken der Freiheit in ihm entzündet'.