Illustration: Eine Frau steht vor einem riesigen erleuchteten Schlüsselloch.
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Wissenschaftliche Erkenntnisse
Warum Menschen Argumenten nicht mehr vertrauen

Eine Vielzahl an Menschen entzieht sich wissenschaftlichen Erkenntnissen. Wird der Wahrheitsbegriff ausgehöhlt?

Von Volker Ladenthin 15.02.2022

"Vor allem Gesundheit", wünscht man sich zu allen Geburtstagen. Menschen vertrauen der Technik, wenn sie ins Flugzeug steigen oder mit 130 km/h und mehr über die Autobahnen brausen. Wir ernähren uns vegan, laktosefrei, ausgewogen, vollwertig, kurz: wissenschaftlich kontrolliert. Gleichwohl gibt es eine Vielzahl von Menschen, die sich wissenschaftlichen Erkenntnissen entziehen.

Wenn man den Menschen keine bösen Absichten unterstellt, was man nie machen sollte, da man selbst ein Mensch ist, gilt es, nach Gründen zu suchen. Auch nach solchen, über die die Menschen, die es betrifft, keine Auskunft geben können – weil sie ihr eigenes Denken nicht verorten können. Sie benutzen Denkmuster, deren Implikationen nicht aktualisiert werden – daher kann man diese Menschen auch nicht über ihre Motive befragen. Sie können sich über ihre eigenen Deutungsmuster nicht verständigen – weil sie genau dies nicht gelernt haben. Ich möchte einige populäre Narrative vorstellen.

Akzeptanz statt Wahrheit

Besonders in den Geistes- und Sozialwissenschaften kann man eine Suspendierung des Wahrheitsbegriffs beobachten: Wissen sei sozial bedingt, sei abhängig von Herkunft, Ethnie, Geschlecht, Alter – sei gar Herrschaft. Mit dem Verzicht auf den Wahrheitsbegriff bleibt dann als einzige regulative Idee ein Begriff aus der Psychologie, nämlich der der Akzeptanz: "Akzeptanz bedeutet, dass wir eine Person, ein Problem oder eine Situation so annehmen, wie sie ist, obwohl sie nicht unseren Wünschen und Erwartungen entspricht." Die Dinge so nehmen, wie sie sind. Diese Position wird auf die Politik übertragen: "Gemeinsam mit den Handlungsmaximen Akzeptanz, Respekt und Toleranz gilt Anerkennung als zentrale Grundlage eines friedlichen und erfolgreichen Zusammenlebens in modernen, offenen Demokratien." Es gelte, was akzeptiert werde. Erkenntnistheoretisch gewendet: Wahr ist, was akzeptiert wird.

Einerseits ist damit angesprochen, dass die gesamten Voraussetzungen der Diskurse nicht jedes Mal thematisiert werden müssen, weil andernfalls Handlungsunfähigkeit entstünde. Jeder Streit setzt Unstrittiges voraus.

"Wissenschaftsskeptiker ziehen sich auf ihre 'empirische' Nichtzustimmung zurück und halten damit die Behauptungen der anderen Seite für widerlegt."

Sobald sich aber Dissonanzen zeigen, können diese wissenschaftlich nicht mit dem Regulativ der Akzeptanz harmonisiert werden. Viele Menschen aber schließen aus ihrer persönlichen Nichtakzeptanz, dass diese zugleich die Argumente der Gegenseite vom Geltungsanspruch befreie. Sie setzen voraus, dass Nichtakzeptanz den Wahrheitsanspruch anderer Sätze in Frage stelle, ja sogar suspendiere.

Solange man theoretisch vertritt, dass empirische Zustimmung oder Akzeptanz etwas über den Wahrheitsgehalt aussagen oder sogar den Wahrheitsbegriff ersetzen, gibt es keine Möglichkeit, Wissenschaftsskeptiker mit Argumenten zu eigenen Einsichten zu bewegen. Sie ziehen sich auf ihre empirische Nichtzustimmung zurück und halten damit die Behauptungen der anderen Seite für widerlegt.

Wissen ist relativ

Seit der von Kant beschriebenen Kopernikanischen Wende, nach der der Verstand nur beachte, wonach er frage, hat sich das Missverständnis verbreitet, Wissen sei relativ. Es gelte nur auf Grund beliebig zu bestimmender Voraussetzungen. Wissenschaft produziere daher keine wahrheitsrelevanten Aussagen, sondern beliebige Sätze. Auf Grund von kontingenten Verabredungen, wie Sätze zu formulieren seien. Wissen wird zur Konvention.

Hier werden Erkenntnistheorie und Wissenschaftstheorie verwechselt: Beschreibt die erste, warum Erkenntnis möglich ist, reflektiert die zweite, mit welchen Verfahren dieser Anspruch im Hinblick auf eine einzelne Wissenschaft eingelöst werden kann. Der Methodendiskurs ist auf Wahrheitsfindung bezogen – was auch für ihn selbst gilt. Aus der Vielfalt von Methoden kann also nicht auf die Vielfalt von Wahrheiten zurückgeschlossen werden. Es ist umgekehrt: Die Einheit der Welt ist Voraussetzung für die Ausdifferenzierung in Methoden, die auf unterschiedliche Weise jenes vorausgesetzte Ganze erforschen. Das wissenschaftliche Wissen ist daher nicht relativ, sondern Stückwerk. Es kann ergänzt werden. Es kann sich verbessern. Wissenschaft ist Erkenntnisfortschritt.

Die Modelle sich einander ablösender Episteme, die jedes für sich eine hermetische Erklärungspotenzialität hätten, führt zu genau jenem Relativismus, nach dem die empirischen Befunde der Forschung genauso gültig sind wie die allgemeine Skepsis gegenüber jedem Eingriff in die als gut vorausgesetzte Natur. Das aber stimmt nicht. Man kann nicht allen Ernstes behaupten, dass die Aussagen über den Menschen, die der antike Arzt Galenus anhand der Sektion von Schweinen gewonnen hat, denjenigen moderner Forschungen am Menschen gleichwertig seien. Das medizinische Wissen von Galenus unterscheidet sich nicht nur dadurch von den Forschungen Alexander Flemings, dass es andere Referenzrahmen hat, sondern vor allem dadurch, dass das eine Ergebnis methodisch angemessen erforscht wurde, das andere nicht: Überlieferung ist kein Geltungsgrund.

Angesichts epistemskeptischer Annahmen aber hätte ein Wissenschaftler genauso recht wie ein Wissenschaftsgegner. Aber erst dann, wenn man Wahrheit und die Geltung von Methoden voraussetzt, hätte der eine oder der andere recht.

Wissenschaft muss intolerant sein

Der Verweis auf Lessings Ring-Parabel, nach der über den wahren Gott (und damit den letzten Sinn) nicht zu entscheiden sei, führt zum Begriff der Toleranz, also der Auffassung, andere als die eigenen Ansichten zu dulden. Nun setzt aber bereits Lessings Parabel voraus, dass es einen authentischen Ring, also die Wahrheit gäbe. Die offensichtliche Fehlinterpretation, nach der der Wahrheitsbegriff nicht möglich sei, weil die Grunderzählung verloren ging, kann sich zumindest nicht auf Lessing beziehen. Der, der den Ring der letzten Wahrheit besitzt, mag unbekannt sein, aber er ist nicht verschwunden – so lautet Lessings Narrativ.

Toleranz kann sich zudem nur auf die andere Person, nicht aber auf ihre Auffassungen und Theorien beziehen: Alle Ring-Besitzer leben unter dem Anspruch der Wahrheit, in dem Wissen, dass sie sie nie besitzen, zugleich aber suchen müssen.

Welche Aussagen können Toleranz einfordern? Viele, nur nicht jene der Wissenschaft. Wissenschaft ist zwar frei, steht aber gerade deshalb unter Geltungsanspruch: Ihre regulative Idee ist die Wahrheit, nicht die Beliebigkeit. Wissenschaft muss sogar intolerant sein: Sie darf nur zulassen, was begründet ist. Sie richtet sich daher auch nur auf begründbare Aussagen; Aussagen, die nicht begründet sind, gehören nicht in die Wissenschaft. Also braucht es auch keine Toleranz in der Wissenschaft zu geben.

Toleranz bezieht sich außerdem nicht auf die Ergebnisse von Untersuchungen, auch nicht auf die Bestimmung des Epistems, mit dem die Suche nach Wahrheit stattfindet (beispielsweise ist bei Lessing Gewalt als Mittel der Wahrheitsfindung ausgeschlossen – sehr intolerant!), sondern darauf, in der Vielfalt von Lösungswegen an der einen Aufgabe der Wahrheitsfindung mitzuwirken. Vorausgesetzt ist die Wahrheit: Ohne Wahrheitsanspruch brauchen wir keine kostspielige Wissenschaft, denn Meinungen hat jeder von frühester Jugend an. Die bekommt man zudem kostenfrei am Kiosk.

Wenn Toleranz zur regulativen Idee von Wissenschaft wird, dann steht die Lüge gleichberechtigt neben der Wahrheit. Das hat erhebliche soziale Folgen, wenn man fragt, wie man denn nun handlungsrelevante Streitigkeiten schlichtet. Da Argumente genuin intolerant sind und auf Ausschluss des Falschen zielen, wären bei Streitigkeiten alle Formen der Auseinandersetzung zu erlauben, nur nicht das Argument. Ohne Wahrheitsanspruch werden aus Argumenten Meinungen, für deren Beurteilung es dann kein Kriterium mehr gibt. Verzichtet man darauf, das Argument unter Wahrheitsanspruch zu stellen und falsche Argumente nicht zu tolerieren, bleiben im sozialen Bereich nur Machtinstrumentarien als Formen der Durchsetzung möglich – administrativ oder physisch.

Meinen zwischen Wissen und Glauben

Schon die Antike unterschied das Wissen (objektives Fürwahrhalten) vom Glauben (subjektives Fürwahrhalten) – und siedelte das Meinen als Fehlform zwischen beiden legitimen Formen an. Meinen gibt etwas Subjektives als objektiv aus. In der Wissenschaft gibt es daher keine Meinungen, da ihre Gültigkeit intersubjektiv nicht nachprüfbar ist. Wenn man sich, wie der Volksmund sagt, von einem zweiten Arzt eine "Zweite Meinung" einholt, dann versteht man darunter eine zweite Expertise unter Zuhilfenahme anderer Informationen und ihrer Gewichtung bei gleichen epistemischen Voraussetzungen. Aber dies ist keine Meinung. Niemand operiert auf Grund von Meinungen am offenen Herzen.

"Die regellose Konfrontation von Meinungen beliebiger Personen (Wissenschaftler gegen Politiker, Physikerin gegen Blogger) zerstört das Vertrauen in die Wissenschaft"

Die Unterschiede von theoretischen Zugängen lassen sich nicht als Meinungen domestizieren und verharmlosen. Vielmehr sind es intersubjektiv gültige Schlüsse auf Grund von veränderten, aber begründeten Voraussetzungen. Jede wissenschaftliche Position beansprucht Geltung; versteht sie sich selbst lediglich als Meinung, hat sie den Bereich von Wissenschaft verlassen und bewegt sich im (schlechten) Journalismus oder Feuilleton. Wie die Wurzel aus 5329 lautet, lässt sich nicht durch Meinungsaustausch klären, sondern durch Berechnungen, deren methodische Grundlagen für alle Diskursteilnehmer gleich sind.

Die Öffentlichkeit inszeniert Wissenschaft heute oft als etwas, was der Wissenschaft grundlegend widerspricht: Plurale Meinung neben anderen Meinungen zu sein. Tatsächlich zerstört die regellose Konfrontation von Meinungen beliebiger Personen (Wissenschaftler gegen Politiker, Physikerin gegen Blogger) das Vertrauen in die Wissenschaft. Wissenschaft scheint Ansichtssache zu sein.

Kommunikation ist nicht gleichberechtigt

Wissenschaftsskeptiker machen schließlich ernst mit der beliebten Hypothese der Kommunikationstheorie, dass "alles" Kommunikation und daher berechtigt sei. Wenn man nicht Nicht-Kommunizieren kann, dann gibt es keine Regeln mehr für Kommunikation. Wenn es keine Regeln für das Ausschließen von falschen Diskursen gibt, dann entscheidet die Faktizität über die Geltung. Das Beschimpfen und Bespucken von Polizisten auf Demonstrationen wird dem elaborierten Argument gleichgestellt: "Enger mit einer Politik der Intensitäten verbunden: eine ungeheure unterirdische Bewegung, noch zögernd, eher noch in Unruhe. Sie entzieht dem Wertgesetz die Affekte. Bremsen der Produktion, Konsumverweigerung, Arbeitsverweigerungen, (...) Kommunen, Happenings, Bewegungen zur sexuellen Befreiung, Fabrik- und Hausbesetzungen, Entführungen, Produktion von Tönen, Worten, Farben ohne 'Werkintentionen'. Das sind die 'Menschen der Steigerung', die 'Herren' von heute: Außenseiter, […] Parasiten, Verrückte, Eingesperrte. Eine Stunde ihres Lebens enthält mehr an Intensität (und weniger an Intention) als tausend Worte eines Berufsphilosophen", schrieb Jean-François Lyotard zur Kritik vernünftiger Diskursregeln.

Der zweite Irrtum besteht in der Hypothese der Gleichwertigkeit von Kommunikationspartnern: In einer Kommunikation gelten alle Argumente gleich. Nur sind Diskurspartner faktisch selten gleich qualifiziert. Der Einwand eines Kindes, die Spritze tue aber weh, hat andere Implikationen als die Behauptung des behandelnden Arztes, sie sei dennoch notwendig. Hier gibt es keine kommunikative Äquivalenz. Es gibt keine herrschaftsfreie Kommunikation, weil es keine Kommunikation zwischen Menschen gibt, die sich völlig gleichen.

Wissenschaft zwingt nicht, sie überzeugt

Es ergeben sich allerdings überraschende Konsequenzen aus diesen Überlegungen: Wissenschaft verträgt sich nicht mit Zwang. Sie setzt auf Überzeugung.

Gesteht nicht die Forderung nach einer rechtlichen Durchsetzung wissenschaftlicher Einsichten die Ohnmacht der wissenschaftlichen Überzeugungskraft ein? Statt Argumentation erfolgt nun erst Moralisation und dann der Zwang durch das positive Recht.

Die Folge ist, dass hierdurch eingestanden wird, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht mehr selbst überzeugend sind, sondern dem, der sie nicht überzeugend findet, überzeugend gemacht werden müssen, und zwar durch Zwang. Ein drastisches Beispiel: Es gibt kein Gesetz, das die Bürger zu akzeptieren nötigt, dass 2 + 2 = 4 sei. In dem Moment aber, in dem man einen Rechnungszwang beschließen würde, würde man die mathematische Regel diskreditieren und der Rechtsprechung überantworten. Und dies in einer Gesellschaft, die auf nichts anderem als der Wissenschaft basiert. Angesichts der Wissenschaftsskepsis in großen Teilen der Gesellschaft könnte man fragen, ob Schulen gar keine Wissenschaftsorientierung mehr als Ziel haben. Das wäre ein eigenes Thema.