Hilfskräfte des Roten Kreuz und von Ärzte ohne Grenzen versorgen Menschen nach einer Such- und Rettungsmission im Mittelmeer.
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Tag der humanitären Hilfe
Was können humanitäre Organisationen bewirken?

Den 19. August widmen die Vereinten Nationen der "humanitären Hilfe". Was ist das und wie mächtig sind Hilfsorganisationen? Fragen an Joël Glasman.

Von Friederike Invernizzi 19.08.2021

Forschung & Lehre: Unter den Begriff "humanitäre Hilfe" fasst man gemeinhin wohltätiges beziehungsweise selbstloses Verhalten gegenüber Armen, Schutzlosen und anderen Hilfsbedürftigen. Was bedeutet humanitäre Hilfe leisten im heutigen Verständnis?

Joël Glasman: Der Begriff der humanitären Hilfe wird heute von sehr verschiedenen Akteuren verwendet – Angelina Jolie, der FC Bayern oder selbst Wladimir Putin haben diesen Begriff für sich beansprucht. Internationale Organisationen und Nichtregierungsorganisationen haben sich deswegen klare Richtlinien gegeben, um humanitäre Hilfe zu definieren. Der "Verhaltenskodex des Roten Kreuzes und der Nichtregierungsorganisationen" zum Beispiel listet eine Reihe von Grundsätzen auf, deren Einhaltung als Bedingung für gute humanitäre Hilfe gelten. Dieses Dokument wurde von mehr als 600 Organisationen unterschrieben, einige Grundsätze wurden sogar von Staaten übernommen, wie zum Beispiel der Grundsatz der Unparteilichkeit, der besagt, dass Hilfe nur nach dem Maß der Not geleistet werde soll, also ohne Ansehen von ethnischer, religiöser, oder politischer Zugehörigkeit. Trotz dieser Richtlinien sind die Unterschiede zwischen den Akteuren nicht zu übersehen. Die Europäische Union, die USA und die Golfstaaten gehören zu den größten Geldgebern von humanitärer Hilfe. Es liegt jedoch auf der Hand, dass diese Länder aus sehr unterschiedlichen Interessen heraus agieren.

F&L: Welche Gesinnung und welche grundlegende Auffassung von Humanität liegen dem zugrunde?

Joël Glasman: Der Grundsatz der Menschlichkeit spielt in den Richtlinien von humanitären Organisationen eine zentrale Rolle. Er besagt, dass man bei allen Bemühungen, Menschen zu helfen, die Würde dieser Menschen nicht außer Acht lassen soll. Hilfe sollte darauf achten, niemanden zu entmündigen oder zu entmachten. Die Wurzeln dieses Prinzips liegen in den Menschenrechten und sind bereits in der Allgemeinen Eklärung der Menschenrechte von 1948 verankert. 

Portraitfoto von Prof. Dr. Joël Glasman
Joël Glasman ist Historiker und Professor an der Universität Bayreuth. Er forscht zur Globalgeschichte, Geschichte des Staates in Afrika und zur Geschichte und Soziologie der humanitären Hilfe. Von ihm erschien 2020 bei Routledge (London) "Minimal Humanity. Humanitarianism and the Quantification of Human Needs". Emma Vila I López de Recalde/ Joël Glasman

F&L: Wie kritisch ist die humanitäre Hilfe als Perpetuierung bestehender Systeme zu sehen?

Joël Glasman: Die humanitäre Hilfe muss sich schon lange zwei Arten von systemtischen Kritik stellen. Eine erste Kritik zielt auf das Verhältnis zwischen Hilfe und Kapitalismus ab. Diese Kritik hat eine lange Tradition: Bereits Karl Marx denunzierte die Philanthropie als eine Strategie der Kapitalisten, um das existierende System zu wahren. Im "Manifest der Kommunistischen Partei" werden "Philantrophen, Humanitäre und Wohltätigkeitsorganisierer" als bourgeois bezeichnet, die die Arbeiterklasse vom einzigen richtigen Kampf ablenken, nämlich dem revolutionären Kampf, dem Klassenkampf. Heute werden ähnliche Vorwürfe gegen Philanthrokapitalisten à la Bill Gates oder George Soros geäußert. Stiftungen und karitative Aktivitäten sind eine beliebte Art, um Symptome zu bekämpfen, ohne die Wurzeln der Ungleichheiten anzutasten (und, en passant, um Steuerbeiträge einzusparen).

Eine zweite Reihe von Kritiken nimmt das Verhältnis zwischen Hilfe und Imperialismus in den Blick. Diese Kritik zeigt, dass sich hinter dem Deckmantel der humanitären Hilfe nicht selten realpolitische Ziele verstecken. Tatsächlich müssen Hilfsorganisation auf die Geldgeber Rücksicht nehmen. Die Geberländer versuchen natürlich, Hilfsorganisationen in ihrem Sinne zu lenken. Drei Länder – die USA, Deutschland und Großbritannien – stellen alleine fast 60 Prozent der weltweiten humanitären Ausgaben. Fast die gesamten öffentlichen Ausgaben für humanitäre Hilfe gehen auf nur 20 Staaten zurück, die meisten von ihnen im globalen Norden. Diese Länder schützen damit auch ihre eigenen Interessen.

F&L: Könnte man die praktizierte humanitäre Hilfe auch als versteckten Kolonialismus sehen?

Joël Glasman: Man sollte sich über Begriffe verständigen. Kolonialismus bezeichnet ein duales Rechtssystem, in dem eine große Mehrheit – definiert etwa durch Herkunft, Religion, Hautfarbe, Sitten, und so weiter – keine politische Rechte besitzt, während eine kleine Minderheit über fast alle politischen Rechte verfügt. Dieses duale Rechtsystem konnte nur durch eine hohe Gewaltbereitschaft durchgesezt werden, etwa das Abhacken von Kinderhänden im belgischen Kongo, das Einsperren von Tausenden von Menschen im französischen Algerien oder der Völkermord an den Herero in Deutsch-Südwest Afrika. Es wäre natürlich absurd, die Arbeit von aktuellen Hilfsorganisationen mit Kolonialismus im engeren Sinne zu verwechseln. Es ist jedoch sinnvoll, sich über die Wurzeln der europäischen humanitären Hilfe bewusst zu sein. Die rassistische Vorstellung einer europäischen Uberlegenheit und die Idee einer "Zivilisierungsmission" gehören auch zur DNA der humanitären Hilfe. Hilfsorganisationen, wie andere Organisationen auch, müssen sich ihrer Vergangenheit bewusst sein und sich darum bemühen, rassistische Denkmuster zu bekämpfen – nicht nur im Bezug auf Hilfsbedürftige, sondern auch im Bezug auf ihre eigenen Governancesstrukturen.

F&L: Welche Fehler werden nach Ihrer Beobachtung bei der humanitären Hilfe immer wieder gemacht und warum?

Joël Glasman: Bevor man Fehler von humanitären Organisationen in den Blick nimmt, muss man sich die tatsächlichen Kraftverhältnisse vergegenwärtigen. Humanitäre Organisationen haben zwar einen gewissen Einfluss, aber ihr Einfluss ist insgesamt sehr bescheiden, wenn man sie mit Unternehmen oder Staaten vergleicht. Die Gesamtausgabe aller humanitären Organisationen weltweit beträgt jedes Jahr etwa 30 Milliarden Dollar. Dagegen erwirtschaftet ein DAX-Unternehmen wie Siemens jährlich knapp 60 Milliarden Dollar Umsatz, praktisch das Doppelte. Humanitäre Organisationen sind sehr sichtbar, aber ihr tatsächliches Gewicht darf nicht überschätzt werden. Humanitäre Organisationen sollen auch nicht für die Versäumnisse von Staaten und Regierungen verantwortlich gemacht werden. Die aktuelle Krise im Mittelmeer etwa, in dem mittlerweile mehr als 20.000 Menschen ertrunken sind, ist kein Versagen der Hilfsorganisationen, sondern ein politisches Versagen. Man kann von humanitären Organisationen nicht erwarten, dass sie die Fehler von Wirtschaft und Politik wieder gut machen.

"Humanitäre Organisationen sollen nicht für die Versäumnisse von Staaten und Regierungen verantwortlich gemacht werden."

Nun stimmt es natürlich, dass humanitäre Organisationen auch eine eigene Verantwortung tragen. Hilfsorganisationen überschätzen oft ihre Chancen, Hilfsleistungen zu erbringen, ohne manipuliert zu werden. Kriege und Konflikte sind Kontexte, in denen es oft kaum möglich ist, "neutrale" und "unparteiische" Hilfe zu leisten. Nahrungslieferungen werden von Regierungen und Warlords angeeignet und an Soldaten verteilt. In solchen Fällen kann Hilfe Kriege verlängern.
 
F&L: Wie "einig" sind sich die verschiedenen Organisationen, die humanitäre Hilfe auf unterschiedlichen Gebieten leisten?

Joël Glasman: Wie vorhin erwähnt, gibt es einige Grundsätze, über die sich nahezu alle große Organisationen einig sind. Der "Verhaltenkodex" oder die sogenannten "Sphere Standards" sind Beispiele von Dokumenten, die einen möglichst breiten Konsens von humanitären Akteuren erzielen wollen. Jedoch ist die Idee einer harmonischen "humanitären Gemeinschaft" ein Mythos. Hilfsorganisationen sind vielfältig und stehen in Konkurrenz zueinander, etwa für Finanzmittel und für öffentliche Aufmerksamkeit. Man sollte es aber auch nicht anders erwarten. Krisensituationen sind komplex, so dass es normal ist, dass die Interessen und die Interpretationen auseinandergehen.   

F&L: Vor welchen Herausforderungen steht die humanitäre Hilfe angesichts der wachsenden Bedrohung durch den Klimawandel?

Joël Glasman: Die Klimaerwärmung ist ein großes Thema für humanitäre Organisationen. Sie befürchten einen Anstieg von Katastrophen wie Dürren, Fluten und Orkanen. Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen (Médecins Sans Frontières) arbeiten eng mit Klimaforschern zusammen, um die möglichen Folgen der Erderwämung auf die Gesundheit von Menschen zu untersuchen (zum Beispiel im Rahmen des "Lancet Countdown" Projekt). Jedoch sollten wir nicht aus dem Blick verlieren, dass die große Mehrheit der Hilfsbedürftigen nach wie vor Opfer unmittelbarer politischer Entscheidungen sind, und nicht vom Wetter. Etwa 80 Millionen Menschen sind heute auf der Flucht – die meisten von ihnen fliehen vor organisierten Massakern, Kriegen oder Verfolgung.

"Die Tendenz geht zu mehr Ungleichheiten, mehr Klimakrise und einer Steigerung der Anzahl von Menschen, die vor Konflikten und Verfolgung fliehen müssen."

F&L: Welche positiven Entwicklungen sehen Sie?

Joël Glasman: Die aktuellen Entwicklungen sind nicht positiv. Die Tendenz geht zu mehr Ungleichheiten, mehr Klimakrise und einer Steigerung der Anzahl von Menschen, die vor Konflikten und Verfolgung fliehen müssen. Das Positive sehe ich nicht in großen Entwicklungen, sondern in kleinen, alltäglichen Aktionen. Hier rettet eine Ärztin ein Leben, da verteilt jemand Nahrungsmittel an Flüchtlinge, dort liefert ein LKW-Fahrer den Nachschub… Es sind Tausende kleine Gesten, die tatsächlich Menschen retten und helfen. Diese alltägliche Empathie, diese Solidarität, dieses Engagement ist ein Kampf, den es sich zu führen lohnt. Die Frage ist, wie man Gesten der Solidarität politisch unterstützt, ohne dabei den Blick für den Kampf gegen Ungleichheiten zu verlieren.