Drei Personen besprechen sich
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Polarisierung
Was den Glauben an Verschwörungen stark macht

Verschwörungstheorien haben eine lange Geschichte. Welchen öffentlichen Einfluss sie haben, hängt auch von der Kultur eines Landes ab.

Von Michael Butter 04.08.2018

"Verschwörungstheorien." Es vergeht kaum ein Tag, ohne dass der Begriff in den Nachrichten fällt, und wer sich auf die Suche macht, findet schnell unzählige Bücher und Websites, die vermeintliche Komplotte aufdecken. Es stimmt: Verschwörungstheorien erleben eine Renaissance, was Verbreitung und Wirkung angeht.

Diese speist sich einerseits aus dem Aufkommen des Internets und andererseits aus dem Erstarken populistischer Bewegungen. Zwar sind Verschwörungstheorien in Europa und den USA noch lange nicht wieder so einflussreich, wie sie früher einmal waren, sie entfalten mittlerweile jedoch erneut eine mitunter hochproblematisch politische Wirkung.

Der Politikwissenschaftler Michael Barkun definiert drei Charakteristika für Verschwörungstheorien. Sie nehmen an, dass nichts durch Zufall geschieht, dass nichts so ist, wie es scheint, und dass alles miteinander verbunden ist. Verschwörungstheorien behaupten also, dass es eine im Geheimen operierende Gruppe gibt, die Verschwörer.

Diese verfolgen einen systematischen Plan, um die Kontrolle über eine Institution, ein Land oder gar die ganze Welt zu übernehmen, oder haben dies bereits in der Vergangenheit getan und wollen nun ihre Macht sichern und ausbauen. Verschwörungstheorien transportieren somit ein in der Gegenwart beinahe romantisch anmutendes Welt- und Menschenbild.

"Vom 18. bis weit ins 20. Jahrhundert war der Glaube an Verschwörungstheorien auch ein Eliten­phänomen." Prof. Dr. Michael Butter

Sie gehen davon aus, dass Menschen ihre Absichten in kleinen Gruppen über Jahre, Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte hinweg – man denke an Verschwörungstheorien zu den Illuminaten – in die Tat umsetzen können. Da dies den Annahmen der modernen Sozialwissenschaften widerspricht, die Chaos, Kontingenz und strukturelle Faktoren betonen, bezeichnet Barkun Verschwörungstheorien als stigmatisiertes Wissen.

Sie mögen eine beträchtliche Anhängerschaft haben, werden aber vom wissenschaftlichen Diskurs und der Allgemeinheit aufgrund ihrer falschen Grundannahmen nicht ernst genommen. Wer sie formuliert, muss damit rechnen, aus der wissenschaftlichen Gemeinschaft ausgeschlossen und eventuell sogar sozial geächtet zu werden.

Verschwörungstheorien: Von der Mitte der Gesellschaft an ihre Ränder und ins Internet

Diese Diagnose trifft jedoch nur auf die letzten Jahrzehnte und die westliche Welt zu. Denn vom 18. bis weit ins 20. Jahrhundert hinein war der Glaube an Verschwörungstheorien in Europa und Nordamerika nicht nur ein Mainstream- sondern auch ein Elitenphänomen. Die wissenschaftlichen Diskussionen der Zeit machten dies unausweichlich, wie eine Reihe von Studien gezeigt hat.

So förderte das mechanistische Weltbild des 18. Jahrhunderts den Verschwörungsglauben ebenso wie die Überzeugung, dass die moralische Qualität einer Handlung immer derjenigen Intention entspreche, die diese Handlung motiviert habe. Entsprechend glaubten Intellektuelle und Politiker, dass großangelegte Komplotte den Lauf der Geschichte bestimmten.

Erst in den späten 1950er Jahren verloren Verschwörungstheorien diesen Status. Verschwörungstheorien wurden zunehmend stigmatisiert und wanderten aus der Mitte der Gesellschaft an die Ränder. In der Begrifflichkeit der Wissenssoziologie wurden sie von orthodoxem zu heterodoxem Wissen und der Begriff "Verschwörungstheoretiker" wurde zu einem Schimpfwort.

Allerdings beschränkte sich diese Delegitimierung auf die USA und Teile Europas. In der arabischen Welt, aber auch in Osteuropa, gehören konspirationistische Ideen weiterhin zum Alltagsdiskurs. An jedem größeren arabischen Flughafen findet man in der Buchhandlung eine aktuelle Ausgabe der Protokolle der Weisen von Zion, des berüchtigtsten verschwörungstheoretischen Texts aller Zeiten, und in Russland hat Wladimir Putins Chefideologe Alexander Dugin die "Konspirologie" gar zur wissenschaftlichen Disziplin erhoben. Politiker in diesen Ländern bedienen sich daher solcher Denkmuster ebenso unkritisch und selbstverständlich wie die Medien, die über sie berichten.

Betont werden muss allerdings, dass Verschwörungstheorien auch im Westen einigermaßen populär blieben. Sie verschwanden nur aus der Öffentlichkeit, wo sie nicht mehr akzeptiert wurden, und wanderten in Subkulturen ab. Verschwörungstheoretiker hatten es entsprechend schwer, ein breiteres Publikum zu erreichen.

Oft mussten sie ihre Bücher im Selbstverlag herausbringen oder gar Matrizen abziehen und verschicken. Ihre alternativen Erklärungen entfalteten daher keine große Wirkung. Und wer daran zweifelte, dass John F. Kennedy wirklich von einem Einzeltäter ermordet worden war oder die Amerikaner tatsächlich auf dem Mond gelandet waren, musste viel Zeit und Mühe investieren, um alternative Erklärungen für diese Ereignisse zu finden. Oft blieb es deshalb bei Zweifeln, die sich nicht zu Verschwörungstheorien verfestigten.

Mit dem Internet hat sich all dies grundlegend geändert. Für Verschwörungstheoretiker ist es nun sehr leicht, ihre Ideen an den Mann (und seltener auch an die Frau) zu bringen. Und wer einmal googelt: "Was passiert in der Ukraine?" oder "Wer ist für die Flüchtlingskrise verantwortlich?" findet je nach individuellem Suchalgorithmus spätestens auf der zweiten Seite der Ergebnisliste Links zu konspirationistischen Seiten.

Das Internet erhöht somit zunächst einmal die Sichtbarkeit und Verfügbarkeit von Verschwörungstheorien. Hinzu kommt, dass Verschwörungstheoretiker über das Internet viel besser vernetzt sind als früher und sich so leichter in ihren Überzeugungen bestärken können. Das hat zur Folge, dass wieder mehr Menschen an Verschwörungstheorien glauben.

Wenn Studien zu dem Ergebnis gelangen, dass mehr als die Hälfte der Amerikaner an mindestens eine Verschwörungstheorie glaubt oder dass gängige Theorien in Deutschland bei einem Viertel bis zu einem Drittel der Bevölkerung auf Resonanz stoßen, dann sind das bestimmt mehr Menschen als vor dreißig Jahren. Es sind aber sicherlich deutlich weniger als vor hundert oder zweihundert Jahren. Insofern erleben wir tatsächlich eine Renaissance des Konspirationismus, wir leben aber (noch) nicht wieder in einem Zeitalter der Verschwörungstheorien.

Dass die Situation dennoch eine grundlegend andere ist als noch vor zwei Jahrzehnten, liegt zum einen daran, dass das Internet die Fragmentierung der westlichen Gesellschaften signifikant beschleunigt und verstärkt hat. Aus einstigen Subkulturen am Rande der Gesellschaft sind virtuelle und reale Teil- und Gegenöffentlichkeiten geworden, die über eigene Mediensysteme verfügen und die ihre eigenen Wahrheiten generieren.

Wer all seine Informationen von Russia Today, KenFm und aus dem Compact-Magazin bezieht, lebt in einer völlig anderen Welt als jemand, der die FAZ liest und ARD schaut. In manchen dieser so entstandenen Echokammern und Filterblasen sind Verschwörungstheorien wieder orthodoxes Wissen; in anderen Teilen der Öffentlichkeit sind sie noch immer stigmatisiert. Pointiert gesagt fürchten sich also momentan die einen vor Verschwörungen und die anderen vor Verschwörungstheorien.

Populismus und Verschwörungstheorien

Zum anderen erfüllt die Präsenz von Verschwörungstheorien in den (rechts)­populistischen Bewegungen, die seit einigen Jahren in den USA und Europa enormen Zulauf erhalten, viele Beobachter mit Sorge. Diese erklärt sich aus einer Reihe von Parallelen zwischen Populismus und Verschwörungstheorie:

  • Beide sind konservativ in dem Sinne, dass es ihnen darum geht, eine bedrohte Ordnung zu bewahren oder eine verlorene Ordnung wiederherzustellen. Beide werden zumeist von Nostalgie getragen für eine Vergangenheit, die es so nie gegeben hat.
  • Beide reduzieren die komplexe politische Arena, in der eine Vielzahl von Akteuren teils identische, teils divergente Ziele verfolgt, auf eine binäre Opposition: das Volk gegen die Eliten im Populismus und die Opfer der Verschwörung und die Verschwörer im Konspirationismus. Da Verschwörungstheorien seit ihrer Stigmatisierung vor allem Eliten des Komplotts bezichtigen, nehmen beide gemeinhin dieselbe Gruppe ins Visier.
  • Letztendlich liefern Verschwörungstheorien daher eine spezifische Erklärung dafür, warum die Elite angeblich gegen die Interessen des Volkes handelt. Die Elite ist nicht einfach abgehoben (Stichwort: Jens Spahns Äußerungen zu Hartz IV), ihre Mitglieder sind auch nicht einfach korrupt und wollen sich nur bereichern, wie nicht-konspirationistische populistische Erklärungen lauten würden. Vielmehr ist die Elite Teil eines Komplotts, dessen Interessen denjenigen des Volks diametral entgegenlaufen. Für die Praxis des gemeinsamen Protests macht es aber in der Regel keinen Unterschied, ob man der Elite eine Verschwörung unterstellt oder nicht. Man kann gemeinsam "Merkel muss weg" skandieren, egal, ob man die Kanzlerin einfach für unfähig hält oder als Teil der Weltverschwörung sieht.
  • Schließlich sind Populismus und Verschwörungstheorie gleichermaßen stigmatisiert. Beide werden im alltäglichen Diskurs meist abwertend und oft sogar als explizite Beleidigung gebraucht. Es steht daher zu vermuten, dass Mitglieder populistischer Bewegungen, die Verschwörungstheorien ablehnen, deren Anhängern mitunter dennoch Sympathie entgegenbringen, weil die Eliten auf diese genauso herabschauen wie auf sie selbst.

Es liegen zwar noch wenig belastbare Daten dazu vor, wie viele Anhänger von populistischen Bewegungen auch an eine Verschwörung der Eliten glauben, aber erste Umfragen und Studien deuten darauf hin, dass es sich in der Regel zwar nicht um die Mehrheit, aber um einen signifikanten Anteil handelt.

Es überrascht daher nicht, dass populistische Führerfiguren solche Verschwörungsvorstellungen immer wieder gezielt bedienen. Hier werden Verschwörungstheorien mitunter zu Fake News. Denn während sie in der Regel von Menschen verbreitet werden, die genuin überzeugt sind, einer verborgenen Wahrheit auf die Spur gekommen zu sein, kann man davon ausgehen, dass nicht alle populistischen Führerfiguren wirklich an ihre Anschuldigungen glauben.

Nationaler Kontext entscheidend

Es hängt allerdings von den Spezifika des nationalen Kontexts ab, insbesondere davon, ob Verschwörungstheorien als orthodoxes oder heterodoxes Wissen gelten, wie explizit populistische Führerfiguren solche Behauptungen artikulieren können. In Ungarn, wo Verschwörungstheorien nie in demjenigen Maße delegitimiert wurden wie im Westen, kann Ministerpräsident Orbán den amerikanischen Philanthropen George Soros offen bezichtigen, einen Geheimplan zur Islamisierung Europas, den sogenannten "Großen Austausch", zu orchestrieren.

In den USA hat Donald Trump im Wahlkampf Verschwörungstheorien ebenfalls strategisch eingesetzt. Diese Strategie ging aus zwei Gründen auf. Zum einen sind Verschwörungstheorien in den USA noch verbreiteter als in Europa, weshalb Trump mit ihnen insbesondere bei früheren Nichtwählern punkten konnte. Zum anderen haben im extrem polarisierten politischen Klima der USA viele Wähler nicht wegen, sondern trotz seiner Verschwörungstheorien für ihn gestimmt, da er eben der Kandidat der Republikaner war.

In Deutschland wäre solch ein offener Konspirationismus derzeit noch kontraproduktiv. Verschwörungstheorien wie der "Große Austausch" sind bei Pegida und an der Basis der AfD sehr populär, und Versatzstücke dieser Theorien haben Eingang in das Grundsatzprogramm der Partei gefunden. Die Spitzenpolitiker der AfD aber scheuen sich noch, konspirationistische Gedanken in der Öffentlichkeit explizit zu formulieren, da sie wissen, dass Verschwörungstheorien in Deutschland noch immer stark stigmatisiert sind und sie daher Wähler abschrecken würden.

Sie belassen es daher (noch) bei Andeutungen, die von Eingeweihten verstanden werden, von der breiten Bevölkerung aber nicht. Allerdings hat die AfD den gesamtgesellschaftlichen Diskurs nicht nur, aber vor allem zum Thema Migration und Flucht nachhaltig beeinflusst. Insbesondere die CSU ist hier mittlerweile voll auf AfD-Linie umgeschwenkt. Führt man sich vor Augen, dass sich die Positionen der AfD hier wesentlich aus Verschwörungstheorien speisen, wird deutlich, dass solche Theorien auch in Deutschland politische Wirkung entfalten, wenn auch (noch) nicht wieder so direkt wie in anderen Ländern.